Attac:
»Antisemitismus gibt’s nicht nur bei Attac«
Bei Attac tobt ein Antisemitismusstreit, und das nicht
erst, seit die AG »Globalisierung und Krieg« des Bündnisses vergangene Woche
einen Boykott der Waren aus den von Israel besetzten Gebieten in Palästina
forderte...
Peter Bierl im Gesprächm mit Astrid Kraus
Der Koordinierungskreis von Attac veröffentlichte bereits im
Dezember 2002 ein Papier mit dem Titel »Grenzen der Offenheit«. Darin wurde
wegen mehrerer Vorfälle gefordert, dass der Pluralismus Attacs dort enden müsse,
»wo Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus ins Spiel kommen«. (Jungle
World, 3/03)
Über den Streit bei Attac sprach Peter Bierl mit Astrid
Kraus. Die Kölnerin ist Mitglied des Koordinierungskreises von Attac
Deutschland.
Was ist aus der Erklärung des Koordinierungskreises vom
Dezember vergangenen Jahres geworden?
Es hat Debatten gegeben, vor allem eine Auseinandersetzung um
Begriffe wie Antisemitismus und Nationalismus, dazu heftige Schlachten in den
Mailinglisten; dort traten Mitglieder auf, die Israel als Unterdrücker- und
Besatzerstaat sehen. Auslöser war aber nicht das Papier, sondern eher das
Verhalten Einzelner oder von Gruppen, die sich selber nicht als Antisemiten
sehen, deren Äußerungen aber von einigen als antisemitisch kritisiert wurden.
Über das Papier selber ist nicht breit diskutiert worden, was ich
außerordentlich bedauerlich finde.
Über was wurde dann gestritten?
Es ging um die Forderung nach einem freien
Selbstbestimmungsrecht der Völker, insbesondere der Palästinenser, um die Kritik
von Attac an den Finanzmärkten, die als strukturell antisemitisch
fehlinterpretiert werden kann, sowie um eine Kritik an Israel mit
antisemitischen Zügen. Es gab kürzlich einen Aufruf zum Boykott israelischer
Waren und einen Aufruf zu einem Tag zum Gedenken an die Besatzung im Irak und in
Palästina, die, weil sie auf der Attac-Homepage standen, heftige Gegenreaktionen
auslösten.
Wer bei Attac vertritt solche Positionen?
Da gibt es verschiedene Gruppen, vor allem aber ist es das
Spektrum um Linksruck. Mangelndes Bewusstsein für Forderungen, die
Antisemitismus befördern, ist aber bei vielen Attac-SympathisantInnen
verbreitet.
Warum ist aus dem Diskussionspapier »Grenzen der Offenheit«
keine Attac-Erklärung geworden?
Sehr viele Mitglieder des Koordinierungskreises stehen
inhaltlich hinter dem Papier. Aber in einem pluralistischen Bündnis ist es
schwierig, das als Erklärung von Attac herauszugeben. Der Koordinierungskreis
kann keine Attac-Positionen festschreiben. Ich halte es auch nicht für möglich,
in dieser Frage zu einem Konsens zu kommen. Durch viel Aufklärung und Diskussion
können hoffentlich Menschen zum Nachdenken gebracht werden, antisemitische
Denkstrukturen werden aber wohl nicht auszurotten sein.
Was hat der Koordinierungskreis bisher unternommen, um die
Debatte zu fördern?
Relativ wenig. Es ist eher das Anliegen Einzelner, die
Diskussion um Antisemitismus und Nationalismus öffentlich zu führen und
antisemitische und nationalistische Denkstrukturen immer wieder anzuprangern.
Attac hat im Januar eine Friedenstour quer durch die Republik
veranstaltet. (Jungle World, 7/03) Die Referenten stellten Israel als
Schurkenstaat dar und die Massaker von Sabra und Shatila wurden mit den
NS-Verbrechen im Warschauer Ghetto gleichgesetzt. Warum hat der
Koordinierungskreis dazu geschwiegen?
Die Friedenstour wurde von einer Arbeitsgruppe initiiert.
Solche Arbeitsgruppen agieren im Rahmen von Attac selbstständig. Bei Attac gibt
es keinen Konsens, dass diese Kritik antisemitisch ist, strukturelle Maßnahmen
waren also nicht möglich. Es gab aber durchaus Widerspruch aus dem
Koordinierungskreis, aber keine geschlossene Stellungnahme. In Köln selbst, wo
dieser Vergleich mit dem Warschauer Ghetto gefallen ist, wurde die Veranstaltung
fast abgebrochen.
Es gab Protest von einigen Besuchern, aber die Mehrheit von
Attac Köln wollte sich nicht von den Äußerungen distanzieren.
Es ist abgelehnt worden, die Aussagen zumindest als
Verharmlosung des Holocaust zu verurteilen, was ich sehr bedauere. Wir haben
hinterher eine Arbeitsgruppe zu Antisemitismus eingerichtet, um das Thema
umfassend aufzuarbeiten. Aber die Leute, die gegen eine Distanzierung waren,
sind nicht dabei. Da fehlt der Wille zur Erkenntnis.
In Frankfurt/Main hat Attac gemeinsam mit einer rechten
Gruppe gegen die Übergabe der U-Bahn an eine US-Firma agitiert.
Das Problem ist, dass wir ein Netzwerk sind und einzelne
Gruppen selbstständig agieren; der Koordinierungskreis kann organisatorisch
nicht eingreifen. Die Zusammenarbeit in Frankfurt mit dem rechten Bürgerbündnis
für Frankfurt (BFF) ist nur von zwei Leuten von Attac und ein paar Mitläufern
aktiv betrieben worden. Die konkrete Haltung zu schädlichen Projekten darf aber
nicht dazu führen, dass man den Teufel mit dem Beelzebub austreibt.
Erschreckend ist auch, dass manche Attac-Leute die
nationalistischen Positionen des BFF noch beschönigten. Attac Frankfurt hat Ende
August den Beschluss gefasst, dass diese rechte Gruppierung aus dem Bündnis
ausgeschlossen werden sollte. Das BFF ist dem zuvorgekommen und selber
ausgetreten.
Einige Leute aus der Kölner Minderheit haben nach dem Streit
um die Friedenstour geschrieben, dass »antisemitisch kompatible Klischees bei
erschreckend vielen Mitgliedern und Sympathisanten von Attac unwidersprochen
bleiben und verharmlost werden«.
Ja, das sehe ich auch so. Es sind strukturelle Denkmuster,
die im Konkreten zu Antisemitismus führen. Es gibt eine Dämonisierung von Juden,
die zu der Vorstellung der jüdischen Weltverschwörung führt. Im Kontext mit
Israel und Palästina heißt es, Juden seien nicht bloß Opfer, sondern auch Täter,
und es gibt das Gerede vom vagabundierenden Finanzkapital. Das sind chiffrierte
Antisemitismen, die auf unbewusster Ebene existieren, nicht bloß bei
Attac-Leuten, sondern überall. Aber die Leute sehen sich selber nicht als
Antisemiten, und man sollte sie auch nicht von vornherein als solche abstempeln,
nur weil sie solche Chiffren im Kopf haben.
Die Gruppe Linksruck feiert die antisemitische Terrortruppe
Hamas als Befreiungsorganisation, andere Gruppen bei Attac vertreten die Lehren
des Sozialdarwinisten Silvio Gesell, wonach der Zins die Wurzel allen Übels sei.
Wo sind die Grenzen der Offenheit? Müsste man nicht manche Gruppen ausschließen?
Momentan ist das nicht möglich. Die Diskussion ist noch nicht
so weit fortgeschritten, als dass man sich im Attac-Spektrum einig wäre. Es
besteht kein ausgereifter Begriff vom Antisemitismus als Maßstab für
organisatorische Konsequenzen. Ich bezweifle auch, dass hier eine Einigung
überhaupt möglich sein wird.
Ich würde es begrüßen, wenn das heiße Eisen angegangen wird,
auch wenn es unschöne Reaktionen geben wird.
Das bedeutet auch den Ausschluss bestimmter Gruppen?
Ja, aber das ist schwer, wenn nicht unmöglich, weil man dafür
eine Mehrheit braucht. Bei bestimmten Themen, wie etwa dem Krieg, sind
Mehrheiten leicht herzustellen, aber nicht bei einem emotional so hoch
belasteten Thema, wo Leute schon Angst haben, sich zu äußern, weil sie nicht als
Antisemiten hingestellt werden wollen. Antisemitismus ist ein Thema, mit dem
sich besonders die Deutschen nur ungern beschäftigen, egal aus welchem Spektrum
sie kommen.
Jungle World
Jungle World Nummer 39 vom 17.09.2003
kt /
hagalil.com
/ 2003-09-18
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