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Diskussion:
Gibt es eine Braune Armee Fraktion ?

Sprengstoff in der Hand von Neonazis - die Hintergründe zum Terror von rechts...

Frank Jansen

Geschichte wiederholt sich nicht? Von wegen. Nach dem Fund von Sprengstoff bei Münchner Neonazis reden Politiker von einem Schock und stellen fest, die rechte Szene sei wohl unterschätzt worden. So ähnlich klang es auch im Sommer 2000, nachdem bei einem mysteriösen Anschlag auf dem Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn zehn Aussiedler, unter ihnen mehrere Juden, zum Teil schwere Verletzungen erlitten hatten. Damals rauschte eine Welle der Empörung durch die Republik. Vorneweg ein Mann, der auch jetzt wieder wuchtig auftritt: Günther Beckstein, Innenminister des Freistaats Bayern und Law-and-Order-Ikone der CSU. Im Sommer 2000 forderte Beckstein, die NPD müsse verboten werden. Heute behauptet der Minister, Deutschland werde von einer "Braunen Armee Fraktion" bedroht. So wie einst antworten viele Sicherheitsexperten auch jetzt: Beckstein irrt. Was die Fachleute nicht offen sagen, um Ärger zu vermeiden: Beckstein ist die Gallionsfigur einer verzerrten Wahrnehmung der eigentlichen Gefahr - des mitten in der Gesellschaft nistenden Rechtsextremismus, der den alltägliche Straßenterror stimuliert.

Diese Gefahr wird von Beckstein, aber auch anderen Politikern bis hin zum Bundeskanzler, auf grelle Phänomene reduziert. Die NPD schien ein ideales Objekt zu sein. Bis das Bundesverfassungsgericht vor einem halben Jahr den Verbotsantrag beerdigte. Eine gewaltige Blamage - für Beckstein, Schily, Schröder und viele andere, die ein NPD-Verbot als Erfolg des "Aufstands der Anständigen" verkaufen wollten. Der Versuch, mit populistischem Aktionismus den Rechtsextremismus zu erledigen, war gescheitert. Jetzt prescht Beckstein wieder vor und präsentiert das Phänomen der Braunen Armee Fraktion. Der Bundesinnenminister hingegen ist vorsichtiger als vor drei Jahren und widerspricht dem bayerischen Amtskollegen. Doch Becksteins Worte finden in den Medien große Resonanz. Obwohl schon eine kurze technische Analyse zeigt: Eine der RAF vergleichbare BAF ist nicht in Sicht.

Die Terroristen der Roten Armee Fraktion kämpften aus dem Untergrund heraus. Die Münchner Neonazis waren nicht abgetaucht, sie haben sich auch nicht sonderlich um Konspiration bemüht. Die "Kameradschaft Süd" um den jetzt inhaftierten Anführer Martin W. war im August im oberfränkischen Wunsiedel unübersehbar beim Marsch zum "Gedenken" an Rudolf Heß dabei. Und ausgerechnet der Neonazi, der den Sprengstoff aufbewahrte, verprügelte in der Öffentlichkeit einen Szene-Aussteiger - woraufhin die Polizei, wie sich jeder Schläger an seinen zwei Fäusten abzählen kann, die Wohnung des Täters durchsuchte. So unprofessionell hat sich die RAF nie verhalten.

Es mangelt der rechten Szene an der nötigen Disziplin und Intelligenz, um dem verhassten "System" einen bewaffneten Kampf aufzuzwingen. Fanatismus und mentale Verwahrlosung taugen meist nur zu Straßengewalt. Das ist übel genug und für die potenziellen Opfergruppen lebensgefährlich. Doch der Masse der Neonazis und Skinheads gelingt es nicht, vom Straßenterror auf professionellen Terrorismus umzuschalten, auch wenn auf den rechten Hass-CDs solche Fantasien herausgebrüllt werden.

Die Terrorgefahr geht "nur" von Einzeltätern und lokalen, fanatisierten Kleingruppen aus - die sich dem Prinzip des "leaderless resistance" nähern, dem Terrorismus der ohne Befehle und Hierarchien handelnden Attentäter, den der amerikanische Rechtsextremist Louis Beam propagiert. Herausragende Figuren sind im wiedervereinigten Deutschland der Berliner Neonazi Kay Diesner, der 1997 mit seiner halbautomatischen Waffe in Berlin-Marzahn einen PDS-Buchhändler niederschoss und dann auf der Flucht einen Polizisten ermordete. Und die drei Thüringer Neonazis, die in einer Garage in Jena Rohrbomben bauten und sich 1998 absetzten - bis heute sind sie nicht gefasst. Dies ist eines der seltenen Beispiele für eine gelungene Flucht namentlich bekannter Rechtsextremisten. Ein Beispiel für Kleingruppenterror ist auch die mysteriöse "Nationale Bewegung", die sich in der Region Potsdam von Drohgebärden und NS-Propaganda zu Brandanschlägen steigerte - auf türkische Imbisse und zuletzt, im Januar 2001, gegen die Trauerhalle des jüdischen Friedhofs in Potsdam. Wobei noch unklar ist, ob der Brandenburger Verfassungsschutz über einen V-Mann bei der "Nationalen Bewegung" mitgemischt haben könnte. Ein rechtsextremer Spitzel verriet jedenfalls im Februar 2001 einem Neonazi eine geplante Razzia, von der sich die Polizei einige Hinweise auf Mitglieder der "Nationalen Bewegung" erhoffte.

Diese V-Mann-Affäre und natürlich das Spitzel-Desaster im NPD-Verbotsverfahren sind weitere Argumente gegen die Behauptung, in der rechten Szene entstehe eine Braune Armee Fraktion. Kein Extremistenmilieu ist so üppig mit V-Leuten gespickt wie das braune. Im NPD-Verbotsverfahren sagten die Innenminister, in den Vorständen der Partei habe der Anteil der Spitzel immer "unter 15 Prozent" gelegen. Auch wenn sie anders gemeint war, verdeutlicht diese Zahl, in welchem Maße die rechte Szene vom Verfassungsschutz durchdrungen ist. Der ungestörte Aufbau bundesweiter Untergrundstrukturen nach dem Modell der Roten Armee Fraktion erscheint da wenig wahrscheinlich. Vielmehr zwingt sich die Frage auf, ob eine offen agierende und als schlagwütig aufgefallene Gruppe wie die Münchner "Kameradschaft Süd" nicht längst von Bayerns Verfassungsschutz infiltriert worden war. Dazu äußert sich Beckstein verständlicherweise nicht. So bleiben Zweifel: Hat der Verfassungsschutz die Gruppe unterschätzt und fahrlässig hingenommen, dass die Anschlagsgefahr zunahm - oder machte etwa ein V-Mann bei den Plänen mit?

Wie auch immer: Mehr als Feierabend-Terrorismus nach dem Modell der linksextremen "Revolutionären Zellen" und Desperado-Auftritte sind der rechten Szene nicht zuzutrauen. Das zeigt auch die Nachkriegsgeschichte, sogar der schlimmste rechtsextreme Anschlag seit 1945. Am 26. September 1980 zündete der Neonazi Gundolf Köhler, ehemals Sympathisant der berüchtigten "Wehrsportgruppe Hoffmann", eine Bombe auf dem Münchner Oktoberfest. Obwohl 13 Menschen starben, darunter Köhler selbst, und 211 Besucher verletzt wurden, war der Anschlag kein Produkt einer Braune Armee Fraktion. Köhler habe, sagten die Sicherheitsbehörden, alleine gehandelt. Auch bei anderen rechtsextremen Attentaten, als etwa 1980 weitere sechs Menschen starben, gab es auf eine BAF keine Hinweise.

Die Terrorwelle zu Beginn der achtziger Jahre ist nicht mit dem Untergrundkampf der technisch versierten RAF vergleichbar. Zu Geiselnahmen nach dem Muster der Entführung von Hanns-Martin Schleyer waren (und sind) rechte Terroristen nicht in der Lage. Außerdem konnte sich keine braune Terrorgruppe und erst recht kein Einzeltäter nur annähernd so lange halten wie die Rote Armee Fraktion. Glücklicherweise gelang es auch bis heute keinem deutschen Neonazi, so verheerend zu bomben wie der Amerikaner Timothy McVeigh. Der rechtsextreme Golfkriegs-Veteran sprengte am 19. April 1995 in Oklahoma City ein Bürogebäude in die Luft. 168 Menschen kamen ums Leben. Diese Perfektion des "leaderless resistance", die schon Al-Qaida-Dimensionen annimmt, bleibt in Deutschland unerreicht.

Vergleiche mit Timothy McVeigh, Al Qaida oder der RAF sind denn auch nur bedingt hilfreich, wenn das Ausmaß des hausgemachten rechten Terrors verstanden werden soll. Einzeltäter und Kleingruppen heben sich "nur" aus einer Szene heraus, die mit permanenter Straßengewalt ganze Regionen terrorisiert. Vor allem in Ostdeutschland, aber auch mit nicht zu unterschätzender Intensität im Westen, wie gerade das Beispiel der Münchner Neonazis zeigt. Im Januar 2001 fielen am Rande einer Geburtstagsparty, die der nun ebenfalls wegen Terrorverdachts inhaftierte Martin W. veranstaltete, Skinheads über einen griechischen Passanten her und schlugen ihn halb tot. Eine Gruppe Türken rettete den Mann und wurde dann von den Neonazis attackiert. Der Haupttäter konnte vor der Polizei flüchten und verschwand über das Sauerland in die Niederlande, wo er nach dreiwöchiger Fahndung in Rotterdam festgenommen wurde.

Wer das nahezu singuläre Phänomen der Münchner Terrorverdächtigen zu einer Braunen Armee Fraktion hochredet, verharmlost die wahre Gefahr - den Dauerterror der rechten Straßengewalt. Seit 1990 haben Rechtsextremisten und andere Rassisten in der Bundesrepublik mindestens 99 Menschen getötet - Migranten, Obdachlose, Linke, Punks, Aussiedler, Homosexuelle, Behinderte und auch "normale" Bürger. Sie wurden verbrannt, erstochen, erschlagen, ertränkt. Die Zahl der Opfer, die verletzt überlebten und bis an ihr Lebensende leiden, ist noch weit höher.

Über diesen Skandal spricht kaum jemand. Auch die Ursachen der Gewalt werden meist ignoriert oder geleugnet. Wenn Bundestagspräsident Wolfgang Thierse als einsamer Mahner klagt, der Rechtsextremismus entstamme der Mitte der Gesellschaft, reagieren vor allem Konservative mit Kritik. Dabei sind die Fakten bekannt. Man müsste sie nur zur Kenntnis nehmen.

Mehr als 55 Prozent der Deutschen meinen, es gebe zu viele Ausländer im Land. 16,6 Prozent halten den Juden vor, sie seien "durch ihr Verhalten an ihren Verfolgungen mitschuldig". 21,7 Prozent sagen, Juden hätten zu viel Einfluss in Deutschland. Und jeder Dritte findet es "ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen". Dies sind einige Resultate einer Studie mit dem Titel "Deutsche Zustände", der eine repräsentativen Befragung von 3000 Personen zu Grunde liegt.

Was der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer und sein Team vor anderthalb Jahren zu hören bekamen, ist erschreckend. Inzwischen liegt die Studie als Buch vor, doch Reaktionen gibt es kaum. In welchem Maße in der Bundesrepublik die Menschenverachtung zu Tage tritt und rechtsextreme Gewalt befördert, ist jedoch nur selten ein öffentliches Thema.

Der braune Straßenterror wird immer noch meist als pubertäres Austoben betrunkener Glatzköpfe verniedlicht. Dass die Schläger, Friedhofsschänder und Schmierer oft als Vollstrecker "normaler" Ressentiments agieren, bleibt in der Regel ausgeblendet. So erreicht denn auch die staatliche Repression kaum mehr als ein makaberes Patt. Rechte Gewalttäter werden festgenommen, eingesperrt und verurteilt, doch die nächsten wachsen nach - und prügeln manchmal sogar noch brutaler. Wie sich derzeit vor allem in Brandenburg zeigt, wo seit Juni 2002 drei Menschen von jungen Rechtsextremisten zu Tode gefoltert wurden.

Der Straßenterror kann nur eingedämmt werden, wenn sich Demokraten jeder Couleur gemeinsam über dessen Ursachen klar werden und dann dauerhaften Widerstand gegen den Hass auf alles Fremde mobilisieren. Das ist ein durchaus langer Prozess, der über die publikumswirksame Reaktion à la Beckstein auf dramatische Einzeltaten hinausgehen muss. Dazu gehört, dass sich alle Demokraten mit der nötigen Schärfe von Rechtsextremisten abgrenzen, die ihre Menschenverachtung "seriös" und "intellektuell" präsentieren. Doch gerade Konservative, vereinzelt auch Liberale und Sozialdemokraten, lassen sich beispielsweise mit dem rechtsradikalen Wochenblatt "Junge Freiheit" ein und gewähren Interviews. Obwohl die Verfassungsschutzämter des Bundes, Nordrhein-Westfalens und auch des von CDU und FDP regierten Landes Baden-Württemberg seit Jahren vor dem Propagandaorgan der "neuen Rechten" warnen. So werden manche Demokraten, aus Naivität oder lustvoll provokativ, selbst ein Teil des Problems.

In welchem Ausmaß, ist gerade in diesen Wochen zu beobachten. Die "Junge Freiheit" hetzt gegen eine öffentliche Tagung, die der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz im Oktober dem vorsichtig formulierten Thema widmet: "Die neue Rechte - eine Gefahr für unsere Demokratie?" Inzwischen dreschen auch CDU-Bundestagsabgeordnete auf den Verfassungsschutz in Düsseldorf ein - und die Schill-Partei und das Zentralorgan der CSU, der "Bayernkurier". Der Hauptvorwurf lautet, Referenten der Tagung und sogar der veranstaltende Mitarbeiter des Verfassungsschutzes bewegten sich in linksextremen Gefilden. Die "Beweise" sind dünn: Referenten wie die Professoren Christoph Butterwege und Wolfgang Gessenharter, weithin anerkannte Rechtsextremismus-Experten, hätten in linken Blättern publiziert. Ob sich die CDU-Bundestagsabgeordneten und der "Bayernkurier" auch aufregen würden, wenn die Verfassungsschützer und "linken" Professoren nur über ordinäre Skinhead-Gewalt sprächen?

Ein beachtlicher Teil der Demokraten weigert sich, den Rechtsextremismus als ein internes Problem der Gesellschaft wahrzunehmen, obwohl der Hass und die Androhung von Gewalt, wie der Münchner Fall zeigt, selbst vor dem Bundespräsidenten nicht Halt machen. Stattdessen gibt es das Beckstein-Syndrom: Der Rechtsextremismus wird als eigentlich unpolitisches Randproblem mit trunksüchtigen Skinheads bagatellisiert - oder im Einzelfall zu einer spektakulären Terrorkulisse aufgebauscht. Doch weder der dumpfe Glatzkopf noch das alarmistische Szenario einer Braune Armee Fraktion entsprechen der realen Gefahr. Dass sie nach dem Schock von München endlich erkannt wird, ist nicht zu erwarten. Die Gewöhnung an den "normalen" Rassismus und die tägliche Gewalt kehrt bereits zurück. Der Schrecken war für einen neuen Aufstand der Anständigen doch zu gering. Diese Episode der Geschichte wiederholt sich nicht. Für die andauernde Ignoranz büßen weiter die Opfer rechter Gewalt. Traktiert mit Fäusten, Stiefeln, Keulen, Messern, Brandflaschen - und manchmal auch Sprengstoff.

tagesspiegel
Tagesspiegel vom 21.09.2003

kt / hagalil.com / 2003-09-23

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