Nur wenige Stunden, nachdem Anna Lindh an den Folgen des
Messerattentats vom vergangenen Mittwoch verstorben war, begannen die Medien mit
Spekulationen darüber, wie sich der Mord auf das Wählerverhalten bei der
Euro-Volksabstimmung auswirken könnte.
Viele nahmen an, dass sich die meisten Bürger hinter die
politische Führung des Landes stellen und mit einem Ja zur Gemeinschaftswährung
ihre Sympathie für die beliebte Euro-Befürworterin Lindh zum Ausdruck bringen
würden. Doch damit haben sie sich geirrt, denn der Euro wird nicht kommen. Am
vergangenen Sonntag haben die Schweden gegen die Einführung der
Gemeinschaftswährung gestimmt und damit ein schon längst prognostiziertes
Wahlergebnis bestätigt.
Keine Spur mehr von dem Sympathie-Effekt, den es in der
schwedischen Geschichte schon einmal gegeben hatte. Noch zwei Jahre nach dem
Mord an Olof Palme im Februar 1986 fuhren die schwedischen Sozialdemokraten
einen Wahlerfolg ein, den sie ohne die Welle der Sympathie für den Politiker,
der Schweden geprägt hatte wie kaum ein anderer, wohl nicht gehabt hätten. Nun
ist es anders gekommen: Die Euro-Gegner haben mit 56,2 Prozent gewonnen, die
Befürworter unterlagen mit 41,8 Prozent. Anders als erwartet, hat der Tod Lindhs
keine Kehrtwende bewirkt.
Das Grundrecht auf eine Abstimmung dürfe nicht durch einen
Gewalttäter außer Kraft gesetzt werden, hatte der sozialdemokratische Parteichef
und Ministerpräsident Göran Persson seit dem Tag, an dem Anna Lindh ermordet
wurde, unermüdlich erklärt. Nun muss er eine klare Niederlage einräumen. Selbst
wenn das Referendum nur beratenden Charakter hatte, so Persson, fühle er sich an
das Ergebnis gebunden. Es sei ein harter Schlag für die politische und
wirtschaftliche Elite in Schweden, kommentiert die schwedische Tageszeitung
Dagens Nyheter. Persson hatte sich gemeinsam mit der Industrie für einen
Beitritt zur Euro-Zone stark gemacht und dabei unter anderem auf die
Exportvorteile durch geringere Wechselkursrisiken verwiesen. Nach Angaben der
schwedischen Regierung werde es jetzt bis 2010 dauern, bis ein neues Referendum
angesetzt werden kann. Bei einem Ja könnte der Euro frühestens im Jahr 2013
eingeführt werden.
Wenn auch nicht hinsichtlich des Euro, so könnte der Mord an
Anna Lindh in vielen anderen Bereichen Schweden verändern. So wird in den
nächsten Wochen das Thema »Innere Sicherheit« ins Zentrum der politischen
Debatten rücken. »So etwas darf nicht passieren«, sagt etwa Ulla Hoffman, die
Vorsitzende der Linkspartei. »Wir hätten aus dem Mord an Olof Palme lernen
müssen, aber wir waren wohl ein bisschen nachlässig.« Auch andere Politiker
sprechen von »Versäumnissen« und wollen Sicherheitsfragen jetzt ganz oben auf
die Agenda setzen. Die »offene Gesellschaft«, auf die viele Schweden so stolz
sind, verspricht damit, noch etwas weniger offen zu werden.
Die größte Sorge der Öffentlichkeit ist dieser Tage jedoch,
dass der Mord an Lindh – ähnlich wie der an Ministerpräsident Palme vor 17
Jahren – nicht aufgeklärt werden könnte. Umfragen zufolge glaubt nur jeder
Zweite, dass die Ermittlungen zu einem Erfolg führen. Mit Palme einen der
bedeutendsten Politiker der Nachkriegszeit verloren zu haben, ohne dass das
Rätsel des Mordes je gelöst werden konnte, lastet als tief sitzendes Trauma auf
der Bevölkerung.
Immer wieder ist dieser Tage daher auch von der Parallele
zwischen den beiden Mordfällen die Rede. Wie Lindh war Palme ohne Leibwächter in
der Stockholmer Innenstadt unterwegs. Er kam am Abend des 28. Februar 1986 mit
seiner Ehefrau Lisbet aus einem Kino und wurde wenige Minuten später aus
nächster Nähe erschossen.
Auch der Dilettantismus der Polizei legt eine Parallele nahe.
Nach der Attacke auf Lindh wurde u.a. vergessen, den U-Bahn-Verkehr in der
Hauptstadt zu stoppen. Nach dem Mord an Palme riegelte die Polizei den Tatort
nicht ab, eine landesweite Fahndung nach dem Täter kam erst nach Stunden in Gang
und die tödliche Kugel las ein Passant von der Straße auf und übergab sie den
Behörden. Die Tatwaffe wurde bis heute nicht gefunden.
Auf den zweiten Blick sind die Ähnlichkeiten zwischen den
beiden Fällen jedoch nicht so groß. Zwar war Lindh sehr populär, aber sie war
weit davon entfernt, in die Fußstapfen des langjährigen Ministerpräsidenten
Palme zu treten. Eine »ungewöhnlich gewöhnliche« Politikerin nannte sie der
Dagens Nyheter. Der Messerattentäter von Stockholm hat Lindh nun jede
Möglichkeit genommen, im Lauf ihrer Karriere ein bisschen ungewöhnlicher zu
werden.
Sie galt als freundlich und offen und gleichzeitig als
ehrgeizig und ambitioniert. Bereist mit 25 Jahren zog sie als sozialistische
Abgeordnete in den Reichstag ein. 1994 wurde sie Umweltministerin, 1998
Außenministerin. Bevor sie sich in den letzten Wochen für die Einführung des
Euro in ihrem Land stark machte, hatte sie sich im Nahostkonflikt engagiert,
sich für eine Freilassung der US-Gefangenen auf Guantanamo Bay eingesetzt und
die amerikanische Invasion im Irak kritisiert. Der Mord an ihr ist für viele
Schweden jedoch vor allem deshalb so unbegreiflich, weil Lindh bei all ihren
Aktivitäten nicht als umstritten galt. Während Ministerpräsident Perssons
Regierungsstil von vielen als autoritär empfunden wird, erschien Lindh auch
politischen Gegnern durchweg als beliebt und angenehm.
Olof Palme war da weitaus umstrittener. 16 Jahre lang
amtierte er sowohl als Vorsitzender der mächtigen sozialdemokratischen Partei
als auch als Regierungschef. Innenpolitisch stieß er mit seinem noch heute in
der schwedischen Gesellschaft verankerten Ziel, möglichst weitgehend
gesellschaftliche Gleichheit zu verwirklichen, nicht bei allen auf Zustimmung.
Auch der Rüstungslobby war der Sozialdemokrat ein Dorn im Auge. Gegen Palme
agierte etwa auch eine faschistische Gruppe innerhalb der Polizei, die seinen
Tod noch in der Mordnacht ausgelassen gefeiert haben soll und die möglicherweise
sogar in die Bluttat verstrickt war.
In der Außenpolitik beinhaltete Palmes Gleichheitsstreben
Solidarität mit Unterdrückten sowie Engagement für Frieden und Abrüstung.
Schweden war damals eines der Länder, die sich am frühesten und vehementesten
für das Ende des südafrikanischen Apartheidregimes einsetzten. Darüber hinaus
hatte Palme mehrfach stark gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten 1968
in Prag und gegen die Massaker der US-amerikanischen Streitkräfte in Vietnam
protestiert.
Nicht zuletzt das südafrikanische Regime und die USA galten
seinerzeit auch als seine schärfsten Gegner. Hierin ist auch die Ursache dafür
zu sehen, dass sich um Palmes Ermordung eine Vielzahl von Legenden, Gerüchten
und undurchsichtigen Ermittlungssträngen rankt. Einmal war es der
US-Geheimdienst CIA, der den Mord an ihm in Auftrag gegeben haben soll, einmal
das damalige südafrikanische Apartheidsregime, das mit rechtsextremen Kreisen in
Schweden gemeinsame Sache gemacht haben soll, mal der antikommunistische
Fanatiker Viktor Gunnarsson, der einen Wohnsitz in den USA und Kontakte zur CIA
hatte und der in der Mordnacht am Stockholmer Tatort gesehen wurde.
Vieles deutet indes einfach darauf hin, dass der
alkoholkranke Kleinkriminelle Christer Pettersson Palme erschoss. Lisbet Palme
hat ihn identifiziert, der Polizei gelang es jedoch nie, dem Mann den Mord
nachzuweisen. Verschwörungstheoretiker halten nichts von der Pettersson-These,
ist es doch weit weniger aufregend, wenn der Ministerpräsident von einem
Durchgeknallten erschossen wurde und nicht einem internationalen Komplott zum
Opfer fiel.