Die deutsche Reue heißt ... Stalingrad. Kein Vergleichen, kein Verzeihen,
nichts wieder gutzumachen. Die Versöhnungsverweigerung des Philosophen Vladimir
Jankélévitch.« Diesen Titel sollte ein Vortrag des israelischen Soziologen Natan
Sznaider und des Publizisten Günther Jacob aus Hamburg für das Rahmenprogramm
der Wehrmachtsausstellung in Peenemünde tragen. Angesichts des restlichen
Programms zogen Sznaider und Jacob ihre Zusage jedoch zurück.
Das Programm sei selbst »Teil des von Jankélévitch befürchteten
Versöhnungstrends«, schrieben sie in der taz. In Peenemünde stünden »Vorträge
über den Holocaust neben Erinnerungen an Stalingrad und Referate über
Zwangsarbeit neben Gedenkveranstaltungen für Soldaten und Zivilisten, die bei
alliierten Luftangriffen ums Leben kamen«. Angesichts dieser Gleichsetzung von
Opfern und Tätern gebe es nichts zu diskutieren.
Tatsächlich ist das Opfer-Täter-Gedenken an einem Ort nazideutscher
Waffenproduktion der vorläufige Endpunkt einer Gedenkkultur, die vom Hamburger
Institut für Sozialforschung (HIS) in den vergangenen acht Jahren maßgeblich
gefördert und mitgestaltet wurde.
Geschichte der Wehrmachtsausstellung
Die 1995 vom HIS erstmals gezeigte Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen
der Wehrmacht 1941 bis 1944« entwickelte sich schnell zum Publikumsmagneten und
schien die deutsche Gesellschaft zunächst zu spalten. Immerhin wurden dort die
aktive Rolle der Wehrmacht im völkisch-antisemitischen Vernichtungskrieg gegen
die Sowjetunion und Jugoslawien dargestellt und auf unzähligen von der Roten
Armee und den Partisanen beschlagnahmten Schnappschüssen deutscher Landser die
»Taten des Jedermann«, wie der Leiter des HIS, Jan-Philipp Reemtsma, sie nannte,
dokumentiert und kommentiert.
Die Gestaltung der Ausstellungsfläche in Form eines eisernen Kreuzes konnte
als Verweis auf die Kontinuitäten von Wehrmacht und Bundeswehr interpretiert
werden. Damit bohrte die Ausstellung in einer nationalen Wunde, die rechte
Historiker in den achtziger Jahren vergeblich zu schließen versucht hatten, und
erinnerte zum Gram der Konservativen an eine »Vergangenheit, die nicht vergeht«,
wie der Historiker Ernst Nolte es formulierte.
Als die Ausstellung Anfang 1997 vom sozialdemokratischen Oberbürgermeister
Christian Ude ins Münchner Rathaus geholt wurde, erreichte die Polarisierung
ihren vorläufigen Höhepunkt. Der damalige Münchener CSU-Vorsitzende, Peter
Gauweiler, initiierte eine schwarz-braune Kampagne gegen den angeblichen
Versuch, »die Strafmaßnahmen von Nürnberg gegenüber Deutschland noch zu
verschärfen und einen moralischen Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk zu
führen«. So konnte man es im CSU-Organ Bayernkurier lesen. Schließlich
marschierten 5 000 Konservative und Nazis gegen die Wehrmachtsausstellung durch
München, denen 10 000 liberale und linke DemonstrantInnen entgegentraten.
Die Sorge der Rechten, dass die Darstellung der Verbrechen der deutschen
Volksgemeinschaft ein vernichtendes Urteil über die »deutsche Identität« nach
sich ziehen müsse, erwies sich jedoch als falsch. Am 13. März 1997, nur wenige
Wochen nach dem Eklat in München, fand im Deutschen Bundestag eine Debatte über
die Wehrmachtsausstellung statt, in deren Verlauf sich ein stilbildender
deutscher Familiendiskurs entwickelte, an dem sich alle beteiligen konnten.
Die Feststellung Otto Schilys, sein jüdischer Schwiegervater, der als
sowjetischer Partisan gegen die Deutschen gekämpft hatte, sei das einzige
Familienmitglied gewesen, das »für eine gerechte Sache sein Leben eingesetzt
hat«, wurde von den anderen Abgeordneten als Aufforderung verstanden, von ihrer
eigenen Nazivergangenheit oder der ihrer Väter zu erzählen. Die grüne Katholikin
Christa Nickels wollte den Vorwurf der Nestbeschmutzung nicht auf sich sitzen
lassen, nur weil sie dem Auditorium eröffnet hatte, dass »Papa« bei der SS war.
Denn ebenso schlimm wie das, »was in Majdanek passiert war«, sei gewesen, »was
man mit Männern, zu denen auch mein Vater gehört hat, gemacht hat.«
Im Tausch gegen die Anerkennung der Tatsache, dass es so etwas wie
»Verbrechen der Wehrmacht« gegeben habe, sollten auch die Leiden der Täter
besprochen werden, »die ungeheuren Strapazen dieses Krieges, nicht nur die
physischen, auch die psychischen, etwa der Tod der Kameraden«, wie der
Ausstellungsleiter Hannes Heer schrieb.
Vor allem Heer akzeptierte die ihm zugewiesene Rolle als »Therapeut der
Republik« (taz) dankbar. Er und andere Mitarbeiter des HIS arbeiteten daran, die
einst von dem konservativen Historiker Michael Stürmer beklagte »Schwerhörigkeit
zwischen den Generationen« in der Frage des Nationalsozialismus in einen »Dialog
der Generationen« zu überführen. Der Preis für die Versöhnung in der deutschen
Familie war die Gleichsetzung von Tätern und Opfern als »Zeitzeugen«.
Wichtiger noch als diese nationale Sinnstiftung nach innen war der moralische
Mehrwert, den die vermeintlich rückhaltlose Auseinandersetzung mit der Rolle der
Wehrmacht im Nationalsozialismus nach außen abwerfen sollte. Der Herausgeber der
Zeit, Theo Sommer, schrieb 1997: »Je eindeutiger wir die Vergangenheit annehmen
und je offener wir darüber diskutieren, desto selbstverständlicher dürfen wir
ein halbes Jahrhundert nach Hitlers Krieg wieder aufrechten Ganges in der Reihe
der Völker auftreten. So betrachtet, können uns die Bilder der
Wehrmachtsausstellung frei machen.«
Der Versuch, diese Geschichtskonzeption zur Staatsräson zu erheben, konnte
jedoch unter einer konservativ-liberalen Bundesregierung nicht funktionieren,
der immer noch der Ruch der Verdrängung anhaftete. Schon in der
Bundestagsdebatte zur Wehrmachtsausstellung wurde deshalb der Vorwurf des
nationalen Verrats von links an die Nationalkonservativen zurückgegeben. Gerald
Häfner von den Grünen brachte das nationale Totalversagen der Rechten auf den
Punkt, als er die CSU attackierte, die die Nürnberger Prozesse als
»Siegerjustiz« bezeichnete, »während wir alle uns gegenwärtig um einen
internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien und Ruanda
einsetzen, damit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen das Völkerrecht, gegen
das Menschenrecht in Zukunft endlich abgeurteilt werden können«.
Rot-grüne Geschichtsreform
Hier kündigte sich an, dass auch auf geschichtspolitischer Ebene ein
gewaltiger »Reformstau« überwunden werden musste. Diese Aufgabe fiel 1998 der
neuen rot-grünen Bundesregierung zu, die die Legitimation der außenpolitischen
Machtentfaltung Deutschlands wegen Auschwitz einführte.
Der Publizist Wolfgang Pohrt schrieb anlässlich des so genannten
Historikerstreits 1987, dass »noch unverfrorener als die Verharmlosung der
Vergangenheit nur der Wille ist, aus einer nicht verharmlosten Vergangenheit
nationales Selbstbewußtsein zu schöpfen«. Die von den Rechten »weggefilterten
Schmutzpartikel aber waren ein notwendiges Ferment für das nationale
Sendungsbewusstsein, welches aus dem Mund jener linken und linksliberalen
Bundesdeutschen spricht, die Schuld mit Verantwortung verwechseln (...) und
deshalb gern von einer besonderen Verantwortung der Deutschen für Israel, für
die Palästinenser, für den Weltfrieden und etliche andere Dinge reden.«
Doch zunächst war es der deutsche Kriegseinsatz gegen Jugoslawien, der die
Neuorientierung deutscher Geschichtspolitik evident machte. Musste Helmut Kohl
Anfang der neunziger Jahre noch zähneknirschend feststellen, dass man die
Bundeswehr nicht ohne weiteres dorthin schicken könne, wo einst die Wehrmacht
gewütet hatte, so war der dritte deutsche Angriff auf Serbien im 20. Jahrhundert
für die rot-grüne Regierung geradezu ein Paradebeispiel antifaschistischer
Wiedergutmachung, um die »Fratze der eigenen Geschichte« (Rudolf Scharping) in
Belgrad vergessen zu machen. Auf die Idee, ausgerechnet im jugoslawischen
Kriegsgegner eine »serbische Volksgemeinschaft« zu sehen, die Deutschland als
Mitglied einer Neo-Anti-Hitler-Koalition bekämpfen müsse, wäre eine
christlich-liberale Regierung nie gekommen.
Rot-Grün eroberte die Deutungsmacht über den Vernichtungskrieg der deutschen
Volksgemeinschaft. Überlebende Opfer und Kritiker aus dem Ausland mussten sich
fortan nach ihren unlauteren Motiven befragen lassen, sofern sie widersprachen.
Zum Entsetzen mancher Antifaschisten taugte auch die Präsentation des
deutschen Vernichtungskrieges auf dem Balkan seit 1941 keineswegs als Einspruch
gegen den Krieg von 1999. Im Institut für Sozialforschung widersprach niemand,
als bei der Ausstellungseröffnung in Köln die damalige Oberbürgermeisterin
Renate Canisius (SPD) behauptete, »erstmals« sei auch »unsere Bundeswehr« an dem
Versuch beteiligt, »mit Waffengewalt eine Schneise zum Frieden zu schlagen.
Lassen Sie uns auch in diesem Geiste des Schutzes der Menschenwürde die heutige
Ausstellung betrachten.« Selbstverständlich gehört Canisius vier Jahre später zu
den UnterzeichnerInnen des Aufrufs einer Kölner Initiative gegen den Krieg der
Amerikaner im Irak.
Die überarbeitete Wehrmachtsausstellung
Angesichts der von Konservativen wohlwollend oder zumindest verblüfft
aufgenommenen außen- und geschichtspolitischen Durchbrüche der rot-grünen
Regierung schien der Wehrmachtsausstellung von jener Seite keine Gefahr mehr zu
drohen. Als jedoch im Oktober 1999 der polnische Historiker Bogdan Musial die
korrekte Beschriftung einiger in der Ausstellung gezeigter Bilder bezweifelte
(sie dokumentierten angeblich keine Verbrechen der Wehrmacht, sondern des
sowjetischen NKWD), wendete sich das Blatt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
und andere Zeitungen unterstützten Musial, der darüber hinaus behauptete, die
Ausstellung sei »agitatorisch« und »vorurteilsbeladen.«
Was Naziaufmärsche und deutschnationale Ausfälle nicht vermocht hatten,
bewirkten jetzt bürgerliche Medien und ein historischer Expertendiskurs: Im
November 1999 verhängte Reemtsma ein Moratorium über die Ausstellung, die erst
nach einer Überprüfung durch eine Historikerkommission wieder eröffnet werden
sollte. Obwohl die Kommission die Ausstellungsmacher vom Vorwurf der bewussten
Fälschung freisprach, entschied sich Reemtsma für die Erstellung einer völlig
neuen Ausstellung.
Die neue Konzeption, die das HIS schließlich im November 2000 präsentierte,
stellte jedoch keine Rückkehr zum klassischen totalitarismustheoretischen
deutschen Geschichtsrevisionismus dar, sondern eine Frontbegradigung. In einer
Pressemitteilung zur Ausstellung in Peenemünde zitiert das HIS den Hamburger
Politikwissenschaftler Peter Reichel: »Die vorherige Ausstellung polemisierte,
emotionalisierte und polarisierte. Die neue Ausstellung versachlicht,
differenziert und kontextualisiert den Blick auf Wehrmacht und Weltkrieg.«
Schon der neue Titel: »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des
Vernichtungskrieges 1941–1944« zeigt die Verschiebung der Akzente. Aus dem
Untertitel sind die »Verbrechen« an den Anfang gerückt und werden mit »dem
damals geltenden Kriegs- und Völkerrecht« kontrastiert. Nicht mehr der durchaus
polemische Verweis auf die Einmaligkeit des Vernichtungskrieges gegen den
»jüdischen Bolschewismus« steht im Vordergrund, sondern die Abweichung von der
»damals geltenden« juristischen Norm, die selbstverständlich auch andere zu
verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten verletzt haben.
Damit wurde die Ausstellung zum historisch-didaktischen Pendant jener
besonders von Deutschland betriebenen Universalisierung des Nürnberger
Gerichtshofs, die sowohl im Krieg gegen Jugoslawien wie im Frieden gegen die USA
zum Einsatz kommt und deren Verhinderung der Grüne Gerald Häfner einst den
Nationalkonservativen vorwarf.
Bereits die Ursprungsausstellung war 1995 unter dem Titel »Gewalt und
Destruktivität im Spiegel des Jahres 1945« in den Rahmen einer
anthropologisierenden Totalitarismustheorie gestellt worden, der sich jedoch als
zu steril für eine deutsche Debatte um die nationale Identität erwies. Schlossen
die Stichworte »Auschwitz«, »Gulag« und »Hiroshima« die deutschen »Gewaltopfer«,
wenn überhaupt, doch nur am Rande ein.
Gedenken in Peenemünde
Die Gedenkspektakel in der Nazi-Raketenschmiede Peenemünde auf Usedom
versprechen nun wesentlich mehr. 300 000 Besucher pilgern jährlich zu der
»V2-Gedenkstätte« (Schweriner Volkszeitung) im Historisch-Technischen
Informationszentrum (HTI) Peenemünde, um dort die Leistungen deutscher
Ingenieurskunst zu bestaunen. 1992 musste die geplante Feier des 50jährigen
Jubiläums des Starts der ersten V2-Rakete wegen internationaler Proteste
abgesagt werden. Seitdem wurde die apologetische Musealisierung der »Wiege der
Raumfahrt« durch einige Verweise auf die 20 000 KZ- und Zwangsarbeiter, die für
die Produktion der Raketen sterben mussten, und die 5 000 vor allem britischen
Bombenopfer ergänzt.
Das HIS hält die Präsentation der Wehrmachtsausstellung in diesem Ambiente
nach Auskunft seiner Pressesprecherin Regine Klose-Wolf für »die optimale
Entscheidung«. Auch die Kulturveranstaltungen des Rahmenprogramms scheinen keine
Bauchschmerzen zu bereiten: »Stalingrad – Erzählen aus dem Kessel«, »Erinnern an
Bombenkrieg und Vertreibung« und schließlich das »Glockenläuten« mit einer
»Andacht zum Bombenangriff« am 18. August stellen offensichtlich den neuesten
Stand deutschen Gedenkens dar. Schließlich ließe sich nicht verhindern, »dass
der Nationalsozialismus nun langsam historisiert werde« und damit »Frageverbote«
über die Leiden der Deutschen entfielen, sagte Peter Klein als
Ausstellungsverantwortlicher für das HIS.
Zwar kommt es in Ostdeutschland durchaus vor, dass Nazis und Vertreter der
Zivilgesellschaft am »Volkstrauertag« gemeinsam Kränze abwerfen; der
Veranstaltungskalender der »Pommerschen Aktionsfront« unter dem Motto »Opa war
in Ordnung« ist jedoch nicht als Ergänzung des Rahmenprogramms gedacht, sondern
richtet sich gegen »Reemtsmas Schandausstellung in Peenemünde«.
Wöchentliche Infostände und mehrere Nazidemos sollen die Ausstellung
begleiten. Sehr zum Unverständnis des HIS, das in seiner Presseerklärung davon
spricht, dass der »Reduktionismus« der ersten Wehrmachtsausstellung »zugunsten
einer Komplexität der Dokumentation aufgegeben worden sei. Sie eigne sich daher
auch nicht mehr als Zielscheibe gewalttätiger Rechtsextremisten und berühre
keine nationalkonservativen Empfindlichkeiten.«
Was die Nazis immer noch zu Sozialfällen der Gedenkkultur macht, ist ihre
strikte Ablehnung der »abstrakten Schuldanerkenntnis«, wie Sznaider und Jacob es
nennen, die das unabdingbare Unterpfand für den deutschen Opferkult ist. Diese
Verstocktheit hat ihren Preis. Denn was ist schon die nazistische Schmähung der
»angloamerikanischen Luftgangster« (Joseph Goebbels) gegen die Rede des
Historikers Jörg Friedrich von den »Einsatzgruppen« des Bomber Command, die
deutsche Luftschutzkeller in »Gaskammern« und »Krematorien« verwandelt hätten;
eine Rede, die man nicht führen kann, wenn man behauptet, es habe Gaskammern gar
nicht gegeben.
Mit einem »Kombi-Ticket« können die BesucherInnen auf Usedom nun zuerst die
V2 als Vorläufer einer »europäischen Verteidigungsidentität« bewundern, um dann
in der Wehrmachtsausstellung über einen verlorenen Krieg zu meditieren, der, wie
der CDU-Politiker Alfred Dregger schon 1985 feststellte, angesichts materieller
Unterlegenheit »ebenso dumm wie verbrecherisch« war. Die deutsche Reue heißt
Stalingrad.