Es wird gefragt: Ist es wieder so weit?« So fasste Charlotte
Knobloch die Stimmung in den jüdischen Gemeinden zusammen. »Wir können nicht zur
Tagesordnung übergehen«, sagte die stellvertretende Präsidentin des Zentralrats
der Juden in Deutschland nach dem Sprengstofffund bei Neonazis in München. Der
Grundstein für das jüdische Gemeindehaus in München sei noch nicht einmal gelegt
worden, und schon liege der Schatten rechter Gewalt darüber.
14 Kilogramm Sprengstoff, davon 1,7 Kilo TNT, waren am 9.
September bei Rechtsextremisten gefunden worden. Sie hatten offenbar geplant,
eine Bombe bei der Grundsteinlegung für das Gemeindezentrum zu zünden, die für
den 9. November vorgesehen ist und bei der u.a. der Vorsitzende des Zentralrats,
Paul Spiegel, und Bundespräsident Johannes Rau anwesend sein wollen.
»Jüdisches Leben stand in der langen Geschichte in dieser
Stadt fast immer unter politischer Spannung«, steht auf der Homepage der
Jüdischen Gemeinde München zu lesen. Es wird darauf hingewiesen, »dass zum
ersten Mal in der knapp 850jährigen Geschichte Münchens im Jahr 1999 der
Stadtrat aus eigenem Antrieb seiner jüdischen Gemeinde einen repräsentativen
Platz eingeräumt hat«.
Auf diese Etablierung jüdischen Lebens hatten es die Nazis
wohl abgesehen. Einem Bericht der Berliner Zeitung zufolge sind in München
bereits im Februar Briefe mit einem gelblichen Pulver verschickt worden, u.a. an
den Münchner Oberbürgermeister Christian Ude (SPD). Darin habe ein »Deutsches
Anti-Jüdisches Kampfbündnis« mit Terroranschlägen auf jüdische Einrichtungen
gedroht und die Einstellung der Bauarbeiten am jüdischen Gemeindezentrum
gefordert.
Möglicherweise aber geht die deutsche Gesellschaft dennoch
schnell zur Tagesordnung über. Die Befürchtungen der Juden standen jedenfalls
weniger im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion in der vorigen Woche.
Vielmehr ging es um die Frage, ob in der rechtsextremen Bewegung inzwischen eine
»Braune Armee Fraktion« entstehe, wie der bayerische Innenminister Günther
Beckstein (CSU) glaubt.
So unangebracht sein Vergleich war, die schnellen Dementis
sprachen auch für sich. Bundesinnenminister Otto Schily warnte sogleich vor
einer »Alarmstimmung«. Die taz sah ein »BAF-Gespenst«, die Frankfurter Rundschau
analysierte: »Bislang jedoch verfügen solche Gruppen weder über das technische
Wissen noch über ausreichend Geld, geschweige denn ein funktionierendes Netz von
Unterstützern, um im Untergrund zu agieren und aufwendige Anschläge
vorzubereiten. Von einer ›Braunen Armee Fraktion‹ keine Spur.«
Tatsächlich gibt es, neben dem ideologischen, einen ganz
entscheidenden Unterschied zwischen der RAF und dem heutigen Rechtsextremismus.
Die RAF war in der Gesellschaft völlig isoliert. »Sechs gegen 60 Millionen«, so
beschrieb der Schriftsteller Heinrich Böll damals die Stimmung. Die Aktivitäten
der Neonazis scheinen dagegen die meisten Menschen weniger zu empören.
Dem Rechtsextremismus nähert man sich etwas einfühlsamer als
damals der RAF. Der stern etwa weiß über die »Kameradschaft Süd – Aktionsbüro
Süddeutschland«: »Der harte Kern der Gruppe besteht nur aus einer Handvoll
Neonazis, die fast alle wie Wiese aus Ostdeutschland stammen. Sie sind
Gescheiterte, Arbeitslose; junge Männer und Frauen, die in zerrütteten Familien
aufwuchsen. Von Wiese weiß man, dass er sehr unter seinem strengen Vater litt
und sich im Teenageralter, als die Wende kam, in den Alkohol flüchtete.« Tut
irgendwas, helft ihnen, spendet für sie.
Kaum jemand teilte damals die Ziele der RAF. Dem Weltbild der
Neonazis stimmen heute hingegen viele zu. In einer kürzlich vorgestellten Studie
der Freien Universität Berlin bejahten 28 Prozent der Befragten die Aussage, der
Einfluss der Juden sei zu groß. 40 Prozent der Befragten vertraten eine
ausländerfeindliche Grundhaltung.
Auch das Argument, die Nazis verfügten nicht über die nötigen
technischen Mittel, um als Terroristen zu gelten, ist verharmlosend. Für
mehrfachen Mord genügte den Kameraden noch immer ein Molotow-Cocktail, sei es in
Schwandorf, in Solingen oder in Mölln. Die Zahl rechtsextremer Morde seit der
Wiedervereinigung geht in die Hunderte. In vielen Städten haben Neonazis die
Straße erobert, so dass sich Ausländer nachts nicht mehr nach draußen trauen
oder, wenn sie können, wegziehen. Befördert wird diese pogromartige Stimmung
auch von einem behördlichen Rassismus, von der Drangsalierung von Ausländern und
Asylbewerbern.
Anetta Kahane von der Jüdischen Gemeinde Berlin wies in der
vorigen Woche in der Frankfurter Rundschau darauf hin, dass der Naziterror immer
etwas »mit gesellschaftlichen Bewegungen« zu tun gehabt hätte. »So wie es eine
Bewegung gegen Ausländer gab (…) so gibt es zurzeit eine gesellschaftliche Welle
des Antisemitismus.« Diese beruhe »auf einer Debattenlage in rechten, aber auch
in linken Kreisen, die der Durchschnitt der Bevölkerung ebenso teilt. In ihr
dreht das Gespenst von den alles dominierenden Juden, besonders in der Weltmacht
USA, heftig seine modernen Runden.«
Dass sich die Nazis momentan wie die Fische im Wasser fühlen,
beweist auch, dass in München wenige Tage nach dem Sprengstofffund elf
Rechtsextreme nachts einen US-Amerikaner angriffen. Der Mann konnte sich
verteidigen, bis ein Wagen mit Zivilpolizisten auftauchte. Auch diese wurden von
den Nazis attackiert, nach ihrer Verhaftung randalierten sie noch auf der
Polizeiwache.
Hatte es am Montagmorgen vergangener Woche zunächst
vorsorglich geheißen, die Täter stünden in keinem Verhältnis zu der
»Kameradschaft Süd« und deren Anführer Martin Wiese, musste die Münchner Polizei
später das Gegenteil einräumen. »Mindestens zwei haben Verbindungen zu der
Gruppe um Wiese«, sagte der Sprecher der Polizei, Wolfgang Wenger, der Jungle
World. »Doch der Angriff auf den Amerikaner hat mit dem Sprengstofffund nichts
zu tun. Es war lediglich ein Umtrunk, die haben sich zugesoffen und stießen dann
auf den Amerikaner.«
Die Schläger waren, kaum hatten sie ihren Rausch
ausgeschlafen, wieder auf freiem Fuß. »Es gab keinen Haftgrund«, sagte der
Oberstaatsanwalt Anton Winkler der Jungle World. »Sie haben alle einen festen
Wohnsitz, es besteht keine Fluchtgefahr. Es ist ja auch nicht allzu viel
passiert. Man kann die ja nicht einfach länger festhalten. Sowas hatten wir
früher mal, die Zeiten sind vorbei.« So zartfühlend und geschichtsbewusst kann
der starke Staat sein.
Zehn Personen sind inzwischen wegen des Sprengstofffunds
inhaftiert. Die Ermittlungen führten bisher nach Brandenburg, nach
Mecklenburg-Vorpommern und nach Berlin-Marzahn. Möglicherweise müssen die
Ermittler ihren Blick auch nach Schwaben richten. Die rechte Sammlungsbewegung
»Demokratie direkt«, die in München gegen das geplante jüdische Gemeindezentrum
agitierte, ist auch im Raum Ulm aktiv.
Auf dem Festplatz des Ortes Senden nahe Ulm trafen sich am
14. September mit freundlicher Genehmigung der Stadt 100 Naziskins zu einem
Konzert. Nach Informationen der Antifaschistischen Aktion Ulm/Neu-Ulm soll auch
Michael Müller, ein Funktionär des »Aktionsbüros Süddeutschland«, anwesend
gewesen sein. Müller trage gerne mal das Lied vor: »Mit sechs Millionen Juden,
da fängt der Spaß erst an, mit sechs Millionen Juden ist noch lange nicht
Schluss.«
Bei der Antifa-Demonstration in Senden am vergangenen Samstag
war er dann wieder ganz der alte, der starke Staat. Mit einem Hubschrauber und
500 Polizisten, darunter Beamte des so genannten Unterstützungskommandos (USK)
der bayerischen Polizei, wurden die 300 Antifas in Schach gehalten.