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Bayern:
Zivilcourage gegen Nazis strafbar

Wer in Bayern zum Aufstand der Anständigen ruft, muss mit einer Verurteilung rechnen...

Nikolaus Brauns

Zwei Antifaschisten wurden vom Münchner Amtsgericht wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu Geldstrafen verurteilt. Sie hatten im vergangen Jahr dazu aufgerufen, sich einer Nazidemonstration entgegenzustellen.

Tausende Münchner hatten am 30. November 2002 versucht, eine Demonstration von Rechtsextremen durch die bayerische Landeshauptstadt blockieren. Anmelder dieser Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung war der kürzlich nach Sprengstofffunden verhaftete Rechtsterrorist Martin Wiese.

Die Staatsanwaltschaft warf dem 51-jährigen Maschinenschlosser Christiaan Boissevain vor, kopierte Stadtpläne mit der Marschroute der Nazidemo verteilt zu haben. Dass Boissevain dabei konkret zu einer Blockade aufgefordert habe, konnten als Zeugen geladene Polizisten nicht bestätigen. Anwältin Angelika Lex verwies darauf, dass auch Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) und die Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde Charlotte Knobloch aufgerufen hätten, sich den Nazis in den Weg zu stellen, ohne dafür Strafbefehle erhalten zu haben. »Dies ist ein politischer Prozess«, erklärte Boissevain. »Es ist empörend, dass hier Antifaschisten, die den so genannten Aufstand der Anständigen mitorganisiert haben, stellvertretend für viele Menschen abgestraft werden. Damit soll allen Teilnehmern gezeigt werden: Euer Verhalten war kriminell, beim nächsten Naziaufmarsch verhaltet euch also polizeikonform, lasst sie marschieren. Einzelne sollen für die Zivilcourage tausender Menschen büßen.« Unmittelbar nach Boissevain stand der 78-jährige Martin Löwenberg, Mitglied im bayerischen VVN-Landesvorstand, vor Gericht. Er wurde wegen seiner Rede auf einer antifaschistischen Kundgebung am 30. November angeklagt, in der er zur Verhinderung des Naziaufmarsches aufgerufen hatte. »Verhindern wir gemeinsam den Aufmarsch von alten und neuen Nazis«, hatte Löwenberg unter anderem erklärt. »Es ist legitim, ja es ist legal, sich den Totengräbern der Demokratie entgegen zu stellen.« In den Augen des Gerichts war dies der Aufruf zu einer strafbaren Blockade.

»Ich schäme mich für den Rechtsstaat«

In einer bewegenden, immer wieder vom Applaus der zahlreichen Zuschauer unterbrochenen Rede schilderte Löwenberg, wie ihn die Erfahrungen der NS-Diktatur geprägt hatten »Ich habe sehen müssen, dass zu viele Deutsche unbeteiligt zuschauten, als am 9. November 1938 Juden auf offener Straße geschlagen wurden.« Im November 1941 wurden 15 jüdische Verwandte seines Vaters aus der Heimatstadt Breslau deportiert. »Keiner ist zurückgekommen«, sagte Löwenberg. 1944 musste er selber als Zwangsarbeiter in einem KZ in Lothringen die Leichen jüdischer Häftlinge aus unterirdischen Rüstungsanlagen herausholen. »Nach der Befreiung war für uns die Lehre: Faschismus und Krieg hätten verhindert werden können, wenn Demokraten und Antinazis rechtzeitig die Gefahr erkannt und die Nazis aktiv bekämpft hätten«, erklärte Löwenberg, der für sein politisches Engagement vom Oberbürgermeister mit der Medaille »München leuchtet« ausgezeichnet worden war. Das Grundgesetz sei ihm ebenso Verpflichtung, so Martin Löwenberg, wie der Schwur von Buchenwald: »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.«

»Ich schäme mich für den Rechtsstaat, dass ich hier stehen muss, um diesen Mann zu verteidigen«, sagte Rechtsanwältin Lex in ihrem Schlussplädoyer.

Antifaschistisches Engagement der Bürger sei notwendig zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung, da Polizei und Justiz hierzu offensichtlich nicht in der Lage seien. Im Polizeiprotokoll über Löwenbergs Rede sei beispielsweise von einer »KFZ-Häftlingskleidung« sowie davon die Rede gewesen, dass »Göppel« am 9. November 1938 die »Reichsprognomnacht« auslöste. Offensichtlich hätten weder Staatsschutz noch Staatsanwalt oder Richter dies gelesen. »Wie kann ich einem Staat bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus vertrauen, wenn die zuständigen Beamten nicht einmal die historischen Grundbegriffe kennen?« fragte Lex.

»Sonst würde der Pöbel bestimmen«

Der Staatsanwalt warf Löwenberg indessen vor, sich im Namen einer höheren Moral bewusst für eine Straftat entschieden zu haben, als er den Rechtsextremen das Demonstrationsrecht absprach. Über die Rechtmäßigkeit einer Demonstration hätten alleine die Gerichte zu befinden - »sonst würde der Pöbel auf der Straße bestimmen, wer das Versammlungsrecht ausüben darf«. Beide Angeklagte wurden »im Namen des Volkes« zu Geldstrafen verurteilt - Boissevain zu 30 Tagessätzen von je 30 Euro, Löwenberg zu 15 Tagessätzen von je 20 Euro.

Mit Rufen wie »Nicht in meinem Namen« protestierten Zuschauer gegen die Urteile. Mehrere Beobachter, darunter der Münchner Grünen-Fraktionschef Siegfried Benker, wurden daraufhin des Saales verwiesen. Im Oktober steht Benker selbst vor Gericht - auch er hatte dazu aufgerufen, einen Naziaufmarsch zu verhindern.

Neues Deutschland
Neues Deutschland vom 24.09.2003

kt / hagalil.com / 2003-09-26

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