Zentrum gegen Vertreibungen:
Zerteiltes Vertreibungs-Gedenken
Soll im geplanten "Zentrum gegen Vertreibungen" vor allem
der deutsche oder der europäische Blickwinkel gepflegt werden? Soll es Mahnmal
oder Archiv sein? Berlin oder Wroclaw/Breslau? Nötig oder nicht? Die
Interessengruppen sind aufgestellt...
Christian Semler
Seit der Bund der Vertriebenen (BdV) am 6. September 2000 das Projekt eines
Zentrums gegen Vertreibungen mit Sitz in Berlin aus der Taufe hob, hat das
Unternehmen eine Eigendynamik entwickelt, die es zunehmend schwerer macht, eine
schlüssige Gegenkonzeption zu entwickeln respektive den Nutzen des Projekts
generell zu bestreiten. Am 14. Juli dieses Jahres nun hat der
SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel eine Erklärung ostmitteleuropäischer und
deutscher Politiker und Intellektueller vorgelegt, die sich für ein
"Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen, Zwangsaussiedlungen und
Deportationen" ausspricht. Der Vorschlag versteht sich als Alternative zum
geplanten Zentrum des BdV.
Das unter dem gemeinsamen Vorsitz von Erika Steinbach (CDU-MdB und Vorsitzender
des BdV) und Peter Glotz (ehemaligem SPD-Multifunktionär und gebürtigem
Sudetendeutschen) vorangetriebene Projekt will "ausgehend vom national
erfahrbaren Schicksal der deutschen Vertriebenen den Blick auch auf das
Vertreibungsschicksal anderer Völker lenken". Das Zentrum versteht sich als
Dokumentations-, Archiv-, Forschungs- und Begegnungsstätte.
Im Sommer vergangenen Jahres fasste der Bundestag einen Beschluss, der die
Errichtung eines Zentrums grundsätzlich begrüßte, aber ausdrücklich seine
"europäische Orientierung" hervorhob. Innenminister Otto Schily (SPD) sah dabei
das BdV-Zentrumsprojekt als Grundlage an und befürwortete die Einrichtung eines
Arbeitsausschusses. Zahlreiche SPD-Abgeordnete und die Grünen blieben in
Reserve. Zu diesem Zeitpunkt hatte Markus Meckel, unterstützt von den polnischen
Publizisten Adam Michnik und Adam Krzeminski, erstmals die Errichtung eines
europäischen Vertreibungszentrums mit Sitz in Wroclaw (Breslau) lanciert, ohne
freilich auf begeisterte Zustimmung der Breslauer Instanzen zu stoßen. Seither
verlagerte sich die Diskussion aus den Medien in die Seminarräume.
In der laufenden Auseinandersetzung stehen sich vier Positionen gegenüber. Der
BdV hält es als Interessenverband für sein selbstverständliches Recht, an das
Schicksal der vertriebenen Deutschen dauerhaft zu erinnern, und fühlt sich auf
der politischen Ebene einem Versuch der Marginalisierung ausgesetzt, der
allerdings angesichts eines neuen Interesses am Vertriebenenschicksal
gesellschaftlich zum Scheitern verurteilt sei. Das Konzept des BdV sei dezidiert
nichtnationalistisch, beziehe es doch auch andere Vertreibungen in diesem
Jahrhundert ein.
Die Gegenposition beziehen eine Reihe von Wissenschaftlern, darunter führend
Markus Mildenberger, die ein Zentrum gegen Vertreibungen in jeder Form für
überflüssig und schädlich halten. Wissenschaftlich müssten die Vertreibungen in
ihrem je spezifischen Kontext studiert werden, was die jeweilige Ausprägung des
Verhältnisses von Nationalismus, Krieg und Massenvertreibungen einschließe.
Zudem sei zweifelhaft, ob man sich überhaupt auf eine brauchbare
Ausgangsdefinition einigen könne. Für ein gemeinsames Erinnern seien die
emotionalen Grundstimmungen zu unterschiedlich. Bliebe die Funktion als Mahnmal.
Hier aber sei die Gefahr der Instrumentalisierung seitens der
Vertriebenenfunktionäre, nämlich Forderungen an die "Vertreiberstaaten" zu
richtern, offensichtlich.
Ablehnend äußern sich auch Vertreter lokaler oder regionaler Initiativen, die
seit langem "vor Ort" Vertriebene verschiedener Nationen zusammenführen -
beispielhaft hierfür die Begegnungen vertriebener Deutscher von jenseits der
Oder mit vertriebenen Polen von jenseits des Bug. Initiativen dieser Art
entstanden nicht im Rahmen des Bundes der Vertriebenen, sondern gegen ihn.
Die Anhänger der "Europäisierung" schließlich verkennen diese Argumente nicht,
sind aber der Meinung, sie durch eine gleichberechtigte Erarbeitung eines
Konzepts überwinden zu können. Sie verweisen auf die positive Arbeit von
gemischten Historikerkommissionen. Kein Wunder, dass die Anhänger der
"Europäisierung" das Schwergewicht auf Forschung, Dokumentation und Aufklärung
legen. Sie sind der Meinung, hier liege das Gros der Arbeit noch vor uns. Zu
dieser Richtung zählt führend der Frankfurter Osteuropa-Historiker Karl
Schlögel.
Gegen den BdV wird von den Gegnern seines Projekts übereinstimmend ins Feld
geführt, sein Europabezug sei bloßer Schein, es handle sich im Kern um den
Versuch, die eigene künftige Existenzberechtigung nachzuweisen, die Vertreibung
der Deutschen von ihren geschichtlichen Ursachen zu trennen und einen
nationalistischen Opfermythos zu konstruieren. Hier schließt sich der Kreis zu
den Debatten um den Bombenkrieg. Eine prinzipielle Auseinandersetzung um das
deutsche Geschichtsbild steht an.
taz
taz vom 17.07.2003
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/ 2003-07-26
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