Die Einwohner staunten nicht schlecht, als Anfang Juli Miliz und Malertrupps in
ihr Dorf Pavlivka in der Westukrainie einfielen, um Straßen, Zäune und Fassaden
auf Hochglanz zu polieren. Am 11. Juli sollte dort unter Beteiligung des
ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma und des polnischen Präsidenten
Alexander Kwasniewski und mit mehreren Tausend Teilnehmern eine Gedenkfeier
anlässlich des 60. Jahrestages des Massakers an den polnischen Einwohnern des
Dorfes stattfinden. Ein Novum in der Geschichte der beiden Länder.
Mehr als hundert Polen waren damals von ukrainischen Nationalisten in der
Kirche zusammen getrieben und verbrannt oder auf den umliegenden Feldern
erschlagen worden. Das Massaker war einer der brutalen Höhepunkte eines in
Westeuropa kaum bekannten Konfliktes, bei dem nach Schätzungen polnischer
Historiker zwischen 1943 und 1948 in der Westukraine und in Ostpolen 100 000
Polen und mehrere Tausend Ukrainer ums Leben kamen.
Während der Feierlichkeiten verlasen Kwasniewski und Kutschma eine gemeinsame
Erklärung. Man müsse und könne diese düstere Geschichte im vereinigten Europa
überwinden, so der Tenor, und sie enthüllten einen Gedenkstein mit dem zentralen
Motto: »Gedächtnis – Trauer – Einheit«. Außenpolitisch relevant war das
gemeinsame Gedenken vor allem für die Ukraine, da das Land auf dem Weg in die EU
polnische Unterstützung braucht und in Polen der Umgang mit der gemeinsamen
Geschichte als Test für die ukrainische Demokratietauglichkeit gilt. Ungelegen
kam dem Präsidenten daher, dass nur wenige Tage zuvor überall in der Ukraine
Protestkundgebungen der nationalistischen Parteien vor den polnischen Konsulaten
stattgefunden hatten. Deren Botschaft lautete: »Wolhynien – Folge der
Kolonisationspolitik Polens« und »OUN-UPA – unsere Helden!«
Die Vorgeschichte des Konfliktes beginnt in der Zeit zwischen den beiden
Weltkriegen, als nach der gescheiterten ukrainischen Staatsgründung die
Westukraine zum polnischen Staat gehört. Ukrainer sind von da an de facto
Menschen zweiter Klasse. In den agrarischen Gebieten wie Galizien oder,
nordöstlich davon, Wolhynien, drückt sich dies auch in der Vermischung von
sozialer Frage und ethnischer Zugehörigkeit aus. Ukrainer sind Kleinbauern oder
arbeiten als Tagelöhner auf polnischem Großgrundbesitz. Wesentliche
machtpolitische Faktoren sind auf polnischer Seite die starken nationalistischen
Organisationen, die sich vor allem mit antisemitischen und antiukrainischen
Übergriffen hervortun.
Auf ukrainischer Seite ist die nationalistische Organisation Ukrainischer
Nationalisten (OUN) der wichtigste Machtfaktor, sie ist eine der vielen
faschistischen Bewegungen, die in der Zwischenkriegszeit in Mittel- und
Osteuropa entstehen. Ihre primäre Zielsetzung ist die Staatsgründung. Mit Beginn
des Zweiten Weltkrieges marschiert die Sowjetunion gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt
in der Westukraine ein. Hunderttausende Polen, Juden und Ukrainer werden
deportiert.
Ein großer Teil der OUN-Kader geht in das von den Deutschen besetzte Krakau.
Zwei deutsch-ukrainische Bataillone werden aufgestellt, »Roland« und
»Nachtigall«. Letzteres marschiert am 30. Juni 1941 gemeinsam mit der Wehrmacht
in Lemberg ein und ist maßgeblich an den Pogromen an der jüdischen Bevölkerung
beteiligt, die unmittelbar danach beginnen. Das strategische Bündnis endet
jedoch, als die OUN am 30. Juni unter der Führung von Stepan Bandera die
unabhängige Ukraine ausruft. Die Nationalsozialisten antworten mit Repressalien.
Die OUN agiert ab September 1941 wieder völlig illegal. Um sich militärisch
zu schulen und an Waffen zu kommen, gehen viele ihrer Anhänger beispielsweise
zur ukrainischen Polizei, unter deren Mittäterschaft im Sommer und Herbst 1942
die Massenmorde an den etwa 200 000 Juden in Wolhynien verübt werden. In dieser
Zeit baut die OUN militärische Strukturen auf, aus denen die Ukrainische
Aufstandsarmee (UPA) entsteht.
Die Lage ist wegen des seit Jahren herrschenden Terrors der deutschen
Zivilverwaltung und des Sicherheitsdienstes auch für die ukrainische Bevölkerung
sehr angespannt. Verweigern Ukrainer beispielsweise die Ausreise nach
Deutschland zur Zwangsarbeit, werden Strafexpeditionen in den Dörfern
durchgeführt, bei denen viele Menschen ermordet werden.
Ende Juni 1943 werden von der UPA erste konzertierte Angriffe auf polnische
Dörfer durchgeführt, und am 11. Juli über 60 überfallen, unter anderem Pavlivka.
Diese Angriffe werden über Monate hinweg fortgesetzt und später auch in
Ostgalizien durchgeführt. Mit polnischen Untergrundstrukturen beginnt eine
Spirale von Aktion und Gegenaktion, an deren Ende gegenseitig die Dörfer
vernichtet und die EinwohnerInnen ermordet werden. Die meisten ukrainischen
Opfer gibt es auf heutigem ostpolnischen Staatsgebiet. Noch heute zeugen leere
Ortschaften an der polnisch-ukrainischen Grenze von diesem Krieg im Krieg. Von
1943 bis 1948 werden zwischen 15 000 und 20 000 Ukrainer von Polen ermordet.
Wolhynien und die Diskussion um die polnisch-ukrainischen Konflikte in der
Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg sind auch innenpolitisch für die
Ukraine von großer Bedeutung. Es gilt, im Zuge des nation-building eine
Geschichtsschreibung zwischen zwei entgegengesetzten Interessengruppen zu
etablieren. Auf der einen Seite stehen die Veteranen der Roten Armee und der
sowjetischen Partisanen sowie der Großteil der heutigen politischen Machtclique,
die aus der alten Nomenklatura erwachsen ist, auf der anderen Seite die
Veteranen der OUN und UPA, die sich als »nationale Befreiungsbewegung« begreifen
und nun ihre Anerkennung vom Staat einfordern.
Diese divergierenden Standpunkte drücken sich auch in einer praktischen
Zweiteilung der Ukraine aus. In der Westukraine, aus der sich die überwiegende
Mehrheit der OUN und der UPA rekrutierte, sind diese Organisationen
gesellschaftlich anerkannt. In der Ostukraine gelten sie nach wie vor als
faschistische Banden.
Der Kampf um die Deutung der Geschichte hat auch eine materielle Seite. Heute
leben noch etwa 10 000 UPA-Veteranen. Mitte Juli wurde im ukrainischen Parlament
ein Gesetzentwurf beraten, in dem sie als Kriegsteilnehmer anerkannt werden
sollten. Daran hängen vor allem materielle Vergünstigungen wie billigere
Wohnungen, freie Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder bessere ärztliche
Versorgung. Er wurde abgelehnt.