An einem Freitagmittag im November 2002 erhielt das jüdische Onlinemagazin
Hagalil den Anruf einer Castingagentur. Für den Film »Rosenstraße« von
Margarethe von Trotta würden am kommenden Montagmorgen orthodoxe Juden
gebraucht, damit die Szene mit dem Schiwe-Sitzen (jüdisches Trauerritual) »so
richtig authentisch rüberkommt«. Die Redakteurin erklärt, dass die benötigten
orthodoxen Juden jetzt nicht erreichbar seien, da in drei Stunden der Schabbat
beginne und sie sich darauf vorbereiteten. Die Anruferin reagiert unwirsch:
»Wenn die Juden so unkooperativ sind – selber schuld!«
Diese Szene ist symptomatisch für das, was aus dem ambitionierten Filmprojekt
von Margarethe von Trotta geworden ist. Es stützt sich auf eine wahre
Begebenheit. Im Februar 1943 wurden alle noch in Berlin lebenden jüdischen
Zwangsarbeiter verhaftet. Diejenigen unter ihnen, die mit nicht jüdischen
Partnern verheiratet waren, wurden in ein Verwaltungsgebäude der Jüdischen
Gemeinde in der Rosenstraße unweit des Alexanderplatzes gebracht, das zum
Sammellager umfunktioniert worden war. Da es sehr viel mehr gemischte Ehen
zwischen jüdischen Männern und nicht jüdischen Frauen gab als umgekehrt und
außerdem die nicht jüdischen Frauen sich häufiger nicht zur Scheidung nötigen
ließen, waren es überwiegend Frauen, die in der Rosenstraße standen. Selbst als
Maschinengewehre aufgebaut wurden, ließen sie sich nicht einschüchtern. Nach
einer Woche wurden die dort Inhaftierten freigelassen.
Der Film setzt in New York ein, wo Ruth (Jutta Lampe) um ihren verstorbenen
Mann trauert. Die erwachsene Tochter Hannah (Maria Schrader) kommt mit den
Reaktionen ihrer Mutter nicht zurecht, besonders gegenüber ihrem zukünftigen
nicht jüdischen Ehemann, der bis zu diesem Zeitpunkt von der Mutter sehr
geschätzt wurde. Ruth verlangt, er solle verschwinden. Auf den Hinweis einer
Verwandten begibt sich Hannah auf Spurensuche nach Berlin und findet Lena
Fischer, der sie ein rein historisches Forschungsinteresse an »Mischehen im
Dritten Reich« vorspielt. Lena, die aus einem preußischen Adelsgeschlecht
stammt, hatte 1943 für ihren Mann Fabian protestiert und war für die achtjährige
Ruth, deren Mutter zeitweise in der Rosenstraße inhaftiert war, aber wegen der
Scheidung von ihrem nicht jüdischen Ehemann dann doch deportiert wurde, zur
Ersatzmutter geworden und hatte ihr in den folgenden zwei Jahren eine neue
Identität gegeben.
Mit vielen zeitlichen und örtlichen Sprüngen, zwischen damals und heute, New
York und Berlin, versucht der Film, unterschiedliche Erzählstränge zu
verknüpfen, aber sie sind oft zu konstruiert und in sich nicht stimmig. An einem
Abend in Berlins besserer Gesellschaft etwa soll Lena, eine vormals gefeierte
Pianistin, ihre Schaupielerfreundin Lizzy am Flügel begleiten, um dann mit
Goebbels ins Gespräch kommen zu können. Und zwar ausgerechnet über das durch die
damals als »Vaterlandsverräterin« bezeichnete Marlene Dietrich populär gewordene
Lied »Ich weiß nicht, wohin ich gehöre«, getextet vom jüdischen Autor Friedrich
Hollaender, dessen Werke wie die anderer jüdischer Künstler ab 1933 verboten
waren. Die Feststellung der alten Lena, »das kann man sich heute gar nicht mehr
vorstellen«, macht die Sache auch nicht glaubwürdiger.
Bereits in der Eingangsszene beim Schiwe-Sitzen, aber auch im weiteren
Verlauf, werden die gängigen Stereotypen dessen, was nicht nur Margarethe von
Trotta für »jüdisch« hält, abgearbeitet, Folklore inklusive. Das geht so weit,
dass eine 30tägige Trauerzeit, in der orthodoxe Juden angeblich nicht arbeiten
dürfen, erfunden wird. Die Gleichung in dieser ersten Szene läuft darauf hinaus:
Jüdisch religiös ist gleich orthodox ist gleich rigide und deshalb in der
heutigen Zeit unlebbar. Kompetente Fachberater für jüdische Inhalte hatte man
sich angeblich dennoch gesucht. Sie werden im Abspann nach dem
»Requisitenfahrer« genannt.
Die Rollen der »arischen« Akteure wurden mit blonden und einigen wenigen
brünetten Schauspielern besetzt. Die »jüdischen« Rollen werden – sofern es sich
nicht um Menschen im Seniorenalter handelt – durchgehend von dunklen,
schwarzhaarigen Typen gespielt. Per Anzeige im Internet waren dafür von der
Castingagentur »noch Frauen zwischen 20 und 45 Jahren (arisches Aussehen,
Naturhaarfarbe/mind. schulterlang) und jüdisch aussehende Männer und Frauen
zwischen 20 und 45 Jahren« gesucht worden. Diejenigen, die sich gegen diese
Zuschreibungen und diesen Sprachgebrauch verwahrten, wurden abgefertigt mit:
»Das haben wir beim Polanski-Film genauso gemacht.«
Die Brisanz, die darin besteht, dass in der Rosenstraße »arische« Frauen,
also »Volksgenossinnen«, den Uniformierten gegenüberstehen, und der
Spannungsbogen, der daraus entwickelt werden hätte können, wurden von der
Regisseurin vernachlässigt. Vieles ist sehr geschönt, kein Dreck und kein
Schweiß sind zu sehen. Man stelle sich einmal Hunderte von Männern vor, die eine
Woche ohne sanitäre Anlagen zusammengepfercht sind. Im Film hingegen sind die
Männer gerade mal erschöpft, unrasiert und übernächtigt und schlafen sogar auf
Matratzen. Der Film ist großenteils geprägt durch eine seltsame Abwesenheit von
Emotionen. Über Gefühle wird sehr viel mehr gesprochen als dass sie filmisch
inszeniert werden.
Die Täter werden sehr holzschnittartig dargestellt und nur in Uniform
gezeigt. Dieser Effekt unterstützt zusätzlich ihre Anonymisierung. Auch hier
wird ein in Deutschland gängiger Mechanismus reproduziert: Man beschäftigt sich
mit den Opfern im Detail und personalisiert sie so weitgehend wie möglich, und
gleichzeitig werden die Täter so weitgehend wie möglich anonymisiert. Hannah
kommt keinen Augenblick auf die Idee, nach ihrem nicht jüdischen Großvater zu
suchen und ihn zu befragen. Er könnte mit der gleichen Wahrscheinlichkeit noch
am Leben sein wie die 90jährige Lena Fischer, aber sie versucht es noch nicht
einmal. Dabei ist diese Frage für sie durchaus brisant, will sie doch bald einen
nicht jüdischen Partner heiraten.
Als Hannah bereits einige Tage lang mit Lena gesprochen hat, will diese
wissen, woher denn die junge Frau so gut deutsch könne. Die antwortet: »Meine
Mutter ist Deutsche.« Hier trägt das Drehbuch an eine amerikanische Jüdin
Befindlichkeiten heran, wie sie immer wieder von heutigen nicht-jüdischen
Deutschen gegenüber amerikanischen Juden, deren Eltern aus Deutschland emigriert
sind, geäußert werden. Sicherlich werden in Familien unterschiedliche Inhalte
unbewusst weitergegeben. Wie aber soll die in der Nazizeit geborene Ruth, deren
nicht jüdischer Vater sich von seiner jüdischen Frau getrennt hat, sich jemals
als »Deutsche« gesehen haben, hat sie sich doch als Kind permanent anders erlebt
als die »deutschen« Kinder ihrer Umgebung, musste sie doch ihre Haustiere
abgeben, einen Stern tragen und eine neue Identität annehmen, wobei sie als
»typisch deutsch« geltende Namen erst einmal ablehnt und Hannah heißen will. Die
junge Hannah weiß nichts über ihre Familiengeschichte, weil in ihrer Familie
über Jahrzehnte alles, was mit Deutschland zu tun hatte, als Tabu behandelt
wurde. Alle möglichen anderen Ausreden wären in einer solchen Situation nahe
liegender (Schüleraustausch oder Studienjahr in Deutschland etc.). Auch hier ist
die Geschichte nicht in sich stimmig.
Zum Schluss machen alle mit der Vergangenheit Frieden: Hannah bringt einen
Ring ihrer Mutter, den Lena in Berlin aufbewahrt hat, nach New York mit, und es
wird Hochzeit gefeiert – mit der entsprechenden jüdischen Folklore bebildert.
Einige kleine Alltagsszenen sind sehr berührend: beispielsweise der Besuch
von Artur bei seiner Schwester Lena, die in ärmlichen Verhältnissen leben muss,
was einen scharfen Kontrast zum Abend in besserer Berliner Gesellschaft bildet
und deutlich macht, unter welch anderen Umständen Lena leben könnte, wenn sie
sich von ihrem jüdischen Mann getrennt hätte. Trotz der hervorragenden
schauspielerischen Leistungen von Katja Riemann, Jutta Lampe und Jürgen Vogel
(Lenas Bruder Artur) ist dieser Film wenig überzeugend. Margarthe von Trotta ist
weit unter ihren Möglichkeiten geblieben.
»Rosenstraße« (D 2003). Regie: Margarethe von Trotta. Start: 18. September