Enrico S., Bauarbeiter, 19 Jahre alt, weiß, wie man zupackt. Er ist
vorbestraft wegen Sachbeschädigung und wegen des Verwendens verfassungswidriger
Kennzeichen. Am 20. Juli, gegen ein Uhr in der Nacht, zieht er gemeinsam mit
seinen 16jährigen Kameraden Daniel D. und Ramon B. los. Sie wollen sich
beweisen, was seit Jahren niemand bezweifelt: dass Jungs wie sie in Schwedt das
Sagen haben.
Sie finden ihr Opfer am Stadtrand. Fast vier Stunden lang malträtieren sie
den 16jährigen S.* »Schläge gegen Kopf und Körper« heißt es sachlich in der
örtlichen Presse. Der als »linke Zecke« Beschimpfte wird geprügelt und gewürgt,
in die Genitalien getreten und mehrfach mit dem Hinterkopf gegen eine Holzbank
geschlagen. Sie packen ihn an den Füßen und halten seinen Kopf im nahen Kanal
unter Wasser. Erst als S. aus Angst zu ersticken wild mit den Beinen strampelt,
lassen ihn die Nazis los.
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder), Michael Neff, kann nach
wenigen Tagen Fahndungserfolge melden. Die Täter sind gefasst und geständig, der
Prozess ist in Vorbereitung. Er meint, die drei Jugendlichen hätten »den Schüler
auf brutalste Weise einschüchtern« wollen. Doch als Enrico S. und seine Freunde
S. einprügelten, er sei »kein richtiger Deutscher«, ging es wohl nicht nur um
Drohungen. Die Ansage, »wir machen dich kalt«, war durchaus wörtlich zu nehmen.
Der Bürgermeister Peter Schauer (SPD), seit der Wende im Amt, spricht von
einem bedauerlichen Einzelfall. Seine Pressesprecherin Ute-Corina Müller,
ebenfalls schon lange bei der Stadtverwaltung beschäftigt, freut sich, dass die
Situation nicht mehr so dramatisch sei wie Anfang der neunziger Jahre:
»Inzwischen werden wir im Verfassungsschutzbericht nicht mehr so eingestuft.«
Schließlich kann Burkhard Heise, der Pressesprecher der Polizei, wie schon vor
zehn Jahren mildernde Umstände für die Täter anführen: »Die Verdächtigen waren
angetrunken.« Die Geschichte scheint sich zu wiederholen.
Bis Mitte der neunziger Jahre wuchs die Neonazi-Szene in Schwedt beständig.
Sie war stark, militant und bestens organisiert. Mehrere Tote und
Schwerstverletzte in Schwedt und Umgebung gingen auf ihr Konto. Allein die
Autonome Antifa versuchte, den Rechtsextremisten etwas entgegenzusetzen. Ein
hoffnungsloser Versuch.
Die meisten Antifas gingen früher oder später ins Berliner Exil, während sich
die Neonazi-Szene als hegemoniale Jugendkultur etablierte. Da bedurfte es gar
nicht mehr der alten Kaderstrukturen, auch die optischen Merkmale – weiße
Schnürsenkel und kahle Schädel – nahmen ab. Dass auch die Überfälle in den
vergangen Jahren zurückgingen, hatte zwei Gründe: Es gab fast keine Ausländer
mehr, und es gab fast keine Linken mehr.
Inzwischen ist es die Jugendinitiative Politik und Kritische Kultur (PUKK),
die sich dem allgemeinen Trend widersetzt. Seit Jahren leistet sie alternative
Kulturarbeit, organisiert Konzerte und Veranstaltungen. Das Unmögliche wurde
möglich. Es gibt wieder eine kleine alternative Szene in Schwedt: ein paar Punks
und Gothics am Gymnasium, die Skater und Hip-Hopper aus dem »Ghetto« und die so
genannten Kiffer vom Knochenpark, ein Grüppchen Jugendlicher, zu dem auch S.
gehört. Aber nur ein Mitglied von PUKK kann sich vorstellen, nach dem Abitur in
der Stadt zu bleiben. »Aber dann wäre ich ja ziemlich allein. Hmm, also
eigentlich nicht.«
All jene machen den Nazis den öffentlichen Raum streitig, den sie jahrelang
unangefochten besetzt hielten. Die Reaktion kam prompt. Als sich im Jahr 2002
die Übergriffe häuften, initiierte der Bürgermeister einen Runden Tisch. Die
Veranstaltung verlief nach dem bekannten Schema: Man vereinbarte eine
Telefonkette, beschloss, dass Demonstrationen »für etwas« besser seien als
»gegen etwas« und dass möglichen Naziaufmärschen deeskalierend zu begegnen sei.
Ein Polizeisprecher wies abschließend darauf hin, dass eine »Bedrohung durch
Linksextremisten« auch nicht auszuschließen sei.
Kein Grund also für die Rechten, sich zurückzuhalten. Im Frühjahr 2003 kommt
es zu einer Welle von Angriffen auf alternative Jugendliche. Während es tagsüber
meist bei Pöbeleien und Rempeleien bleibt, fahren abends mit Rechtsextremisten
besetzte Autos durch die Stadt und greifen Leute von der Straße ab, die ihnen
als »links« erscheinen. In der Nacht zum 1. Mai überfallen mehr als 20 Nazis das
Schwedter Parkcafé, in dem gerade ein Konzert stattfindet. Flüchtende
Konzertbesucher werden durch die Stadt gejagt, gestellt und verprügelt. Erst als
alles vorbei ist, wird die Polizei aktiv. Sie nimmt die Personalien der Opfer
und ihrer Freunde auf.
Mit dem grausamen Überfall auf S. findet die Serie von Angriffen ihren
vorläufigen Höhepunkt. Fast genau ein Jahr zuvor wurde in Potzlow, nördlich von
Schwedt, der 16jährige Marinus Schöberl geprügelt, über Stunden malträtiert und
mit antisemitischen Parolen beschimpft. Marinus überlebte nicht. Seine Leiche
versenkten die Täter in einer Jauchegrube. Dass S. mehr Glück hatte, ist Zufall.
Mit Unterstützung kann die kleine alternative Szene dennoch nicht rechnen.
Der Bürgermeister hat schon bekannt gegeben, dass der zehn Quadratmeter große
Raum, in dem sich PUKK trifft, am Ende des Jahres nicht mehr zur Verfügung
steht. Und im Herbst sind Bürgermeisterwahlen. Das Thema des rechtsextremismus
und die Förderung alternativer Jugendkulturen stehen im Wahlkampf nicht auf dem
Programm. Schwedt bleibt sich treu.
Auch für die Jugendlichen von PUKK ändert sich nach dem Angriff auf S. nicht
viel: »Wir passen gut auf, gehen abends nicht allein raus. Aber wir lassen uns
keine Angst machen.« Gibt es keinen Lichtblick? Doch: Schwedt hat gleich zwei
Bahnstationen und eine Direktverbindung nach Berlin, alle zwei Stunden.
* Name wurde von der Redaktion geändert