Gestritten wird nur noch um Kleinigkeiten. Bekommt Deutschland ein »Zentrum
gegen Vertreibungen« in der Hauptstadt? Oder wird es ein »Europäisches Zentrum
gegen Vertreibungen« geben, was besser klingt, aber nichts grundlegend anderes
bedeutet?
Die Debatte, die seit Mitte Juli die deutschen Medien beschäftigt, lenkt vom
eigentlichen Skandal ab: davon, dass ein solches Zentrum, in welcher Form auch
immer, vor allem dem deutschen Revanchismus nützt.
Die Idee für ein Zentrum gegen Vertreibungen stammt von den deutschen so
genannten Vertriebenen. Seit September 2000 macht sich eine Stiftung dafür
stark, die der Bund der Vertriebenen (BdV) ins Leben rief und die von der
BdV-Vorsitzenden Erika Steinbach und dem Sozialdemokraten Peter Glotz geleitet
wird. In Berlin solle das Zentrum gebaut werden, fordern sie, als Informations-,
Dokumentations- und Begegnungsstätte mit einer »Requiem-Rotunde«, wo man der
deutschen Umsiedlungsopfer gedenken könne. 400 deutsche Kommunen unterstützen
den Plan bisher.
Die politische Voraussetzung für das Projekt ist eine Neubewertung der
Geschichte. Die in der Folge des Zweiten Weltkriegs durchgeführte Umsiedlung der
Deutschen – die Vertreibung – soll als Unrecht gekennzeichnet werden.
Die Folgen wären fatal. Denn der Transfer der deutschen Bevölkerungsteile aus
den Gebieten östlich von Oder und Neiße, der im Potsdamer Abkommen im Jahr 1945
völkerrechtlich verbindlich festgelegt wurde, war eine Grundlage der Neuordnung
Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Gelänge es, die Umsiedlung der Deutschen zum
Unrecht zu erklären, dann fiele eine wichtige Stütze der europäischen
Nachkriegsordnung. Deutsche Ansprüche gegenüber den osteuropäischen Staaten
könnten auf dem Rechtsweg eingefordert werden.
Auf Unterstützung für das Zentrum durch die osteuropäischen Regierungen
hoffen die Initiatoren nicht. »Wenn Sie anfangen, darüber mit der polnischen,
tschechischen und sonstigen Regierungen zu verhandeln, dann ist das ein tot
geborenes Kind«, befürchtet Peter Glotz. Verbündete für sein Projekt sucht er
dennoch in ganz Europa. An einen armenischen Genozidforscher sowie eine Bürgerin
und zwei Bürger der Tschechischen Republik hat die Stiftung »Zentrum gegen
Vertreibungen« ihren Menschenrechtspreis vergeben; verschiedene europäische
»Volksgruppen« sollen von der Berliner Gedenkstätte mitprofitieren, etwa die
»vertriebenen Kosovo-Albaner«. Eine europäische Solidargemeinschaft von
völkischen Kollektiven, die tatsächlich vertrieben wurden oder dies von sich
behaupten, bastelt sich die Stiftung mit Hilfe der Gesellschaft für bedrohte
Völker zusammen.
Doch es gibt Konkurrenz. Seit dem Frühjahr 2002 trommelt Markus Meckel, einer
der führenden SPD-Außenpolitiker, für sein Alternativ-Projekt, ein »Europäisches
Zentrum gegen Vertreibungen«. Im Juli 2002 machte sich der Bundestag Meckels
Konzept zu Eigen, das sich im Kern keineswegs von dem Vorhaben des
Vertriebenenverbandes unterscheidet. »Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen sind
Unrecht«, meint auch Meckel.
Allerdings scheint seine Taktik geschickter zu sein. Er versucht, die
osteuropäischen Eliten systematisch an der Verwirklichung des deutschen
Revisionsprojektes zu beteiligen. Das Konzept von Steinbach und Glotz sei
»national«, erklärt er, und wecke daher das »Misstrauen der Nachbarn«. Meckel
will dagegen die konkrete Gestaltung des Zentrums einer internationalen
Kommission übertragen, die im Osten den Anschein erwecken soll, man dürfe in
Europa mitentscheiden. Aber das gilt freilich nur für die Details. Den
politischen Kern – die Verurteilung der Umsiedlung der Deutschen – hat Berlin im
Alleingang festgelegt.
Meckel geht sehr umsichtig vor. Um wirkungsvollen Protest zu verhindern, hat
er die wichtigsten EU-Beitrittsreferenden abgewartet, bevor er mit dem
entscheidenden Teil der Kampagne begann: »Um zu verhindern, dass die Probleme
des bevorstehenden EU-Beitritts in den betreffenden Ländern von dieser Frage
überfrachtet werden, war ein Jahr lang Ruhe.« In der Zwischenzeit hat er
Lobbyarbeit betrieben. Internationale Tagungen über das »Zentrum gegen
Vertreibungen« am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt und an der
Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder haben im Laufe des Jahres
den Eliten der betroffenen Staaten das deutsche Projekt näher gebracht.
Die Offensive begann am 14. Juli. Meckel präsentierte der Öffentlichkeit den
Aufruf »für ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen, Zwangsaussiedlungen
und Deportationen«, der inzwischen von über 90 Prominenten unterzeichnet worden
ist. Dabei sind nicht nur Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der ehemalige
Außenminister Hans-Dietrich Genscher und die Menschenrechtsbeauftragte der
Bundesregierung, Claudia Roth. Unterschrieben haben auch zahlreiche bekannte
Persönlichkeiten aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, darunter zwei
ehemalige polnische Außenminister, der stellvertretende tschechische
Ministerpräsident sowie der tschechische Senatspräsident mitsamt seinen
Stellvertretern.
Seitdem wird in Polen und Tschechien über das Vertreibungszentrum debattiert.
Der Erfolg gibt Meckel Recht. Der Widerstand, den die osteuropäischen Eliten
bislang gegen das Projekt der Vertriebenen geleistet hatten, wird schwächer. In
Wroclaw haben Teile des Establishments einen alten Vorschlag Meckels
aufgegriffen und wollen das Zentrum an die Odra holen; der tschechische
Senatspräsident plädiert für einen Standort in der Tschechischen Republik. Aus
Ungarn ist sowieso kein Widerstand zu erwarten. Aus der 1938 annektierten
Südslowakei wurden nach Kriegsende auch ungarische Staatsangehörige umgesiedelt,
die nun ebenfalls Revisionsansprüche erheben könnten.
Ganz alte Feindschaften leben plötzlich wieder auf. Wie sie der »Aussöhnung«
und dem »gegenseitigen Verständnis« in Europa dienen sollen, wie Meckel in
seinem Aufruf schwärmt, ist nicht ersichtlich.
Das scheint auch den Berliner Außenpolitikern bewusst zu sein. Eine ihrer
Mittlerorganisationen, das Deutsche Polen-Institut, befasste sich jedenfalls
kürzlich mit den »Lehren aus den nationalistischen Konflikten bei der Auflösung
der jugoslawischen Föderation«. Der think tank, der sich satzungsgemäß dem
deutsch-polnischen Dialog widmet, debattierte über Gewaltfragen »bei
nationalistischen (…) Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen von Völkern, die
lange Zeit friedlich nebeneinander lebten«.