Was heißt »normal« in Schwedt? Sven*, 21 Jahre alt, erinnert
sich an ein Ereignis vor ein paar Monaten: »Ein paar Glatzköpfe fuhren an mir
vorbei und grüßten mich, obwohl ich sie nicht kannte.« Sven dachte sich nichts
dabei, kaufte in einem Tabakladen Zigaretten. Als er wieder herauskam, hielt das
Auto neben ihm. »Die stiegen aus, sagten keinen Ton, hauten mir kräftig auf die
Fresse und weg waren sie.«
Sven vermutet, dass es um sein Aussehen ging: Er ist Gothic
und trägt szenetypische schwarze Klamotten. Wenig später wiederholte sich das
Ereignis. Sven wartete nachts auf den Bus nach Hause. Das gleiche Auto mit den
gleichen Insassen hielt am Straßenrand, wieder gab es Schläge. »Sechs oder
sieben Leute waren mit mir an der Haltestelle, keiner hat was gemacht«, erzählt
Sven. Er sagt das ohne Empörung. Als er bei der Polizei Anzeige stellte, ließen
die Beamten durchblicken, dass derlei Übergriffe öfter passierten.
Typische Kleinstadt
Schwedt ist eine typische brandenburgische Kleinstadt an der
polnischen Grenze: 35.000 EinwohnerInnen (vor der Wende: 50.000), über 20
Prozent Arbeitslosigkeit, immense Schulden. In den Neubaugebieten werden
Plattenbauten wegen Leerstands abgerissen. In der Innenstadt hingegen sind ganze
Straßenzüge saniert. Dort befindet sich die Kneipe »Zur Quelle« wo
deutschnationalen Parolen zu hören sind. Am Stadtrand stehen neue
Einfamilienhäuser.
PUKK-Aktivist Ivo kann Schwedts Ortsteilen leicht Kategorien
zuordnen. Im Stadtzentrum gibt es kaum etwas zu befürchten, wenn man zu den
geschätzten 200 Jugendlichen gehört, die sich »irgendwie« Subkulturen wie Punks,
Skatern, Hiphoppern, Gothics, BMXern zugehörig fühlen. Dann gibt es ein
Neubaugebiet, wo es »früher ziemlich übel war. Ist aber nicht mehr so wild.«
Dann jenes, wo es zwar Neonazis gibt, »die aber einen Heidenrespekt vor den
Rußlanddeutschen haben. Die wehren sich nämlich.« Und dann jenes, »wo man besser
abends nicht durchläuft« – hier gibt es jede Menge Neonazis. Alles in allem
»normal«. Die neonazistische Kameradschaft »Märkischer Heimatschutz« hatte im
März ungestört einen Infostand aufgebaut. Es gab vor einer Weile eine Demo der
»Interessengemeinschaft für die Wiedervereinigung Gesamtdeutschlands« mit 80
Neonazis, die ein Deutsches Reich in den Grenzen von 1937 forderten. Aber es
lässt sich immerhin leben in Schwedt.
Welcome to Terrortown
Vor zehn Jahren war das anders. Namen wie Sven Hansen, Mirko
Hannig, Stefan Wünsch sind vielen in der Stadt noch geläufig. Sie gehörten zum
Kern der rechten Szene und firmierten unter Namen wie »Nationalistische Jugend
Schwedt«, publizierten Hetzblätter wie die »Revolte«, bauten eine Ortsgruppe der
später verbotenen Neonazipartei »Nationalistische Front« auf. Von der
200-köpfigen Naziszene ging so viel Gewalt aus, dass für die wenigen Linken nur
noch die Flucht aus der Stadt blieb. »Welcome to Terrortown« grüßte treffend ein
Graffito am Ortseingang.
Der Terror von damals ist gut dokumentiert. Das Dilemma der
Nachwendezeit in der ehemaligen DDR im Umgang mit der durch den
Vereinigungsrausch katalysierten Nazigewalt wurde in Schwedt exemplarisch
deutlich. Einmal hatte ein ankommendes Presseteam gerade die Kameras ausgepackt,
als ein Neonazimob mit Molotow-Cocktails und Knüppeln eine kleine Gruppe von
Linken jagte. »Wenn ich Frust habe, zerschlage ich eine Tasse und die Rechten,
die gehen dann eben einen aufklatschen«, äußerte sich damals eine
Sozialarbeiterin. Ein hoher Stadtangestellter meinte, dass »man sich mit den
Rechten arrangieren kann, wenn man mit denen ein Bier trinken geht.« »So wie ihr
ausseht, braucht ihr euch nicht zu wundern«, sagte eine SPDlerin zu Antifas.
Manchmal wurde die Existenz einer rechten Szene schlicht
bestritten. Während in Schwedt den Holocaust leugnende Schriften kursierten,
behauptete die zuvor zitierte Sozialarbeiterin, dass ihr Klientel sich erst »in
der Vorstufe zur Skinheadkultur befinde«, und diese sei erst das Vorstadium zum
Rechtsextremismus. Im März 1993 wurde die »Nationalistische Jugend« von der
Stadtverwaltung zu einer Besprechung geladen und so zum Gesprächspartner
geadelt. Schwedts Offizielle fürchteten angesichts der »medialen Hetzkampagne«
in erster Linie einen Imageverlust der Stadt. Wer allerdings mit dem
Baseballschläger an die Türen der Stadt klopfte, dem wurde verständnisvoll
Einlass gewährt. Im Jugendhaus »Hit« erhielt die »Nationalistische Jugend« einen
Kellerraum. Die linksorientierten Jugendlichen wurden derweil vom noch immer
amtierenden SPD-Bürgermeister Peter Schauer wegen ihrer »verbalen Gewalt«
kritisiert. Anlässlich einer Antifademo im Juni 1993 wurde wortreich und
eindringlich vor der Gewaltbereitschaft Kreuzberger Autonomer gewarnt. Die Opfer
waren aus Sicht der Stadt die eigentlichen Täter.
Altbekanntes Reaktionsschema
Das alles ist lange her. Etliche der führenden Neonazis kamen
ins Gefängnis und der Neonazikeller im »Hit« wurde geschlossen. Allmählich
entwickelten sich die Ansätze nichtrechter Jugendkultur, die es heute in Schwedt
gibt. Trotzdem kam es immer wieder zu rechter Gewalt. Und wieder wurde nach der
bekannten Routine aus Entpolitisierumng der Taten und Sorge ums Stadtimage
reagiert.
Holger Zschoge, Lehrer in Schwedt, berichtet über eine
Podiumsdiskussion 1996: »Haben Sie Angst?«, fragte der Moderator eine
Künstlerin, die sich gegen die Rechten aussprach. Ihre Antwort »Ich lebe ja
noch« quittierten die anwesenden Neonazis im Publikum mit einem höhnischen:
»Noch!« Niemand widersprach. Ausgiebig wurde auf der gleichen Veranstaltung über
das Magazin Der Spiegel geschimpft, das mit seinen Berichten über Nazis in
Schwedt dem Ruf der Stadt schade. »Es war wie eine Volksgemeinschaft aus
PolitikerInnen, BürgerInnen und Nazis«, erinnert sich Zschoge. Dennoch: Die
heutige nichtrechte Jugend Schwedts ist fast ohne Drangsalierungen aufgewachsen.
»Es ist an vielen Schulen nicht mehr schick, rechts zu sein«, so Ivo von PUKK.
Viele Jugendklubs seien einigermaßen nazifrei.
Die Neonazis – es gibt sie reichlich im Stadtbild – sind
wenig organisiert, kein Vergleich zu den frühen Neunzigern. Das »Karthaus« etwa
wurde 1994 von Neonazis überfallen, die Nichtrechten vertrieben. Heute hat der
Jugendklub einen sauber gewischten Fußboden, frisch gestrichene Wände, hinter
der Theke räkelt sich ein Sozialarbeiter und beäugt skeptisch unbekannten
Besuch. Laut Hausordnung ist es verboten, politisches Material »egal welcher
Richtung« auszulegen. Zuwiderhandlungen können mit Hausverbot bestraft werden.
Die älteren Jungs reden über ihre Autos, ein Mädchen schwärmt von ihrem Freund –
es ist bieder, aber es gibt keine Neonazis.
Mulmiges Gefühl
Seit Ende 2002 beschleicht einen erneut ein mulmiges Gefühl
in Schwedt. Die Angst von früher ist wieder stärker zu spüren, trotz der
Beteuerungen, dass alles irgendwie »normal« sei. Zuerst sorgte nur das
umherfahrende Auto mit den prügelnden Neonazis für Aufregung, auch wenn
öffentlich nicht darüber geredet wurde.
Am Abend des 20. Juli hatte sich Jonas* mit Freunden auf
einem Spielplatz getroffen. Die verabschiedeten sich irgendwann und gingen nach
Hause. Jonas blieb noch sitzen. Als er die drei Gestalten erkannte, die sich ihm
näherten, war es zu spät. Die drei Rechten hielten ihn fest. Dreieinhalb Stunden
lang wurde Jonas gegen Gesicht und Körper getreten, sein Kopf mehrfach auf eine
Holzbank geschlagen, er wurde unter Wasser gedrückt. Als »linker Anarchokunde«
wurde Jonas beschimpft, »Du bist kein echter Deutscher.« Der Tathergang erinnert
an den brutalen Mord an Marinus Schöberl im nicht weit entfernten Dorf Potzlow.
Jonas kam glimpflich davon und erstattete trotz Morddrohungen Anzeige. Zwei der
Täter, (16 und 19 Jahre alt) sitzen derzeit in Haft.
Zahlreiche Einzelfälle
»Das ist ein trauriger Einzelfall«, sagte die Sprecherin der
Stadtverwaltung, Ute-Corina Müller, zur Presse. Von 1993 bis 1995 galt Schwedt
als rechte Hochburg, doch »inzwischen werden wir im Verfassungsschutzbericht
nicht mehr so eingestuft«.
Ein weiterer »trauriger Einzelfall« geschah im April. Der
Asylbewerber Po L. ging mit seiner Freundin in Schwedt spazieren. Dabei trafen
sie auf drei Männer in rechtem Szenelook. Die beschimpften Po L., schlugen ihn
und wollten ihren Hund auf den Flüchtling hetzen. Die Täter stehen nun vor
Gericht. Po L. wurde wenige Wochen später erneut Opfer eines rassistischen
Angriffs.
Auch im Mai gab es einen Übergriff. In einem Café an den
»Uckermärkischen Bühnen«, dem Schwedter Theater, fand ein Konzert statt, das
auch alternative Jugendliche besuchten. Gegen 23 Uhr waren die meisten
BesucherInnen auf dem Heimweg. Rund 25 Nazis tauchten auf, die Situation war
angespannt. Ein Junge, der das Café verließ, wurde von Neonazis verfolgt, durch
die Stadt gejagt und im Stadtpark verprügelt. K
Um 1993 geriet das ostbrandenburgische Schwedt als Hochburg
rechter Gewalt und Organisierung weltweit in die Schlagzeilen. Das »Time
Magazine« ging gar so weit, den Einsatz von UN-Truppen zu fordern. Schwedt zehn
Jahre später: Der Ruf hallt noch nach. Es ist zwar ruhiger geworden, doch der
»Frieden« in der Stadt steht auf wackligen Beinen.
Chronologie:
Neonazi-Gewalt Anfang der Neunziger in Schwedt – Eine lose
Aufzählung
1991
Ein Obdachloser wird von rechten Skinheads zusammengeschlagen
und zu Tode geprügelt.
1992
Ein 13-jähriger Mädchen wird von Rechten in einem Neubau
gefangengehalten, geprügelt, sexuell missbraucht. Sie stirbt an den Folgen.
1993
Bewaffnete Neonazis greifen eine Gruppe von Linken an. Sie
treten auf ein bereits bewusstloses Opfer weiter ein. Er liegt zwei Wochen im
Koma, verbringt 14 Wochen im Krankenhaus. Ein Antifa wird mit Molotowcocktails
beworfen. Eine Party in einer Privatwohnung wird von Nazis angegriffen. Der
Klubraum des Stadtjugendrings wird niedergebrannt. Ein knappes Dutzend
TeilnehmerInnen einer Antifademonstration wird in den folgenden Tagen von
Neonazis verprügelt
1994
Neonazis überfallen den Karthaus-Club.