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Hans Filbinger:
Ein pathologisch gutes Gewissen

Hans Filbinger wird 90 Jahre alt. Im Jahr 1978 wegen seiner NS-Vergangenheit als baden-württembergischer Ministerpräsident zurückgetreten, kommt er nun zu neuen Ehren. Das ist konsequent...

Thorsten Fuchshuber

Man wird Zeit und Abstand brauchen, um ganz zu begreifen, was Ihnen geschah. So viel ist indessen schon heute zu sehen: Es handelt sich um einen Ablauf ganz singulärer Art, für den es seit dem Bestehen unseres Landes keine Vergleichbarkeit gibt«. Wer die Worte des ehemaligen baden-württembergischen Kultusministers Gerhard Storz, ausgesprochen im Jahr 1978, flüchtig liest, könnte meinen, sie seien an einen Überlebenden der Shoah gerichtet. Aber sie waren dem früheren Marinerichter der Wehrmacht, Hans Filbinger, gewidmet.

Das CDU-Mitglied Filbinger, seit 1966 Ministerpräsident von Baden-Württemberg, musste im August 1978 zurücktreten, nachdem öffentlich geworden war, dass er als Jurist im Dienste des Nationalsozialismus an sechs Todesurteilen gegen Deserteure beteiligt war.

Dass Storz dem, was Filbinger »geschah«, den Stempel der Singularität aufprägte, ist skandalös und richtig zugleich. Zwar ging es dem Kultusminister darum, auf das nach seiner Meinung historische Unrecht, welches dem »furchtbaren Juristen« widerfuhr, aufmerksam zu machen. Aber er hatte insofern Recht, als der Fall eine Ausnahme darstellte.

Filbinger wurde als einer der wenigen jener zahllosen Männer und Frauen, die im »Dritten Reich« Karriere machten und nach dessen Zerschlagung sogleich wieder in Amt und Würden kamen, von Teilen der Öffentlichkeit angeklagt. Am Ende war er von den eigenen Parteifreunden nicht mehr zu halten, er habe sich »ungeschickt verteidigt«, wie der Rheinische Merkur unlängst schrieb.

Doch dass man ob Filbingers Ungeschick seine »historische Leistung« (Stuttgarter Zeitung) nicht vergessen dürfe, darüber ist man sich in der von CDU und FDP geführten Regierung des »Musterländles« einig. Und so will man ihm, der am 15. September dieses Jahres seinen 90. Geburtstag feiert, tags darauf in Ludwigsburg bei Stuttgart einen festlichen Empfang bereiten.

Auch in seinen Wohnort Freiburg sollte anfangs zu seinen Ehren geladen werden. Der grüne Oberbürgermeister Dieter Salomon hatte die Einladung gemeinsam mit dem dortigen CDU-Kreisverband ausgesprochen. Doch dann regte sich Kritik aus den Reihen der Gewerkschaften und der Bürger. Der Oberbürgermeister beharrte zunächst auf seinem Entschluss: »Wir kommen als Stadt an diesem Empfang nicht vorbei.« Filbinger habe sich ungeachtet der Rolle, die er während der Nazizeit gespielt habe, um Freiburg verdient gemacht.

Als sich die Empörung nicht legen wollte, änderte Salomon doch noch seine Pläne. Er werde dem Empfang fernbleiben, denn »auch ich habe eine politische Biografie«. Am Ende war es Filbingers Familie, die Konsequenzen zog und die Veranstaltung absagte, wegen »unqualifizierter politischer Angriffe«, wie es hieß.

Filbinger hat die Zeit nach seiner Demission vom Amt des Ministerpräsidenten vorwiegend dafür verwendet, »politische Angriffe« auf ihn als eine »Rufmordkampagne« von links zu denunzieren. Dabei inszenierte er sich als verfolgte Unschuld.

Die Grundzüge der Geschichte: 1978 veröffentlicht der Schriftsteller Rolf Hochhuth den Roman »Eine Liebe in Deutschland«. In einem in der Zeit veröffentlichten Vorabdruck wird Filbingers Nazivergangenheit aufgedeckt. In den folgenden Monaten kommen weitere Details über sein Wirken als Jurist im nationalsozialistischen Deutschland zutage. Filbinger relativiert und streitet ab: Die zwei Todesurteile, die er als Richter im April 1945 gefällt habe, seien gegen zwei Deserteure gerichtet gewesen, die sich zu diesem Zeitpunkt schon im schwedischen Exil befanden. Kein Wort davon, dass Schweden noch bis unmittelbar vor Kriegsende Wehrmachtsdeserteure an Deutschland auslieferte. Bei den anderen Todesurteilen habe er lediglich als weisungsgebundener Anklagevertreter mitgewirkt, deshalb könne er für sie auch nicht verantwortlich gemacht werden.

Filbinger, dem Erhard Eppler (SPD) 1978 ein »pathologisch gutes Gewissen« attestierte, betrachtet sich auch heute noch als Opfer eines Komplotts. Sein Schaffen in dem 1979 von ihm gegründeten Studienzentrum Weikersheim, einem Think Tank der Neuen Rechten, zielt bis in die Gegenwart darauf ab, die vermeintliche Unterwanderung der Gesellschaft durch linke Kreise zu entlarven. Antifaschismus denunziert Filbinger als totalitären Kampfbegriff. Außerdem hetzt er mit Vorliebe, wie etwa in einem 1998 gehaltenen Vortrag, gegen die Protagonisten der Frankfurter Schule. Diese hätten eine »Kulturrevolution« angezettelt und die Universitäten zu Schauplätzen »revolutionärer Umtriebe« gemacht. Dementsprechend feiert er in seinem Buch »Die geschmähte Generation« die von ihm initiierte baden-württembergische Hochschulreform, mit der es gelungen sei, die »Macht der revolutionären Kreise« zu brechen.

In einer Vielzahl von Publikationen, die von Filbinger selbst oder ihm politisch Nahestehenden herausgegeben wurden, werden überdies sämtliche Anschuldigungen gegen ihn vermeintlich widerlegt oder als Stasi-Kolportagen bezeichnet.

An seinem berüchtigt gewordenen Ausspruch »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein« wird deutlich, warum der »Fall Filbinger« so bezeichnend ist für diese Republik: Filbinger ist das Paradebeispiel des Racketeers, von dem in Max Horkheimers Fragmenten der Rackettheorie die Rede ist. Die Mitglieder dieser Rackets, in sich verschworener Gruppen, fühlen sich ausschließlich den eigenen kollektiven Regeln und Interessen verpflichtet.

Im Übergang zum Postfaschismus blieben die Rackets der Juristen, Mediziner, Akademiker etc. samt ihrer totalitären Strukturen erhalten, sie gingen in die neue Gesellschaftsordnung ein. Der viel zitierte Satz macht kenntlich: Für Filbinger, der sich dem Racket der Juristen zugehörig fühlt, ist es völlig irrelevant, ob das für seinesgleichen gültige Regelwerk von außen in Frage gestellt wird.

Die Transformation von totalitärer Herrschaft in ein Gesellschaftssystem, in dem die NS-Seilschaften als Teil der Rackets sogleich wieder in Machtpositionen gelangen konnten, war konstitutiv für diesen Staat. Es ist also folgerichtig, dass Filbinger nun geehrt werden soll. Er ist einer der wenigen seines Standes, die weichen mussten. Man ließ ihn fallen, jedoch aus Gründen der Staatsräson, nicht wegen der Ungeheuerlichkeit seiner Taten. Denn es war das Gesetz der Selbsterhaltung des Rackets, das seine Mitglieder zum Unabwendbaren zwang.

Deshalb sei es nun »höchste Zeit, dass Filbinger Gerechtigkeit widerfährt«, sagt der amtierende Ministerpräsident Erwin Teufel. Er habe durch seinen Rücktritt ein »Höchstmaß an Verantwortung« übernommen, sekundiert der CDU-Fraktionsvorsitzende Günther Oettinger.

Filbingers Nachfolger Lothar Späth musste 1991 wegen einer von Industriellen bezahlten Urlaubsreise den Hut nehmen. Ein NS-Jurist hat in dieser Gesellschaft wegen seines damaligen Handelns keine schlimmeren Konsequenzen zu befürchten als einer, der sich mit ein paar hundert Euro schmieren lässt.

Jungle World
Jungle World Nummer 38 (10.09.2003)

kt / hagalil.com / 2003-09-15

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