Gleich zu Beginn unseres Streifzugs durch die Altstadt Sofias überrascht mich
mein Begleiter: "Wir haben sehr gute Beziehungen zu allen religiösen Gemeinden,
zu der muslimischen und orthodoxen, wir besuchen gegenseitig unsere Feste - wir
leben friedlich miteinander." Maxim Benvenisti ist der stellvertretende
Vorsitzende von "Schalom", der Organisation der Juden in Bulgarien. "Es gab bei
uns keine Pogrome und keine Ghettos", erzählt er, "hier war man den Juden
gegenüber immer tolerant. Das ist natürlich meine persönliche Meinung, man kann
jede Aussage relativieren, wenn man von einzelnen Konflikten ausgeht. Aber
selbst sie sind nicht als Antisemitismus großen Stils zu bezeichnen." Ein von
außen nicht ausgeschildertes Museum hinter der Synagoge beherbergt eine kleine
Ausstellung zur Geschichte der bulgarischen Juden, die bis in die Zeiten des
Römisches Reiches zurückgeht.
Unsere Sprache war Ladino
In der Zeit des osmanischen Reiches stieg die Zahl der Juden auf dem Balkan
erheblich an: 1492 vertrieb die spanische Königsfamilie die Juden aus ihrem
Reich, und der osmanische Sultan, Süleyman der Prächtige, bot ihnen Unterschlupf
in seinem Imperium an. Die ersten Stationen für die Vertriebenen in der Region
waren Thessaloniki und Sarajevo; allmählich verstreuten sie sich über den
Balkan, so kamen die Juden auch ins heutige Bulgarien. Etwa 90 Prozent der
bulgarischen Juden sind Sephardim; so nennt man die damals aus Spanien kommenden
Juden.
"Menschen namens ›Benvenisti‹ kann man überall auf der Welt treffen - so
heißt die Stadt in Spanien, aus der unsere Vorfahren kamen", erzählt mein
Begleiter. "Unsere Sprache war Ladino, Judeospanisch, mein Vater konnte sie noch
- ich kann mich erinnern, dass er sich deswegen gut mit den Kubanischen Genossen
verständigen konnte. Ich sage ›war‹, weil Ladino heute eine tote Sprache ist."
Maxim Benvenisti ist Ende 40 und verbrachte den Großteil seines Lebens im
sozialistischen Bulgarien; darüber erzählt er ohne Verbissenheit: "Zwar gab es
den sogenannten Kader-Antisemitismus, aber das war eher ein Zwangsimport aus der
Sowjetunion, und zu Repressionen, im Unterschied zu einigen anderen
sozialistischen Ländern kam es hier nicht. Die Richtlinien der Regierung
versuchten, alle ethnischen Identitäten auf die eine bulgarische zu reduzieren
und manche Juden wechselten ihren Namen, aber so etwas wie die
Zwangsassimilierung, wie sie die bulgarischen Türken erlebt haben, ist den Juden
erspart geblieben. Als Schüler habe ich mich für jüdische Geschichte und Kultur
sehr interessiert. Die Synagoge wurde ständig renoviert. Mein Onkel hat mir eine
Besichtigung organisiert und sagte: jetzt hast du das gesehen, mehr brauchst du
nicht, wenn du Karriere machen willst."
Öffentliche Proteste
Maxims Onkel, David Benvenisti, war ein angesehener bulgarischer Historiker,
der sich hauptsächlich mit der jüdischen Geschichte beschäftigte. Eines seiner
Hauptwerke ist Die Rettung der bulgarischen Juden. 1941-1944, ein Kompendium zu
einem Thema, das außerhalb des Landes kaum beachtet wird. Für die Bulgaren
jedoch war dieser Fall eine Art Reifeprüfung in Sachen Zivilgesellschaft, die
die meisten europäischen Länder in den vierziger Jahren nicht bestanden haben;
lediglich in Dänemark und Bulgarien gab es organisierten Wiederstand gegen
Judenverfolgung.
Die Gedenktage für die Rettung der bulgarischen Juden fallen auf den 9., den
10. und und den 11. März: "In diesem Jahr haben wir das 60. Jubiläum der Aktion
der Rettung gefeiert, das sind staatliche Gedenktage, nicht nur unsere
internen", erklärt Benvenisti. "Wir feiern, weil 50.000 Menschenleben gerettet
wurden, und wir trauern um die Juden aus Makedonien und Thrakien, die damals in
den Tod geschickt wurden."
Es ist ein Paradox, denn Bulgarien gehörte im Zweiten Weltkrieg zu den
Verbündeten Nazi-Deutschlands, und am 7. Oktober 1940 verabschiedete die
bulgarische Regierung das "Gesetz zum Schutze der Nation", das die Rechte der
Juden einschränkte. Es sollte gleichzeitig aber auch den Anstoß zum zivilen
Widerstand geben. In Bulgarien lebten zu der Zeit 63.403 Juden, etwa ein Prozent
der Bevölkerung. Sie lebten nur in den Städten, die größte Gemeinde gab es in
Sofia, von hier nahmen die Proteste gegen die Regierungspolitik ihren Ausgang.
Der Vorsitzende des jüdischen Konsistoriums in Sofia, Josef Geron, initiierte
eine Kampagne gegen das Gesetz, das starkes Echo in der Bevölkerung fand.
Bekannte Schriftsteller schickten Protestschreiben an die Regierung mit den
Worten: "Im Namen der Zivilisation und im Interesse des guten Namens Bulgariens
appellieren wir an Sie, das Gesetz nicht zu verabschieden. Seine Auswirkungen
würden einen dunklen Flecken auf unsere Gesetze werfen und eine unerträgliche
Spur in unserer nationalen Erinnerung hinterlassen." Bulgarische Prominente,
viele Verbände und der christilich-orthodoxe Heilige Synod schlossen sich dem
Protest an. Die Sympathiebekundung für die Juden provozierte faschistische und
antisemitische Organisationen zu Gegenaktionen, eine Mehrheit in der
Gesellschaft hielt jedoch ihren Widerstand aufrecht.
Unter starkem deutschem Druck wurde das Gesetz am 21. Januar 1941 dennoch im
Parlament verabschiedet und am gleichen Tag vom König Boris III. ratifiziert.
Das Gesetz sah die gleichen Beschränkungen und Demütigungen vor, denen Juden in
anderen Ländern des besetzten Europa ausgesetzt waren: Juden mussten das gelbe
Abzeichen tragen, ihre Häuser und Geschäfte wurden gekennzeichnet. Die Männer
waren zu Zwangsarbeiten verpflichtet; zuerst arbeiteten sie gemeinsam mit
bulgarischen Männern, dann aber bestanden die Deutschen darauf, dass die Juden
von den anderen Arbeitern getrennt wurden.
Auch von sämtlichen qualifizierten Posten wurden die Juden entlassen. "Das
war nicht nur Ausgrenzung oder bloße Demütigung", sagt Benvenisti, "mein Vater
hat in einer Apotheke gearbeitet. Als deren Besitzer enteignet wurde, mussten
auch die jüdischen Angestellten gehen. Viele Bulgaren haben die Situation zu
ihren Gunsten genutzt, doch es gab auch viele Menschen, die bei der Umsetzung
der Vorschriften alle Fünfe gerade sein ließen. Manche haben nur symbolisch die
Eigentumsrechte übernommen, andere ließen die Juden in Betrieben heimlich
qualifizierten Beschäftigungen nachgehen. Zu Solidarität mit den Juden bewegte
die Menschen nicht nur die Haltung der Öffentlichkeit und des bulgarischen
Klerus, sondern auch die kommunistische Untergrundorganisation, die die
Sympathien der Bevölkerung genoss und in der Juden und Bulgaren zusammen
gekämpft haben."
Staatsbürgerschaft als Rettungsanker
Doch allein der Entzug der Bürgerrechte reichte "zum Schutze der Nation"
nicht aus: Bulgarien verpflichtete sich Deutschland gegenüber, 20.000 Juden zur
Deportation bereitzustellen. Zuerst waren die staatenlosen Juden aus den
bulgarisch besetzten Gebieten Thrakiens, Makedoniens und Ostserbiens betroffen.
Diese Gebiete hatten einen Sonderstatus, denn zu Beginn des Krieges hatte
Bulgarien Thrakien und Makedonien mit Hilfe der Deutschen angegriffen und
okkupiert. Die Deutschen stellten für ihre Unterstützung die Bedingung, dass die
Juden dieser Gebiete keine bulgarische Staatsbürgerschaft erhielten. Als
Staatenlose waren sie die ersten, die deportiert wurden, für sie gab es keine
Rettung: am 4. März 1943 wurden sie in Lagern interniert, Ende des Monats
begannen die Transporte nach Norden, mit dem Endziel Treblinka - die Gesamtzahl
der aus diesen Gebieten deportierten Menschen beträgt 11.384.
Um die Zahl von 20.000 zu erreichen, benötigte die Regierung weitere Opfer.
Doch selbst starker deutscher Druck vermochte diese im Kernland Bulgariens nicht
durchzusetzen. In Kjustendil, einer kleinen Stadt, in der die Deportation um
Mitternacht zwischen dem 9. und 10. März 1943 ihren Lauf nehmen sollte, brach
der Protest gegen Regierungspolitik offen aus. Gerüchte, dass die Juden
irgendwohin nach Polen deportiert würden, waren schon längst im Umlauf; als ein
altes Fabrikgebäude geräumt wurde, bestätigten sich die schlimmsten Vermutungen.
Eine prominent besetzte Delegation aus Kjustendil brach nach Sofia auf, um der
Regierung ihren Protest zu bekunden. Die Kjustendiler drohten dem Innenminister
Petr Gabrovski in Sofia mit "persönlichen Sanktionen", was durchaus als
Morddrohung gedeutet werden konnte. Gabrovski stimmte zu, den Termin der
Deportation zu verschieben.
Eine Woche später legte der stellvertretende Parlamentpräsident Dimitr
Peschev dem Parlament ein Manifest vor, in dem es unter anderem hieß: "Ein
solcher Akt darf nicht erlaubt werden, nicht nur, weil die betroffenen Personen
nicht ihrer Staatsangehörigkeit beraubt wurden und daher legal nicht aus
Bulgarien vertrieben werden können; eine Handlung dieser Art hätte auch
ernsthafte politische Konsequenzen für das gesamte Land."
Um die gleiche Zeit wurden die Juden in der Stadt Plovdiv in ein Schulgebäude
für die bevorstehende Deportation zusammengetrieben. Das religiöse Oberhaupt,
der Metropolit Kiril, mobilisierte die Plovdiver orthodoxe Gemeinde. Die
Priester ließen die Kirchenglocken dröhnen und wandten sich an die Gemeinden mit
dem Aufruf zu zivilem Widerstand. Der Metropolit selbst stieg über den Zaun des
Schulgebäudes, um den Juden seine Entschlossenheit zu bekunden, sie nicht zu
verlassen und ihnen in die Deportation zu folgen. Die ganze Stadt war auf den
Beinen. Dieser offene Widerstand hatte zum Ergebnis, dass der deutsche
Polizeiattaché Karl Hoffmann am 5. April 1943 seinen Vorgesetzen mitteilen
musste, dass in Bulgarien "weder die ideologischen noch die rassischen
Voraussetzungen" existieren, "um eine breite Unterstützung für Deportationen zu
erlangen."
Neubeginn in Israel
Mittels eines Erlasses wurden im Mai 1943 die Juden aus Sofia in die
bulgarische Provinz vertrieben. Das hat sie vor der Deportation in deutsche
Vernichtungslager bewahrt. Das antijüdische Gesetz jedoch galt bis zum
Kriegsende weiter, was das Leben der Vertriebenen enorm belastete - die
Unterkünfte waren dürftig, die Geretteten auch weiterhin rechtlos und mit
Arbeitsverbot belegt. Unmittelbar nach einem Treffen mit Hitler im August 1943,
starb König Boris III unter unaufgeklärten Umständen. Die Legende sagt, es sei
die deutsche Rache dafür gewesen, dass Boris in der jüdischen Frage unnachgiebig
blieb. Im August 1944 widerrief die bulgarische Regierung unter anderen auch die
antijüdischen Gesetze - denn der Krieg galt als entschieden, das Kriegsende war
nah. Anfang September desselben Jahres marschierte die sowjetische Armee in
Bulgarien ein, es wurde eine neue Koalitionsregierung gebildet, in der die
Kommunisten dominierten.
Viele Kader für die sozialistische Elite rekrutierten sich aus dem
antifaschistischen Gruppen. Die Juden hatten keine eigene antifaschistische
Organisation, wie es zum Beispiel in Polen der Fall war, in den ersten Regierung
besaßen sie jedoch politischen Einfluss. In der ersten Nachkriegszeit wirkten im
Land unbehindert viele zionistische Organisationen; Bulgarien war der einzige
sozialistische Staat, der damals die Juden nach Israel auswandern ließ. So
verließen bis 1949 rund 90 Prozent der bulgarischen Juden das Land und flohen
nach Israel.
Die spontanen Rettungsaktionen bezeichnet man heute als "bulgarisches
Paradox". Die Bulgaren sind stolz auf ihren Widerstand, doch diese Geschichte
ist außerhalb des Landes kaum bekannt. Als im April 1993 der damalige
bulgarische Präsident Zelju Zelev zur Einweihung des Holocaust-Museums nach
Washington reiste, war er überrascht, dass Bulgarien lediglich auf der
"schwarzen Liste" der Holocaustgeschichte stand, als ein Verbündeter
Deutschlands, der die Deportation der Juden aus den besetzten Gebieten
zugelassen habe. Mit einem Protestbrief wandte sich Zelev an US-Präsident
Clinton und insistierte darauf, dass noch vor der Einweihungs-Zeremonie die
Museumsmaterialien vervollständigt werden müssten. Das Weiße Haus stellte eine
hektische Recherche an und gab dem bulgarischen Präsidenten Recht.
Die Rolle des Königs
Die Geschichte Bulgariens im Zweiten Weltkrieg gewann in der aktuellen
Politik an Bedeutung als Simeon II., Sohn von König Boris III., vor zwei Jahren
Ministerpräsident Bulgariens wurde. In den bulgarischen Medien trägt der gute
Ruf des Vaters von Simeon Saksoburgottski, wie sein bürgerlicher Name nun
lautet, zur Popularität des Ministerpräsidenten bei. Dennoch ist die Rolle des
damaligen Königs in der Geschichte umstritten: Ohne Erlaubnis des Königs hätte
der Innenminister Gabrovski nicht gewagt, die Deportation zu verschieben, es
existieren jedoch keine Dokumente, die seine persönliche Stellungnahme zu den
Ereignissen belegen. Die Legende, wonach König Boris vergiftet wurde, weil er
sich Hitlers Forderung nach Auslieferung der Juden widersetzte, ist nicht
bestätigt. Auf die Frage, wem die Rettung der Juden zu verdanken sei, gibt es
keine eindeutige Antwort. "Das waren vor allem einfache Leute, von der Prominenz
und der orthodoxen Kirche angetrieben, die in Kernbulgarien die Deportation
blockierten", meint Benvenisti.
Bittere Fragen, die auf die persönliche Schuld der damaligen Politiker
zielten, waren auch während der Jubiliäumsfeierlichkeiten in diesem Jahr zu
hören. Dennoch standen die Jubiläumstage im Zeichen von Dankbarkeit. "Ich denke,
dass den bulgarischen Juden der Messias am 9. März 1943 erschienen ist," sagte
eine Frau, deren Eltern damals dem Vernichtungslager entkommen sind. "Dass ich
auf dieser Erde existiere, verdanke ich der Tatsache, dass ich hier geboren bin,
in diesem kleinen Land, das in seiner Würde und Humanität ein Riese ist."