Antisemitismus:
Die endlose Suche nach Normalität
Der Antisemitismus-Vorwurf prägt, von Walser über Möllemann
bis Honderich, die Debatten. Dient das der Aufklärung? Oder regiert hier die
Logik des Skandals...
Rafael Seligmann
Immer wenn vom Wunsch nach deutsch-jüdischer Normalität die Rede ist, kommt
mir eine Jahre zurückliegende Episode in den Sinn. Damals stellte Micha Brumlik
in München mein Buch "Mit beschränkter Hoffnung. Deutsche, Juden, Israelis" vor.
Dabei entspann sich ein öffentliches Streitgespräch. Brumlik behauptete, eine
"deutsch-jüdische Normalisierung" werde es "frühestens in hundert Jahren geben".
Ich widersprach ihm: "So lange dürfen wir nicht warten. Denn in hundert Jahren
sind wir alle miteinander tot. Wir müssen versuchen, bis dahin ein
menschenwürdiges, also ein normales Leben zu führen." Jeder möchte alles zu
seinen Lebzeiten "erleben" - einerlei, ob dies realistisch ist.
Noch heute bin ich von dem Bestreben einer deutsch-jüdischen Normalisierung
beseelt, doch ich muss zugeben, die Verwirklichung dieses Wunschs lässt sich
nicht erzwingen. Lässt man die jüngste deutsch-jüdische Historie, also die Zeit
nach 1945, Revue passieren, dann fällt einem sogleich das eklatante
Missverhältnis von realen Erfolgen und emotionalen Desastern auf. Die deutsche
Seite leistete Enormes. Zunächst finanziell. Es ist leicht, die
Entschädigungszahlungen als plumpen Versuch zu verhöhnen, sich durch Geld von
Schuld und Verantwortung freizukaufen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden,
dass diese Gelder, insgesamt mehr als 50 Milliarden Euro, es hunderttausenden
überlebenden Juden ermöglichten, sich wieder eine Existenz aufzubauen. Nicht
zuletzt der Staat Israel hat davon profitiert. Die DDR hat sich vor dieser
materiellen Konsequenz schlicht gedrückt, Österreich entdeckt sie erst heute.
Zudem versuchen seit einem halben Jahrhundert zahllose deutsche Lehrer,
Erzieher, Historiker, Journalisten, Publizisten, Künstler, Politiker, Pastoren,
Gewerkschafter, Funktionäre, Wohlmeinende und Wichtigtuer durch aktive,
professionelle und freiwillige unbezahlte Arbeit die deutsche Bevölkerung, vor
allem die jüngere Generation, von der Verwerflichkeit des Antijudaismus zu
überzeugen. Jede Friedhofsschändung, jede Verhöhnung lebender Juden, aber auch
jede Misshandlung von Ausländern, Behinderten etc. ist ein Schlag ins Gesicht
dieser wohlmeinenden Aufklärer.
Da die Übergriffe seit Jahren zunehmen, erscheinen die Bemühungen tragisch,
ja manchen sogar vergeblich. Darüber darf die insgesamt positive Bilanz der
Arbeit nicht vergessen werden: Insgesamt nehmen zumindest die antijüdischen
Vorurteile der Bevölkerung zwar langsam, aber kontinuierlich ab. Im
Bildungsbürgertum ebenso wie in politisch korrekten Kreisen sind antisemitische
Hasskundgebungen unvorstellbar. Hier flackern die Lichterketten des guten
Willens, und es erschallt der Marschtritt der Kolonnen, die sich auf dem Weg zum
Aufstand der Anständigen machen. Dennoch kommt es auch in der wohltemperierten
Welt des Gutmenschentums, das seine Wohnungen mit Menoroth schmückt und in
seinen Mußestunden Klezmermusik lauscht, immer wieder zu Eklats, die darauf
hindeuten, dass die neudeutsch-jüdische Verständigung vielfach Wunschdenken
entspringt.
Die Skandale und Skandälchen entzünden sich stets aufs Neue an Büchern oder
schriftlichen Manifesten. In den 80er-Jahren lief die jüdische Gemeinde
Frankfurt Sturm gegen die Aufführung des Fassbinder-Zwerenz-Stückes "Der Müll,
die Stadt und der Tod". Die Hebräer fühlten sich als Blutsauger verunglimpft.
Juden und ihre Freunde wähnten sich auch angegriffen durch die Friedenspreisrede
Martin Walsers, später dessen Buch "Tod eines Kritikers". Zur Jahrtausendwende
sorgte der jüdisch-amerikanische Politologe Norman G. Finkelstein mit seinem
Buch "Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird" für
den nächsten deutsch-jüdischen Eklat. Bemerkenswerterweise erregte das Werk in
den USA kein Aufsehen.
Gegenwärtig erregen sich deutsche Intellektuelle und solche, die sich als
solche wähnen, über Ted Honderichs Essay "Nach dem Terror". In einem offenen
Brief hatte der eingangs erwähnte Micha Brumlik, mittlerweile Direktor des Fritz
Bauer Institutes, den Suhrkamp Verlag aufgefordert, Honderichs Werk aus dem
Programm zu nehmen, da das Buch und die Erklärungen des Autors als
Rechtfertigung des Terrors gegen Juden und Israelis verstanden werden müssten.
Nach kurzem Zögern lenkte der Verlag ein. Er verzichtet auf Neuauflagen.
Rechtfertigung von Terror hat es seit je gegeben, ob bei Bakunin, Che Guevara
oder Herbert Marcuse.
Die Indizierung von Honderichs Buch ist ein Symptom der Unnormalität im
deutsch-jüdischen Verhältnis. Suhrkamp hatte den Essay aufgrund einer Empfehlung
von Jürgen Habermas und einer eigenständigen Expertise veröffentlicht. Kürzlich
hat der Verlag das Buch vom Markt genommen, nicht weil er von dessen
antisemitischem Inhalt überzeugt war, sondern aus schierer Angst. Suhrkamp
möchte nicht als "antisemitisch" gelten. Doch Antisemitismus lässt sich nicht
mit Feigheit niederringen. Im Gegenteil. Zivilcourage ist Grundlage für die
Bekämpfung aller Vorurteile.
Das wiederholte Aufflackern des deutsch-jüdischen Disputs an Büchern ist kein
Zufall. Wo Menschen fehlen, klammert man sich an Bücher. Die deutsch-jüdische
Gemeinde zählt trotz ihres Wachstums durch Zuwanderung aus den GUS-Ländern
lediglich 100.000 Menschen. Nur wenige Dutzend Juden verstehen es heute, sich
öffentlich zu artikulieren. Viele von ihnen, auch Brumlik, sind durch die eigene
oder die Verfolgungsgeschichte der Eltern traumatisiert. So wird jede Kritik,
pauschale, bösartige Anschuldigungen, aber auch durchaus konstruktive Angebote
zum Dialog wie das Fassbinder-Stück oder Kritik an dem Holocaust-Mahnmal in
Berlin, von Juden und mehr noch von ihren ungerufenen Helfern als Antisemitismus
gebrandmarkt.
Leben ist die Suche nach den richtigen Wegen. Sie lassen sich vielfach nur in
Auseinandersetzungen finden. Der Völkermord an Juden darf nicht Alibi für ein
Erstarren sein. Wo die Sprache aufhört, endet das Leben. Und nichts brauchen die
verletzten deutschen und jüdischen Seelen mehr als Ermutigung. Die Nachkommen
der Täter sind vielfach ebenso traumatisiert wie jene ihrer Opfer.
Die Schonzeit für Juden ist nicht vorbei, wie es ein Theatermann einst
forderte. Normalität lässt sich nicht verordnen. Es würde der jüdischen Gemeinde
gut tun, das Ghetto der Angst zu verlassen, obgleich der Antisemitismus
fortbesteht - auch in Deutschland. Er lässt sich nicht mit einem Federstrich
beseitigen. Juden und Nichtjuden sollten sich nicht in ihren Traumata verpuppen.
Es muss wieder möglich sein, miteinander zu debattieren, ja zu streiten - ohne
das Damoklesschwert des "Antijudaismus" fürchten zu müssen. Es gilt, den Stein
bergan zu rollen. Die Gewissheit, dass er irgendwann wieder herunterkommen wird,
darf uns nicht am richtigen Tun hindern.
Die Debatte wird demnächst Y. Michal Bodemann fortsetzen
die tageszeitung
die tageszeitung vom 29.08.2003
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/ 2003-08-31
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