Geschichte wiederholt sich nicht? Von wegen. Nach dem Fund
von Sprengstoff bei Münchner Neonazis reden Politiker von einem Schock und
stellen fest, die rechte Szene sei wohl unterschätzt worden. So ähnlich klang es
auch im Sommer 2000, nachdem bei einem mysteriösen Anschlag auf dem Düsseldorfer
S-Bahnhof Wehrhahn zehn Aussiedler, unter ihnen mehrere Juden, zum Teil schwere
Verletzungen erlitten hatten. Damals rauschte eine Welle der Empörung durch die
Republik. Vorneweg ein Mann, der auch jetzt wieder wuchtig auftritt: Günther
Beckstein, Innenminister des Freistaats Bayern und Law-and-Order-Ikone der CSU.
Im Sommer 2000 forderte Beckstein, die NPD müsse verboten werden. Heute
behauptet der Minister, Deutschland werde von einer "Braunen Armee Fraktion"
bedroht. So wie einst antworten viele Sicherheitsexperten auch jetzt: Beckstein
irrt. Was die Fachleute nicht offen sagen, um Ärger zu vermeiden: Beckstein ist
die Gallionsfigur einer verzerrten Wahrnehmung der eigentlichen Gefahr - des
mitten in der Gesellschaft nistenden Rechtsextremismus, der den alltägliche
Straßenterror stimuliert.
Diese Gefahr wird von Beckstein, aber auch anderen Politikern
bis hin zum Bundeskanzler, auf grelle Phänomene reduziert. Die NPD schien ein
ideales Objekt zu sein. Bis das Bundesverfassungsgericht vor einem halben Jahr
den Verbotsantrag beerdigte. Eine gewaltige Blamage - für Beckstein, Schily,
Schröder und viele andere, die ein NPD-Verbot als Erfolg des "Aufstands der
Anständigen" verkaufen wollten. Der Versuch, mit populistischem Aktionismus den
Rechtsextremismus zu erledigen, war gescheitert. Jetzt prescht Beckstein wieder
vor und präsentiert das Phänomen der Braunen Armee Fraktion. Der
Bundesinnenminister hingegen ist vorsichtiger als vor drei Jahren und
widerspricht dem bayerischen Amtskollegen. Doch Becksteins Worte finden in den
Medien große Resonanz. Obwohl schon eine kurze technische Analyse zeigt: Eine
der RAF vergleichbare BAF ist nicht in Sicht.
Die Terroristen der Roten Armee Fraktion kämpften aus dem
Untergrund heraus. Die Münchner Neonazis waren nicht abgetaucht, sie haben sich
auch nicht sonderlich um Konspiration bemüht. Die "Kameradschaft Süd" um den
jetzt inhaftierten Anführer Martin W. war im August im oberfränkischen Wunsiedel
unübersehbar beim Marsch zum "Gedenken" an Rudolf Heß dabei. Und ausgerechnet
der Neonazi, der den Sprengstoff aufbewahrte, verprügelte in der Öffentlichkeit
einen Szene-Aussteiger - woraufhin die Polizei, wie sich jeder Schläger an
seinen zwei Fäusten abzählen kann, die Wohnung des Täters durchsuchte. So
unprofessionell hat sich die RAF nie verhalten.
Es mangelt der rechten Szene an der nötigen Disziplin und
Intelligenz, um dem verhassten "System" einen bewaffneten Kampf aufzuzwingen.
Fanatismus und mentale Verwahrlosung taugen meist nur zu Straßengewalt. Das ist
übel genug und für die potenziellen Opfergruppen lebensgefährlich. Doch der
Masse der Neonazis und Skinheads gelingt es nicht, vom Straßenterror auf
professionellen Terrorismus umzuschalten, auch wenn auf den rechten Hass-CDs
solche Fantasien herausgebrüllt werden.
Die Terrorgefahr geht "nur" von Einzeltätern und lokalen,
fanatisierten Kleingruppen aus - die sich dem Prinzip des "leaderless
resistance" nähern, dem Terrorismus der ohne Befehle und Hierarchien handelnden
Attentäter, den der amerikanische Rechtsextremist Louis Beam propagiert.
Herausragende Figuren sind im wiedervereinigten Deutschland der Berliner Neonazi
Kay Diesner, der 1997 mit seiner halbautomatischen Waffe in Berlin-Marzahn einen
PDS-Buchhändler niederschoss und dann auf der Flucht einen Polizisten ermordete.
Und die drei Thüringer Neonazis, die in einer Garage in Jena Rohrbomben bauten
und sich 1998 absetzten - bis heute sind sie nicht gefasst. Dies ist eines der
seltenen Beispiele für eine gelungene Flucht namentlich bekannter
Rechtsextremisten. Ein Beispiel für Kleingruppenterror ist auch die mysteriöse
"Nationale Bewegung", die sich in der Region Potsdam von Drohgebärden und
NS-Propaganda zu Brandanschlägen steigerte - auf türkische Imbisse und zuletzt,
im Januar 2001, gegen die Trauerhalle des jüdischen Friedhofs in Potsdam. Wobei
noch unklar ist, ob der Brandenburger Verfassungsschutz über einen V-Mann bei
der "Nationalen Bewegung" mitgemischt haben könnte. Ein rechtsextremer Spitzel
verriet jedenfalls im Februar 2001 einem Neonazi eine geplante Razzia, von der
sich die Polizei einige Hinweise auf Mitglieder der "Nationalen Bewegung"
erhoffte.
Diese V-Mann-Affäre und natürlich das Spitzel-Desaster im
NPD-Verbotsverfahren sind weitere Argumente gegen die Behauptung, in der rechten
Szene entstehe eine Braune Armee Fraktion. Kein Extremistenmilieu ist so üppig
mit V-Leuten gespickt wie das braune. Im NPD-Verbotsverfahren sagten die
Innenminister, in den Vorständen der Partei habe der Anteil der Spitzel immer
"unter 15 Prozent" gelegen. Auch wenn sie anders gemeint war, verdeutlicht diese
Zahl, in welchem Maße die rechte Szene vom Verfassungsschutz durchdrungen ist.
Der ungestörte Aufbau bundesweiter Untergrundstrukturen nach dem Modell der
Roten Armee Fraktion erscheint da wenig wahrscheinlich. Vielmehr zwingt sich die
Frage auf, ob eine offen agierende und als schlagwütig aufgefallene Gruppe wie
die Münchner "Kameradschaft Süd" nicht längst von Bayerns Verfassungsschutz
infiltriert worden war. Dazu äußert sich Beckstein verständlicherweise nicht. So
bleiben Zweifel: Hat der Verfassungsschutz die Gruppe unterschätzt und
fahrlässig hingenommen, dass die Anschlagsgefahr zunahm - oder machte etwa ein
V-Mann bei den Plänen mit?
Wie auch immer: Mehr als Feierabend-Terrorismus nach dem
Modell der linksextremen "Revolutionären Zellen" und Desperado-Auftritte sind
der rechten Szene nicht zuzutrauen. Das zeigt auch die Nachkriegsgeschichte,
sogar der schlimmste rechtsextreme Anschlag seit 1945. Am 26. September 1980
zündete der Neonazi Gundolf Köhler, ehemals Sympathisant der berüchtigten
"Wehrsportgruppe Hoffmann", eine Bombe auf dem Münchner Oktoberfest. Obwohl 13
Menschen starben, darunter Köhler selbst, und 211 Besucher verletzt wurden, war
der Anschlag kein Produkt einer Braune Armee Fraktion. Köhler habe, sagten die
Sicherheitsbehörden, alleine gehandelt. Auch bei anderen rechtsextremen
Attentaten, als etwa 1980 weitere sechs Menschen starben, gab es auf eine BAF
keine Hinweise.
Die Terrorwelle zu Beginn der achtziger Jahre ist nicht mit
dem Untergrundkampf der technisch versierten RAF vergleichbar. Zu Geiselnahmen
nach dem Muster der Entführung von Hanns-Martin Schleyer waren (und sind) rechte
Terroristen nicht in der Lage. Außerdem konnte sich keine braune Terrorgruppe
und erst recht kein Einzeltäter nur annähernd so lange halten wie die Rote Armee
Fraktion. Glücklicherweise gelang es auch bis heute keinem deutschen Neonazi, so
verheerend zu bomben wie der Amerikaner Timothy McVeigh. Der rechtsextreme
Golfkriegs-Veteran sprengte am 19. April 1995 in Oklahoma City ein Bürogebäude
in die Luft. 168 Menschen kamen ums Leben. Diese Perfektion des "leaderless
resistance", die schon Al-Qaida-Dimensionen annimmt, bleibt in Deutschland
unerreicht.
Vergleiche mit Timothy McVeigh, Al Qaida oder der RAF sind
denn auch nur bedingt hilfreich, wenn das Ausmaß des hausgemachten rechten
Terrors verstanden werden soll. Einzeltäter und Kleingruppen heben sich "nur"
aus einer Szene heraus, die mit permanenter Straßengewalt ganze Regionen
terrorisiert. Vor allem in Ostdeutschland, aber auch mit nicht zu
unterschätzender Intensität im Westen, wie gerade das Beispiel der Münchner
Neonazis zeigt. Im Januar 2001 fielen am Rande einer Geburtstagsparty, die der
nun ebenfalls wegen Terrorverdachts inhaftierte Martin W. veranstaltete,
Skinheads über einen griechischen Passanten her und schlugen ihn halb tot. Eine
Gruppe Türken rettete den Mann und wurde dann von den Neonazis attackiert. Der
Haupttäter konnte vor der Polizei flüchten und verschwand über das Sauerland in
die Niederlande, wo er nach dreiwöchiger Fahndung in Rotterdam festgenommen
wurde.
Wer das nahezu singuläre Phänomen der Münchner
Terrorverdächtigen zu einer Braunen Armee Fraktion hochredet, verharmlost die
wahre Gefahr - den Dauerterror der rechten Straßengewalt. Seit 1990 haben
Rechtsextremisten und andere Rassisten in der Bundesrepublik mindestens 99
Menschen getötet - Migranten, Obdachlose, Linke, Punks, Aussiedler,
Homosexuelle, Behinderte und auch "normale" Bürger. Sie wurden verbrannt,
erstochen, erschlagen, ertränkt. Die Zahl der Opfer, die verletzt überlebten und
bis an ihr Lebensende leiden, ist noch weit höher.
Über diesen Skandal spricht kaum jemand. Auch die Ursachen
der Gewalt werden meist ignoriert oder geleugnet. Wenn Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse als einsamer Mahner klagt, der Rechtsextremismus entstamme der
Mitte der Gesellschaft, reagieren vor allem Konservative mit Kritik. Dabei sind
die Fakten bekannt. Man müsste sie nur zur Kenntnis nehmen.
Mehr als 55 Prozent der Deutschen meinen, es gebe zu viele
Ausländer im Land. 16,6 Prozent halten den Juden vor, sie seien "durch ihr
Verhalten an ihren Verfolgungen mitschuldig". 21,7 Prozent sagen, Juden hätten
zu viel Einfluss in Deutschland. Und jeder Dritte findet es "ekelhaft, wenn sich
Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen". Dies sind einige Resultate einer
Studie mit dem Titel "Deutsche Zustände", der eine repräsentativen Befragung von
3000 Personen zu Grunde liegt.
Was der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer und
sein Team vor anderthalb Jahren zu hören bekamen, ist erschreckend. Inzwischen
liegt die Studie als Buch vor, doch Reaktionen gibt es kaum. In welchem Maße in
der Bundesrepublik die Menschenverachtung zu Tage tritt und rechtsextreme Gewalt
befördert, ist jedoch nur selten ein öffentliches Thema.
Der braune Straßenterror wird immer noch meist als pubertäres
Austoben betrunkener Glatzköpfe verniedlicht. Dass die Schläger,
Friedhofsschänder und Schmierer oft als Vollstrecker "normaler" Ressentiments
agieren, bleibt in der Regel ausgeblendet. So erreicht denn auch die staatliche
Repression kaum mehr als ein makaberes Patt. Rechte Gewalttäter werden
festgenommen, eingesperrt und verurteilt, doch die nächsten wachsen nach - und
prügeln manchmal sogar noch brutaler. Wie sich derzeit vor allem in Brandenburg
zeigt, wo seit Juni 2002 drei Menschen von jungen Rechtsextremisten zu Tode
gefoltert wurden.
Der Straßenterror kann nur eingedämmt werden, wenn sich
Demokraten jeder Couleur gemeinsam über dessen Ursachen klar werden und dann
dauerhaften Widerstand gegen den Hass auf alles Fremde mobilisieren. Das ist ein
durchaus langer Prozess, der über die publikumswirksame Reaktion à la Beckstein
auf dramatische Einzeltaten hinausgehen muss. Dazu gehört, dass sich alle
Demokraten mit der nötigen Schärfe von Rechtsextremisten abgrenzen, die ihre
Menschenverachtung "seriös" und "intellektuell" präsentieren. Doch gerade
Konservative, vereinzelt auch Liberale und Sozialdemokraten, lassen sich
beispielsweise mit dem rechtsradikalen Wochenblatt "Junge Freiheit" ein und
gewähren Interviews. Obwohl die Verfassungsschutzämter des Bundes,
Nordrhein-Westfalens und auch des von CDU und FDP regierten Landes
Baden-Württemberg seit Jahren vor dem Propagandaorgan der "neuen Rechten"
warnen. So werden manche Demokraten, aus Naivität oder lustvoll provokativ,
selbst ein Teil des Problems.
In welchem Ausmaß, ist gerade in diesen Wochen zu beobachten.
Die "Junge Freiheit" hetzt gegen eine öffentliche Tagung, die der
nordrhein-westfälische Verfassungsschutz im Oktober dem vorsichtig formulierten
Thema widmet: "Die neue Rechte - eine Gefahr für unsere Demokratie?" Inzwischen
dreschen auch CDU-Bundestagsabgeordnete auf den Verfassungsschutz in Düsseldorf
ein - und die Schill-Partei und das Zentralorgan der CSU, der "Bayernkurier".
Der Hauptvorwurf lautet, Referenten der Tagung und sogar der veranstaltende
Mitarbeiter des Verfassungsschutzes bewegten sich in linksextremen Gefilden. Die
"Beweise" sind dünn: Referenten wie die Professoren Christoph Butterwege und
Wolfgang Gessenharter, weithin anerkannte Rechtsextremismus-Experten, hätten in
linken Blättern publiziert. Ob sich die CDU-Bundestagsabgeordneten und der
"Bayernkurier" auch aufregen würden, wenn die Verfassungsschützer und "linken"
Professoren nur über ordinäre Skinhead-Gewalt sprächen?
Ein beachtlicher Teil der Demokraten weigert sich, den
Rechtsextremismus als ein internes Problem der Gesellschaft wahrzunehmen, obwohl
der Hass und die Androhung von Gewalt, wie der Münchner Fall zeigt, selbst vor
dem Bundespräsidenten nicht Halt machen. Stattdessen gibt es das
Beckstein-Syndrom: Der Rechtsextremismus wird als eigentlich unpolitisches
Randproblem mit trunksüchtigen Skinheads bagatellisiert - oder im Einzelfall zu
einer spektakulären Terrorkulisse aufgebauscht. Doch weder der dumpfe Glatzkopf
noch das alarmistische Szenario einer Braune Armee Fraktion entsprechen der
realen Gefahr. Dass sie nach dem Schock von München endlich erkannt wird, ist
nicht zu erwarten. Die Gewöhnung an den "normalen" Rassismus und die tägliche
Gewalt kehrt bereits zurück. Der Schrecken war für einen neuen Aufstand der
Anständigen doch zu gering. Diese Episode der Geschichte wiederholt sich nicht.
Für die andauernde Ignoranz büßen weiter die Opfer rechter Gewalt. Traktiert mit
Fäusten, Stiefeln, Keulen, Messern, Brandflaschen - und manchmal auch
Sprengstoff.