"Wehr Dich!", mit dieser Maxime trat der 1893 gegründete Centralverein
deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens der antisemitischen Bewegung des
Kaiserreichs entgegen. Bereits ein Jahrzehnt zuvor waren im so genannten
"Berliner Antisemitismusstreit" Vertreter des jüdischen und liberalen
christlichen Bürgertums dem berühmten Historiker Heinrich von Treitschke
entgegengetreten, der in einem Aufsatz die Juden "unser Unglück" genannt hatte.
Der Kampf gegen den Antisemitismus verlief damals an zwei Fronten: Man
versuchte, was wenig aussichtsreich war, antijüdische Vorurteile argumentativ zu
widerlegen - und antisemitische Beleidiger vor Gericht zu ziehen. Doch anders
als heute gab es keine Antidiskriminierungsgesetze, die eine Strafverfolgung von
Staats wegen vorschrieben, und auch kaum ein Bewusstsein, dass
Minderheitenschutz die Aufgabe aller Bürger ist. Zudem waren judenfeindliche
Ansichten damals durchaus nichts Ehrenrühriges. Entsprechend schlecht standen
die Chancen, antisemitische Äußerungen zu skandalisieren.
Bereits damals hatte die Abwehrarbeit eine doppelte Funktion: Indem man sich
gegen die Anfeindungen zur Wehr setzte, schuf man innerhalb des Judentums eine
selbstbewusste deutsch-jüdische Identität. Abwehr ist immer auch eine Form der
Selbstbehauptung. Doch gleichzeitig hatte die Abwehrarbeit schon damals eine
zwiespältige Wirkung. Denn sie bediente ein zentrales antisemitisches Stereotyp
- das von der "Macht der Juden". Bereits Treitschke beklagte, Kritiker würden
von der "jüdischen Presse" als "Barbaren und Religionsverfolger" gebrandmarkt.
In privaten Briefen wurde er gelobt, endlich Dinge über die Juden ausgesprochen
zu haben, die man sich selbst nicht zu sagen getraut hatte.
Dies ist ein bis heute fortdauerndes Dilemma des Anti-Antisemitismus. Wer
antisemitische Einstellungen ins Latente abdrängt, indem er ihre öffentliche
Äußerung riskant macht, bestärkt das Stereotyp vom großen jüdischen Einfluss.
Aus diesem Zwiespalt kommt der Anti-Antisemitismus nicht heraus.
Nach dem Holocaust stellte sich die Situation anders dar. Antisemitismus war
nach 1945 politisch geächtet, der Umgang mit den Juden galt den Alliierten
geradezu als "Prüfstein der Demokratie". Die deutsche Politik stand damals vor
einem unlösbaren Problem: Umfragen zeigten, dass Antisemitismus hartnäckig
weiterexistierte - doch der Welt musste demonstriert werden, dass die Deutschen
ihre NS-Vergangenheit überwunden hätten. Bundeskanzler Adenauer versuchte das
Problem zu lösen, indem er sogar die Existenz des aus der Öffentlichkeit
verbannten Antisemitismus bestritt. 1951 bescheinigte er der Mehrheit der
Deutschen, sie würden Antisemitismus ablehnen, und drohte dem unbelehrten Rest
mit unnachsichtiger Strafverfolgung. Die Abdrängung des Antisemitismus aus der
öffentlichen Kommunikation war für die junge Republik eine Notwendigkeit.
Doch die Kommunikationslatenz wurde (und wird) immer wieder durchbrochen. Und
dieser Bruch der Norm des Anti-Antisemitismus kann zum Skandal gemacht werden.
Dies ist relativ leicht und für den Skandalisierer auch meist ohne Risiko
möglich, da Antisemitismus seit 1945 als Symbol für das moralisch Böse gilt. Die
Geschichte der Bundesrepublik ist denn auch durchzogen von Skandalen, angefangen
vom Fall des Bundestagsabgeordneten Hedler 1949 bis zum kürzlich erhobenen
Vorwurf des "antisemitischen Antizionismus" gegen Ted Honderich.
Auch wenn sich die Theoretiker nicht einig sind, ob man aus Skandalen lernen
kann, glaube ich, dass die Bekräftigung der Norm, Antisemitismus öffentlich
nicht zu dulden, zu einem Lernprozess geführt hat. Vor allem die Tradierung
antisemitischer Überzeugungen und Stereotype ist so erschwert worden.
Doch Skandalisierung hat stets Nebenwirkungen. In Deutschland wird im Vorwurf
des Antisemitismus immer auch der Weg nach Auschwitz mitgedacht. So trifft die
Skandalisierung über die skandalisierte Person hinaus das Kollektiv und seine
Vergangenheit. Der Skandalisierer läuft damit Gefahr, als unliebsamer
Nestbeschmutzer dazustehen ("Was wird das Ausland sagen?"). Diese "Nebenwirkung"
fällt stärker aus, wenn die Skandalisierung von jüdischer Seite ausgeht. In den
50er-, 60er- und 70er-Jahren deckten meist Zeitungen solche Affären auf. Seit
den 80ern tun dies auch verstärkt jüdische Intellektuelle und Organisationen -
man denke an Bitburg, den Streit um Fassbinder oder zwischen Möllemann und
Friedman. Diese erhöhte Bereitschaft zur Einmischung drückt auch ein gewachsenes
Selbstbewusstsein der deutschen Juden aus, sie ist auch Teil von
Identitätspolitik.
In dieser Konstellation können Konflikte "kollektiviert" werden, ein Effekt,
den man in der Waldheim-Affäre beobachten konnte, wo in Österreich die Reihen
gegen die Einmischung von außen geschlossen wurden. Der Konflikt scheint entlang
von Gruppengrenzen zu verlaufen und der Skandalisierer wird eher als Vertreter
von Gruppeninteressen denn als Wahrer einer ja im Grunde gemeinsam geteilten
Norm wahrgenommen.
Speziell ist der Fall, wenn Israel ins Spiel kommt. Der Antisemitismusvorwurf
wird - etwa wenn er vom israelischen Außenminister an die EU gerichtet wird -
eher als Instrument zur Abwehr von Kritik wahrgenommen. Die Vorwürfe von Seiten
jüdischer Organisationen etwa gegen eine antisemitisch verzerrte mediale
Berichterstattung dringen kaum durch, da diese als Interessenpolitik
(ab-)gewertet werden. Wer hier mit dem Vorwurf des Antisemitismus dennoch
versucht, hier die allgemeine Norm des Anti-Antisemitismus zur Geltung zu
bringen, riskiert Widerspruch.
Auch als "panische Philosemiten" (so Michal Bodemann in der taz) im Zuge des
Ermittlungsverfahrens gegen Friedman den Ermittlungsbehörden voreilig
antisemitische Motive unterstellten, ließ sich damit kein Skandal machen. Im
Gegenteil - solche Interventionen werden eher als Verletzung von Regeln der
öffentlichen und rechtlichen Gleichbehandlung gesehen. Im "Fall Friedman" wird
noch ein weiteres Risiko von Skandalisierungen sichtbar: Skandalisierung
bedeutet Moralisierung, also eine nach Gut und Böse unterscheidende
Kommunikation, die aber zugleich den Moralisierer verschärfter Beobachtung
aussetzt und auf ihn zurückschlagen kann - man denke an die Barschel-Affäre, die
schließlich Engholm einholte.
Vor einem allzu ausgeweiteten Gebrauch des Wortes Antisemitismus ist ebenso
zu warnen wie vor inflationärer Skandalisierung. Denn Skandale haben stets
Nebenwirkungen, und Inflation führt bekanntlich zur Entwertung. Andererseits
haben Skandale in der bundesdeutschen Geschichte geholfen, antisemitische
Einstellungen aus der Öffentlichkeit zu verbannen - und zu deren Rückgang
beigetragen. Dabei sollte die Arbeit der Kritik nicht allein den Juden
überlassen bleiben. Denn die Norm, Minderheiten nicht zu diskriminieren, ist die
Sache aller Bürger.