Anfang August lieferte der Frankfurter Suhrkamp Verlag den
Traktat Nach dem Terror von Ted Honderich aus. Dieser beschäftigt sich mit den
Folgen der Terroranschläge vom 11. September sowie mit dem Anteil "des Westens"
an diesen Verbrechen. Mit einem in aller Eile geschriebenen offenen Brief an den
Suhrkamp Verlag (Frankfurter Rundschau vom 5.8.2003), löste der
Pädagogikprofessor Micha Brumlik in seiner Eigenschaft als Direktor des
Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts eine kurze, aber instruktive "Debatte" aus.
Brumlik wollte dem Verlag "kurz vor meinem Urlaub" ultimativ mitteilen, wovon
Honderichs Traktat angeblich handelt: von "philosophischem Judenhass" und
"antisemitschem Antizionismus". Die Belege, die Brumlik für seine bizarre Lesart
des moralphilosophischen Traktats anführte, sind gelinde gesagt dünn - aber
davon später. Das Innenleben und die Konstruktion der Pseudodebatte verdient
eine genauere Analyse.
Philosophisch kommt Honderich etwas altbacken daher und
pflegt einen pathetischen Argumentationsgestus, der bisweilen lächerlich wirkt.
Aus der normativen Vorstellung vom "guten Leben" und der egalitären Um- und
Neuverteilung der "großen Güter" - langes Leben, Lebensqualität, Freiheit,
Macht, Sicherheit, Achtung, Selbstachtung, menschliche Beziehungen sowie
kulturelle Teilhabe - deduktiv ein moralisch-politisches Programm abzuleiten,
das den Verbrechen vom 11. September und "unserem Anteil" daran Rechnung trägt,
funktioniert nur, wenn man die Komplexität der Verhältnisse fast schon
grobianisch vereinfacht. Auf diesem Weg tragbare Lösungen zu finden, scheitert
allein schon daran, dass es so gut wie aussichtslos ist, eine breit getragene
Übereinstimmung über "dicke" Begriffe wie "das gute Leben" und andere normativ
aufgeladene Termini zu erzielen.
Honderich klagt skandalöse Problemverschärfungen an und
stellt die richtige Frage, "ob eine Welt voller schlechten Lebens existiert,
weil wir das Falsche getan haben." Er setzt die 3.000 Opfer der Anschläge vom
11. September mit den 20 Millionen Lebensjahren in eine Beziehung, die allein
deshalb geopfert werden, weil "wir" den vier Millionen ärmsten Bewohnern in vier
afrikanischen Staaten mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 30 Jahren
nicht jene Hilfe gewähren, die deren Leben um wenigstens fünf Lebensjahre
verlängern würde.
Man mag diese pathetisch-appellative Arithmetik für Kitsch
halten - am Tatbestand, dass "wir" zum "Entstehen jener Mangelsituation
beigetragen haben", ändert das nichts. Wegen unterlassener Hilfe sind auch
"Demokratien todbringende Staaten." Dahinter steht die Vision einer möglichen,
ganz anderen und besseren Welt jenseits von bloßem Kaufen, Verkaufen und
ordinärer Selbstbespiegelung. Der feuilletonistische Konformismus à la mode gibt
jedoch schon radikalem Fragen den Bescheid, derlei sei wie jeder Gedanke an eine
andere Welt allemal nur die Vorstufe zu Verbrechen, Gewalt und Terror.
Tönt die schrille Antisemitismus-Alarmglocke einmal durchs
Land, muss sich jeder entscheiden. Entweder er distanziert sich von dem als
"antisemitisch" klassifizierten Text oder er kriegt selbst die
Antisemitenschelle umgehängt. In diesem Falle geriet auch der Philosoph Jürgen
Habermas in Zugzwang. Er hatte nämlich dem Suhrkamp Verlag empfohlen, Honderichs
Buch zu übersetzen, weil es zur regierungsamtlichen Kriegspropaganda und
Terrorismushysterie, die das politische Klima in den USA bestimmten, einen
selbstkritischen Kontrapunkt setzte. Habermas hält das Buch selbstverständlich
nicht für antisemitisch und das nassforsche Verdikt Brumliks für ein Urteil
"ohne Augenmaß". Trotzdem sieht sich selbst Habermas angesichts des erhobenen
Antisemitismusvorwurfs gegen Honderich unverhofft in die Defensive gedrängt und
dazu gezwungen, sich öffentlich zu entschuldigen beim ziemlich unbekannten
Ankläger, für den Brumlik die Botenrolle übernahm. Es könnte sein - so Habermas
- dass er mit seiner Buchempfehlung gegenüber den Befürchtungen "eines offenbar
größeren Teils unserer jüdischen Bevölkerung", der Kritik an der Politik der
israelischen Regierung habituell nur noch als versteckten Antisemitismus
wahrnehmen will, nicht "die gebotene Rücksichtnahme" aufgebracht habe. Ist das
eine halbwegs erpresste Verrenkung oder hört sich der Satz nur so an?
Läutet die Antisemitismus-Alarmglocke, gibt es in der BRD
faktisch nur eine Chance, wenn man nicht auf eine Selbsterledigung aus ist: Man
muss mitziehen am Glockenseil. Die Debatten über den angeblichen oder
tatsächlichen Antisemitismus in den Büchern von Martin Walser, Norman G.
Finkelstein und anderen belegen das ebenso wie jetzt der Streit um Honderichs
Buch. Es genügt offenbar, den Vorwurf zu erheben - eine sachlich-philologische
Prüfung ist nicht vorgesehen im medialen Betrieb, der auf Verdacht hin
unerbittlich zuschnappt. Man kann über das literarisch-ästhetische Niveau und
die geschmackliche Qualität von Martin Walsers Reich-Ranicki-Parodie
unterschiedlicher Meinung sein, aber "antisemitisch" kann das Buch nur nennen,
wer es nicht oder böswillig gelesen hat, wie die philologisch exakte Analyse von
Urs Allemann gezeigt hat. Auch im Fall von Walsers desaströser Paulskirchenrede
stellte sich nicht die Spießerfrage nach ihrem antisemitischen Gehalt, sondern
jene, was von einem Intellektuellen zu halten ist, der ein öffentliches Podium
mit der Couch des Psychoanalytikers verwechselt und für seinen assoziativen
Meinungsschrott von der überwältigenden Mehrheit der Festgemeinde auch noch
Beifall kriegt.
Nach dem Auftakt mit Brumliks rüdem Pamphlet am 5. August
diesen Jahres und Habermas´ Entschuldigung für seine Buchempfehlung (6. August )
tobte in den Feuilletons aller deutschen Zeitungen eine kurze und skurrile
Debatte, die mit Honderichs Buch fast gar nichts zu tun hatte. Die Kampagne
brach so blitzartig zusammen wie ein guatemaltekischer Platzregen, als der
Suhrkamp Verlag am 7. August bekannt gab, das Buch nicht mehr zu vertreiben und
die Rechte an den Autor zurückzugeben. Die Anatomie der gespenstischen Debatte,
in der der tatsächliche Inhalt des Buches keine Rolle mehr spielte, zeigt
paradigmatische Züge für Kampagnen, in den sich der Antisemitismusvorwurf
gleichsam verselbständigt hat.
Erstens: Kein einziger unter den notorisch empörten Kritikern
von der FAZ bis zur NZZ, die großspurig auftrumpften und von Honderichs
"Judenmordfantasien", "fanatischem Anti-Israelismus", "linken Gewaltfantasien",
"beiläufigem Antisemitismus" oder "Antisemitismus der smarten Art"
schwadornierten, machte auch nur die geringste intellektuelle Anstrengung, die
wohlfeilen Verdikte am Text zu belegen. Israel spielt in dem 242 Seiten starken
Buch überhaupt nur eine marginale, meistens nur illustrative Rolle, um die
weitreichenden Folgen von "Unterlassungen" der Schutzmacht USA zu beschreiben.
Zweitens: Der Antisemitismusvorwurf bewegt sich als
publizistischer Selbstläufer. Jemandem die Schelle umzuhängen, genügt. Der
Vorwurf ebnet den Weg für politische Sekundärgeschäfte wie die Immunisierung der
israelischen Politik gegen Kritik ebenso wie für allerlei Abrechnungen. Patrick
Bahners von der FAZ etwa benützte die Gelegenheit, zusammen mit Honderichs Buch
gleich die ganze Aufklärung und den Suhrkamp Verlag obendrein abzuräumen und
"die Krise der Kritik" auszurufen."
Drittens: Im wesentlichen stützen sich alle Kritiker einzig
auf die drei Zitate, die Brumliks offener Brief aus dem Buch herauspräparierte.
Das legt den Verdacht nahe, dass sie das Buch nicht oder nur höchst selektiv
kennen. In einem Fall kann das belegt werden. Der Soziologieprofessor Natan
Sznaider, der nirgends fehlt, wo Antisemitismus-Prädikate verteilt werden,
behauptet, Honderich rede dem "Terror für die Menschlichkeit" das Wort. Der sagt
jedoch klipp und klar, dass es "in unserer heutigen Welt keine vernünftige
Hoffnung für den Terrorismus im Namen der Menschlichkeit" gibt. Eine andere
Kritikerin tippt vom Titel des letzten Kapitels ("Was zu tun ist" - ganze 13
Seiten) darauf, Honderich sei Leninist. Im Buch steht: "Da ich niemals Marxist
oder Möchtegern-Marxist war, niemals Marx studiert habe oder ein Markt-Marxist
war, habe ich auch keine Sympathien für Karls Geschichtstheorie." Der
Schriftsteller Richard Wagner improvisierte frei über "Linke und
Antisemitismus", ohne mit einem Wort auf das Buch einzugehen.
Viertens: Gegen Ende des Buches fällt der Satz, "was zählt,
sind die Ergebnisse." Daraus bastelt sich ein Kritiker der FAZ Honderich prompt
als "Utilitaristen" zusammen. Das ist grotesk, denn der Kernpunkt von Honderichs
Moralphilosophie vom "guten Leben" und seiner Kritik an Liberalismus,
"oligarchischer Demokratie" und "business" ist deren moralisch defiziente und
perspektivenlose Orientierung am privaten Nutzen. Wer Honderich für einen
Utilitaristen hält, muss 98 Prozent des Buches überschlagen haben, denn die
Pointe seines "Humanitarismus" ist es gerade, dass er im Unterschied zum
Utilitarismus "nicht im Entferntesten jedes Mittel" billigt.
Als skandalös und antisemitisch bezeichnen die Kritiker
Honderichs Buch pauschal vor allem wegen einer Stelle, an der er vom
"moralischen Recht" der Palästinenser spricht, "Terrorismus gegen Israelis"
auszuüben. Diese Stelle findet sich im letzten Kapitel, in dem er fragt, was zu
tun sei angesichts des Zustands der Welt, in der weiße Amerikaner eine
Lebenserwartung von rund 70 Jahren, die ärmsten Afrikaner dagegen eine von 30
Jahren besitzen. Was sein Plädoyer für "entschlossene Humanität" praktisch
bedeutet, bleibt diffus. Einigermaßen ohnmächtig nennt Honderich vier Maßnahmen.
Zunächst müssen "wir uns selbst ändern", wobei er dunkel von "Beichte" und dem
"Entschluss zur Wandlung" redet; dann haben wir die Chance, unsere politische
Führung zu wählen, aber da "die Partei der Menschlichkeit nicht zur Wahl steht",
ist dieses Mittel nicht besonders geeignet, die Verhältnisse grundlegend zu
ändern. Schließlich verweist Honderich auf den "zivilen Ungehorsam" als
"Ergänzung zum Wählen." Zivilen Ungehorsam hält er für "sehr wahrscheinlich viel
geeigneter als fast jede Form von Terrorismus, wenn es darum geht, der Wahrheit
Gehör... zu verschaffen."
Explizit lehnt Honderich den "Terrorismus für Humanität" ab,
denn der beruhe auf falschen Hoffnungen und auf dem Irrationalismus, ein
Attentat in Paris oder New York verhelfe Afrikanern mit den jetzt noch
schlechten und kurzen Leben dereinst zu besseren und längeren. Mitten in diesen
Überlegungen kommt er abrupt auf eine Ausnahme zu sprechen - den
"Befreiungsterrorismus", den er für gerechtfertigt hält, wenn er "um Freiheit
und der Macht eines Volkes willen betrieben wird" und "wenn klar ist, dass
nichts anderes" dem Volk "diese Freiheit und Macht verschaffen wird."
Für wenige Fälle sieht Honderich die politische Situation als
gegeben an, dass dieses "speziellere Mittel" als einziger Ausweg bleibt. Er
nennt das Attentat auf Hitler und den Kampf gegen das Apartheid-Regime in
Südafrika. Aber auch für die Phase der israelischen Staatsgründung nach 1945
räumt er ein, "dass es ... eine Rechtfertigung für den besonderen Terrorismus
gab, der zur Existenz des Staates Israel führte," die er mit keinem Wort
anzweifelt. Aktuell betrachtet Honderich den terroristischen Kampf der
Palästinenser gegen die israelische Besetzungs-, Landnahme- und
Vergeltungspolitik als politisch legitim. Richtig daran ist einzig, dass
Honderich die kommode Unterscheidung in kriegerische Akte, wenn israelische
Soldaten palästinensische Zivilisten ermorden, und terroristische Akte, wenn
palästinensische Selbstmordattentäter Israelis und sich selbst ermorden, als
haarsträubende Bigotterie zurückweist.
Dass Honderich von der erhofften - keineswegs gesicherten -
strategischen Zweckdienlichkeit des palästinensischen Terrors auf dessen
moralische Berechtigung schließt, ist ein moralphilosophischer Kurzschluss der
böseren Art und obendrein ein Selbstwiderspruch. Die am 4. 8. 2003 aktualisierte
Fassung seines Aufsatzes über Terrorism for Humanity auf seiner Homepage gesteht
das Dilemma, solchen Terror rational zu begründen, offen ein: "Es ist nicht
leicht, Widersprüchen zu entgehen, nicht leicht, rationale Konsistenz zu
erreichen."
In der Tat. Denn was Honderich selbst über die moralische
Berechtigung der Attentate vom 11. September sagt, trifft haargenau auch auf den
palästinensischen Terror und die israelischen "Militäraktionen" zu: Auch diese
beiden Verbrechen bieten "keine Gewissheit oder signifikante Wahrscheinlichkeit,
keine vernünftige Hoffnung, ... ein rechtfertigendes Ziel formulieren zu können,
sondern allein die Gewissheit, dass ... Leben zerstört" werden. "Terrorismus",
so Honderich an anderer Stelle im Buch, "tötet ... und bewirkt ansonsten in der
Regel nichts." Politisch ist die Herauslösung des ominösen
"Befreiungsterrorismus" aus den moralphilosophischen Erwägungen kurzsichtig,
philosophisch eine haltlose Improvisation, die mit Antisemitismus nichts zu tun
hat.