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Gedenken in der Ukraine:
Krieg im Krieg

Mitte Juni fand im westukrainischen Pavlivka zum ersten Mal eine Gedenkveranstaltung für die polnischen Opfer eines ukrainischen Massakers statt...

Franziska Bruder

Die Einwohner staunten nicht schlecht, als Anfang Juli Miliz und Malertrupps in ihr Dorf Pavlivka in der Westukrainie einfielen, um Straßen, Zäune und Fassaden auf Hochglanz zu polieren. Am 11. Juli sollte dort unter Beteiligung des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma und des polnischen Präsidenten Alexander Kwasniewski und mit mehreren Tausend Teilnehmern eine Gedenkfeier anlässlich des 60. Jahrestages des Massakers an den polnischen Einwohnern des Dorfes stattfinden. Ein Novum in der Geschichte der beiden Länder.

Mehr als hundert Polen waren damals von ukrainischen Nationalisten in der Kirche zusammen getrieben und verbrannt oder auf den umliegenden Feldern erschlagen worden. Das Massaker war einer der brutalen Höhepunkte eines in Westeuropa kaum bekannten Konfliktes, bei dem nach Schätzungen polnischer Historiker zwischen 1943 und 1948 in der Westukraine und in Ostpolen 100 000 Polen und mehrere Tausend Ukrainer ums Leben kamen.

Während der Feierlichkeiten verlasen Kwasniewski und Kutschma eine gemeinsame Erklärung. Man müsse und könne diese düstere Geschichte im vereinigten Europa überwinden, so der Tenor, und sie enthüllten einen Gedenkstein mit dem zentralen Motto: »Gedächtnis – Trauer – Einheit«. Außenpolitisch relevant war das gemeinsame Gedenken vor allem für die Ukraine, da das Land auf dem Weg in die EU polnische Unterstützung braucht und in Polen der Umgang mit der gemeinsamen Geschichte als Test für die ukrainische Demokratietauglichkeit gilt. Ungelegen kam dem Präsidenten daher, dass nur wenige Tage zuvor überall in der Ukraine Protestkundgebungen der nationalistischen Parteien vor den polnischen Konsulaten stattgefunden hatten. Deren Botschaft lautete: »Wolhynien – Folge der Kolonisationspolitik Polens« und »OUN-UPA – unsere Helden!«

Die Vorgeschichte des Konfliktes beginnt in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, als nach der gescheiterten ukrainischen Staatsgründung die Westukraine zum polnischen Staat gehört. Ukrainer sind von da an de facto Menschen zweiter Klasse. In den agrarischen Gebieten wie Galizien oder, nordöstlich davon, Wolhynien, drückt sich dies auch in der Vermischung von sozialer Frage und ethnischer Zugehörigkeit aus. Ukrainer sind Kleinbauern oder arbeiten als Tagelöhner auf polnischem Großgrundbesitz. Wesentliche machtpolitische Faktoren sind auf polnischer Seite die starken nationalistischen Organisationen, die sich vor allem mit antisemitischen und antiukrainischen Übergriffen hervortun.

Auf ukrainischer Seite ist die nationalistische Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) der wichtigste Machtfaktor, sie ist eine der vielen faschistischen Bewegungen, die in der Zwischenkriegszeit in Mittel- und Osteuropa entstehen. Ihre primäre Zielsetzung ist die Staatsgründung. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges marschiert die Sowjetunion gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt in der Westukraine ein. Hunderttausende Polen, Juden und Ukrainer werden deportiert.

Ein großer Teil der OUN-Kader geht in das von den Deutschen besetzte Krakau. Zwei deutsch-ukrainische Bataillone werden aufgestellt, »Roland« und »Nachtigall«. Letzteres marschiert am 30. Juni 1941 gemeinsam mit der Wehrmacht in Lemberg ein und ist maßgeblich an den Pogromen an der jüdischen Bevölkerung beteiligt, die unmittelbar danach beginnen. Das strategische Bündnis endet jedoch, als die OUN am 30. Juni unter der Führung von Stepan Bandera die unabhängige Ukraine ausruft. Die Nationalsozialisten antworten mit Repressalien.

Die OUN agiert ab September 1941 wieder völlig illegal. Um sich militärisch zu schulen und an Waffen zu kommen, gehen viele ihrer Anhänger beispielsweise zur ukrainischen Polizei, unter deren Mittäterschaft im Sommer und Herbst 1942 die Massenmorde an den etwa 200 000 Juden in Wolhynien verübt werden. In dieser Zeit baut die OUN militärische Strukturen auf, aus denen die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) entsteht.

Die Lage ist wegen des seit Jahren herrschenden Terrors der deutschen Zivilverwaltung und des Sicherheitsdienstes auch für die ukrainische Bevölkerung sehr angespannt. Verweigern Ukrainer beispielsweise die Ausreise nach Deutschland zur Zwangsarbeit, werden Strafexpeditionen in den Dörfern durchgeführt, bei denen viele Menschen ermordet werden.

Ende Juni 1943 werden von der UPA erste konzertierte Angriffe auf polnische Dörfer durchgeführt, und am 11. Juli über 60 überfallen, unter anderem Pavlivka. Diese Angriffe werden über Monate hinweg fortgesetzt und später auch in Ostgalizien durchgeführt. Mit polnischen Untergrundstrukturen beginnt eine Spirale von Aktion und Gegenaktion, an deren Ende gegenseitig die Dörfer vernichtet und die EinwohnerInnen ermordet werden. Die meisten ukrainischen Opfer gibt es auf heutigem ostpolnischen Staatsgebiet. Noch heute zeugen leere Ortschaften an der polnisch-ukrainischen Grenze von diesem Krieg im Krieg. Von 1943 bis 1948 werden zwischen 15 000 und 20 000 Ukrainer von Polen ermordet.

Wolhynien und die Diskussion um die polnisch-ukrainischen Konflikte in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg sind auch innenpolitisch für die Ukraine von großer Bedeutung. Es gilt, im Zuge des nation-building eine Geschichtsschreibung zwischen zwei entgegengesetzten Interessengruppen zu etablieren. Auf der einen Seite stehen die Veteranen der Roten Armee und der sowjetischen Partisanen sowie der Großteil der heutigen politischen Machtclique, die aus der alten Nomenklatura erwachsen ist, auf der anderen Seite die Veteranen der OUN und UPA, die sich als »nationale Befreiungsbewegung« begreifen und nun ihre Anerkennung vom Staat einfordern.

Diese divergierenden Standpunkte drücken sich auch in einer praktischen Zweiteilung der Ukraine aus. In der Westukraine, aus der sich die überwiegende Mehrheit der OUN und der UPA rekrutierte, sind diese Organisationen gesellschaftlich anerkannt. In der Ostukraine gelten sie nach wie vor als faschistische Banden.

Der Kampf um die Deutung der Geschichte hat auch eine materielle Seite. Heute leben noch etwa 10 000 UPA-Veteranen. Mitte Juli wurde im ukrainischen Parlament ein Gesetzentwurf beraten, in dem sie als Kriegsteilnehmer anerkannt werden sollten. Daran hängen vor allem materielle Vergünstigungen wie billigere Wohnungen, freie Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder bessere ärztliche Versorgung. Er wurde abgelehnt.

Jungle World
Jungle World Nummer 33 vom 06.08.2003

kt / hagalil.com / 2003-08-08

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