In Jerusalem starben kürzlich einundzwanzig unschuldige
jüdische Menschen, darunter Kinder - allesamt keine Kombattanten - eines
grauenhaften Todes durch einen Bombenanschlag. Vor Wochen galten islamistische
Anschläge auch jüdischen Institutionen in Casablanca. Die neue argentinische
Regierung hat die Verstrickungen der damaligen iranischen Regierung auf jüdische
Einrichtungen in Buenos Aires offen gelegt. Ted Honderich, ein weltfremder
kanadischer Philosoph, hält derlei Mordtaten nicht etwa für soziologisch
erklärbar und verständlich, sondern ausdrücklich für "moralisch gerechtfertigt".
Diese Überlegung "antisemitisch" zu nennen, gilt als überzogen, und auch
jüdische Intellektuelle, die schon mal nervöser waren, raten heute zur
Gelassenheit. Schließlich, so Michal Bodemann in der taz, gebe es heute andere,
gefährlichere Formen von Rassismus.
Mit dieser Bemerkung mögen sie sogar Recht haben, denn der
Judenhass des radikalen Islamismus ist in der Tat nicht im darwinistischen Sinne
rassistisch. Vielleicht - ich bezweifle das - würde al-Qaida sogar zum Islam
konvertierte Juden in ihren Reihen dulden.
Geht es also nur um eine Frage der Terminologie? Darf also
nur wer aus dem Rassismus der Nazis heraus Juden hasst, schmähen, schädigen und
umbringen will, als "Antisemit" bezeichnet werden? Sollte das die Sorge sein,
schlage ich eine terminologische Änderung vor, die der Geschichte auch eher
entspricht. Sprechen wir also von Judenhass und seinen durchaus wandelbaren
Formen: von der "Judaeophobie" der paganen Antike, dem "Antijudaismus" der
christlichen Kirchen, vom "Antisemitismus" der Völkischen und Sozialdarwinisten
sowie vom "paranoiden, radikalislamistischen Antizionismus".
Diese Weltanschauung, die - wie der israelische Historiker
Yehuda Bauer zu Recht gezeigt hat - neben Nationalsozialismus und Stalinismus
als dritte große totalitäre Ideologie des letzten und dieses Jahrhunderts gelten
darf, verfügt weder über die staatliche noch über die militärische Macht, über
die Hitler und Stalin, Pol Pot oder Mao Tse-tung verfügten, wohl aber über ein
ähnlich geschlossenes, totalisierendes, manichäisches, antidemokratisches und
paranoides Weltbild sowie über eine ebenso starke destruktive Intention.
Matthias Küntzel hat in seinem noch zu wenig bekannten Buch
"Djihad und Judenhass" gezeigt, in welchem Ausmaß sich der radikale Islamismus
in Gestalt seiner gedanklichen Urheber, des Gründers der Muslimbrüder, Hassan
al-Banna, und Sayd Qutbs, dem judenfeindlichen Faschismus der Dreißigerjahre
verdankt - dem Umstand zum Trotz, dass sie als Muslime Darwins Evolutionstheorie
und demnach auch den Darwinismus verwarfen.
Mancher vermag vielleicht Schadenfreude darüber empfinden,
dass das israelische Besatzungsregime im Gaza-Streifen vor Jahr und Tag, um die
PLO zu schwächen, die Anfänge von Hamas gefördert hat. Dieser Umstand ändert
jedoch nichts daran, dass Hamas, als Wohlfahrtsinstitution vielen Palästinensern
behilflich, eine Organisation ist, die sich programmatisch einem
eliminatorischen Judenhass verschrieben hat und nicht nur einem Kampf gegen die
Besatzung. Die 1988 verfasste Charta von Hamas ist u. a. mit einem Ausspruch
Hassan al-Bannas überschrieben, der hier feststellt, dass "Israel aufstehen und
aufgerichtet bleiben wird, bis der Islam es ebenso eliminieren wird wie all
seine Vorläufer". Im Artikel 22 der Charta ist zu lesen, dass "sie" (d. h. Juden
und "Zionisten") hinter der Französischen und der kommunistischen Revolution
standen und geheime Organisationen wie die Freimaurer, die Rotarier, den Lions
Club und Bnai Brith gegründet haben. "Sie" hätten zudem Geld verwendet, um
imperialistische Staaten zu kontrollieren sowie um kolonisierte Länder
auszubeuten und zu korrumpieren. Sie standen hinter dem Ersten Weltkrieg und
haben das Kalifat ausgelöscht und die Balfour-Deklaration errungen, "um die Welt
mit den Mitteln ihrer Organisation" zu regieren." "Sie" hätten die Gründung der
UN und des Sicherheitsrates inspiriert und den Völkerbund ersetzt.
Hamas versteht sich schließlich als Teil der Muslimbrüder,
und auch führende Persönlichkeiten anderer radikalislamistischer Organisationen,
etwa einige Führer der algerischen Front Islamic du Salut, sehen sich diesem
Weltbild verpflichtet - von Bin Laden und seinem Kampf gegen Juden und
Kreuzfahrer gar nicht zu sprechen. Überreagiert also, wer die Unterstützung
dieses Gedankenguts durch einen akademischen Philosophen, der zudem den Boykott
israelischer Wissenschaftsinstitutionen ohne Ansehen ihrer politischen Meinung
fordert, folgewirksam bekämpfen möchte?
Was aber die Forderung betrifft, sich wesentlich
gefährlicheren Formen des Rassismus zuzuwenden, so beweist sie nur den
bornierten deutschen Blick. Ein Blick auf Frankreich könnte die Augen öffnen.
Dort verzeichnet die Statistik 1999 neun antisemitische Aktionen, im Jahr 2000
aber schon einhundertundsechzehn, bis Ende des Jahres 2001 waren es zweihundert.
Im Oktober 2000 wurden dort drei Synagogen angezündet, im November ein jüdischer
Kindergarten in Paris - glücklicherweise ohne Opfer. Im Februar 2001 explodierte
ein Brandsatz in einer jüdischen Schule in Sarcelles und so weiter und so
weiter. Im Jahr 2000 waren ein Drittel der Franzosen der Meinung, dass die Juden
zu viel Macht hätten, vorher glaubte das nur jeder Zehnte.
All das lässt sich gewiss auch durch eine verfehlte
französische Immigrationspolitik erklären. Aber warum trifft es dann die Juden?
Warum, so fragt der französische Menschenrechts- und Rassismustheoretiker Pierre
Andre Taguieff, der diese Zahlen gesammelt hat, werden diese Angriffe
radikalislamistischer Jugendlicher von vielen wohlmeinenden Linken eigentlich
nicht als "rassistisch" bezeichnet - obwohl sie doch pauschal Menschen gelten,
die mit dem Palästinakonflikt gar nichts zu tun haben, wohl aber Juden sind?
Im radikalislamistischen Terror äußert sich von Indonesien
über Marokko und Frankreich bis nach Israel ein mörderisches Weltbild, das davon
ausgeht, dass alle Juden Zionisten sind, alle Zionisten aber Imperialisten,
Kolonialisten und Rassisten - alle Juden mehr oder minder wie die Nazis sind.
Schließlich kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Anschlag auf das WTC ein
- mindestens auch - judenfeindlich motiviertes Verbrechen gewesen ist. Leider
hat die seitens der hiesigen Parteigänger von George W. Bush losgetretene
Debatte über "Antiamerikanismus" diesen spezifisch antisemitischen Kern des
radikalen Islamismus verdrängt.
Zu Bodemann und Seligmann lässt sich angesichts all dessen
nur noch vermerken, dass ihre demonstrative Gelassenheit einem doch sehr
deutschen Pfeifen im inzwischen globalen Wald gleichkommt.
Bisher erschienen Texte von Rafael Seligmann, Y. Michal
Bodemann und Werner Bergmann. Die Debatte wird fortgesetzt