Was die schwedische Außenministerin Anna Lindh am Morgen des
11. September 2003 tat, ist klar: Sie lag auf der Intensivstation des
Stockholmer Karolinska-Krankenhauses. Was ihr Mörder zu dieser Zeit machte, ist,
wenn die leitende Staatsanwältin Agneta Blidberg in ihrer vorläufigen
Anklageschrift Recht hat, ebenfalls klar.
Am Mittwoch vergangener Woche wurde »der 35jährige«, wie er
seither von der schwedischen Presse genannt wird, während man in Deutschland
meist von »Per Olof S.« spricht, in der Stockholmer Kneipe »East End Company«
verhaftet. Er hatte sich dort das Lokalderby Djurgården gegen Hammarby auf einem
Großbildschirm angesehen. S. ließ sich ohne Gegenwehr festnehmen.
Auch nach der Tat hat er mit Freunden Fußball im Fernsehen
geschaut. Dann fuhr er in die Stockholmer In-Bar »Windows«, wo er sich mit Wodka
betrank und später in das Szenelokal »Café Opera«. Von dort ließ er sich mit
einem Taxi zu der Wohnung eines Freundes gefahren, wo er zwei Tage lang
logierte.
Mittlerweile ist auch dieser Freund verhaftet worden. Er
hatte gegenüber der Polizei falsche Angaben über seine Aktivitäten am Nachmittag
der Tat gemacht. Zeugen wollen ihn unmittelbar zuvor in der Nähe des Kaufhauses
in Begleitung von S. gesehen haben. Die Ermittlungen konzentrieren sich
inzwischen auf die in der Nähe des Tatorts gefundene Tatwaffe. Ein Labor in
Großbritannien testet derzeit, ob sich an dem Messer DNA-Spuren finden lassen.
Dies scheint jedoch ein aufwändiges Verfahren zu sein. Die Experten gehen davon
aus, dass sie dafür noch einige Tage Zeit brauchen.
Die Ermittler müssen sich bemühen, etwas Entscheidendes zu
finden, denn derzeit ist überhaupt nicht klar, ob S. wirklich der Mörder ist.
Die Anklagevertretung plädierte lediglich auf die niedrigste mögliche
Verdachtsstufe und erwähnte dabei nicht, ob die zwischenzeitlich in Auftrag
gegebene Auswertung der DNA-Spuren wirklich auf »den 35jährigen« als Täter
deutet.
Ingemar Krusel, pensionierter Kriminalkommissar und
ehemaliger Leiter der Sonderkommission, die sich erfolglos um die Aufklärung des
Mordes an Ministerpräsident Olof Palme bemühte, hält dies für einen klugen
Schachzug. Wahrscheinlich, erklärte er der Tageszeitung Expressen, hätten die
Ermittler und die Staatsanwältin Blidberg »taktisch intelligent gespielt. Sie
haben ihren Antrag auf nur sehr wenige Beweise gestützt.« Die Ankläger haben
seiner Meinung nach so »nicht nur die Chance, jetzt eine volle Woche lang weiter
zu ermitteln. Dieses Vorgehen verschafft ihnen auch einen klaren Vorteil
gegenüber der Verteidigung, die im Unklaren über die tatsächlich vorliegenden
Beweise gelassen wurde.« Es sei durchaus üblich, während des ersten
Gerichtstermins »nicht gleich alle Karten auf einmal auf den Tisch zu legen,
technische Beweise wie eine DNA-Spur sind zu einem späteren Zeitpunkt
erfahrungsgemäß viel nützlicher.«
Sehr viel mehr bekannt wurde inzwischen allerdings über das
Leben des Verhafteten. Viele seiner Freunde und Bekannte erinnern sich derzeit
gerne an gemeinsame Erlebnisse. Dass ihre Aussagen und Erinnerungen zusammen
genommen kein stimmiges Bild des Verdächtigen ergeben, liegt wohl vor allem
daran, dass der 35jährige gleichzeitig in verschiedenen Welten lebte.
Seit seinem Debütauftritt vor Gericht 1987 verfügt er über
ein »gediegenes Strafregister«. S. spezialisierte sich auf Delikte wie
Kreditkartenbetrug – betroffen war unter anderem ein schwedischer
Weltklasse-Golfspieler – bis hin zur Körperverletzung. Seine Eltern haben
bereits vor Jahren juristisch erwirkt, dass ihr Sohn, der sie, genau wie seine
ehemalige Freundin, misshandelte, grundsätzlich einen Mindestabstand von einigen
Metern zu ihnen halten muss. Es war der Vater, der der Polizei den Tipp gab,
dass es sich bei dem gesuchten Mörder um seinen Sohn handeln könnte.
S. gilt seit längerem als ausgewiesener Nazi-Hool, der im
Umfeld des für seine rassistischen Anhänger berüchtigten Fussballvereins
Djurgården Stockholm aktiv war. Er zeigte gerne den Hitlergruß und galt als
furchtloser Schläger. Auf der anderen Seite beschreiben ihn Freunde als
charmanten, belesenen, kultivierten Mann, der zudem bisexuell gewesen sei. Auf
die Frage, warum er als ausgewiesener Rassist denn eine längere Beziehung zu
einem jungen Einwanderer unterhalten habe, habe er nonchalant geantwortet: »Nun,
wo sie schon mal hier sind, muss man halt das Beste daraus machen!« Von Freunden
ist zu erfahren, dass S. sich von der Baader-Meinhof-Gruppe fasziniert gezeigt
habe, und er sei gern in T-Shirts mit dem Aufdruck »DDR« herumgelaufen.
Einem angesehenen Comiczeichner stand S. sogar Modell für
eine in Schweden bekannte Serienfigur. Über einen seiner Lover habe er sogar
Zugang zum Freundeskreis der schwedischen Prinzessinnen gefunden, heißt es in
mehreren Aussagen.
Das entbehrt nicht einer gewissen Komik. Denn bereits kurz
nach der Veröffentlichung der Fotos aus den Überwachungskameras des Kaufhauses,
in dem die Außenministerin angegriffen wurde, hatten zahlreiche Schweden die
Sonderkommission angerufen, um ihre sachdienlichen Hinweise zu dem abgebildeten
Mann mit der Basecap loszuwerden. Die Fotos zeigten Daniel, den Verlobten der
schwedischen Kronprinzessin, erzählten sie den verdutzten Beamten, er müsse
sofort zum Verhör einberufen und nach seinem Alibi befragt werden.
Die am schwedischen Hof geltende Etikette ist im Vergleich zu
der der britischen Royals bestenfalls lax zu nennen. Aber dass König Carl-Gustav
umgehend eine Pressemitteilung herausgeben ließ, in der jegliche Verwicklung des
Millionärssohns in den Kriminalfall Lindh entschieden dementiert wurde, war
selbst für das liberale skandinavische Land eine Sensation.
Ob nun der inzwischen berühmteste 35jährige Schwede der
Mörder von Anna Lindh ist oder nicht, die Anklage wird sicher Schwierigkeiten
haben, ihm einen Vorsatz zu unterstellen. Denn die Außenministerin hatte sich am
Nachmittag des 10. September spontan zum Einkaufsbummel mit einer Freundin im
Kaufhaus NK entschlossen. Am Abend sollte sie als ausgewiesene Befürworterin der
Euro-Einführung in einer Live-Diskussionsrunde des privaten Fernsehsenders TV4
zu Gast sein, und die Verantwortlichen der Fernsehstation hatten ihr erst kurz
zuvor mitgeteilt, welche Farben besonders gut zur geplanten Dekoration passten.
Lindh hatte keine Kleidungsstücke in der gewünschten Farbe
und entschied sich daher für eine kurze Shoppingtour. Die Freundin, die sie
begleitete, wurde Zeugin der Tat. Sie wollte sich in einer vom staatlichen
Sender SVT letzten Freitag ausgestrahlten Dokumentation jedoch »aus
ermittlungstaktischen Gründen« nicht zu dem Mörder äußern.
Die Außenministerin sei vor dem Anschlag nicht unbedingt gut
gelaunt gewesen, sagte sie lediglich. »Sie war nervös und hatte buchstäblich
Angst, vor laufender Kamera kotzen zu müssen. Ich beruhigte sie damit, dass ich
sagte, dann gebe es eben nur eine kurze Debatte. Sie lachte.«
Ob wenig später ein »35jähriger« auf Anna Lindh einstach,
wird das Gericht erst an diesem Freitag entscheiden.