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Judentum und Israel
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Sport und Antisemitismus:
100 Jahre Tour de France

Die Tour wurde indirekt durch eine Initiative judenfeindlicher Kreise ermöglicht...

Ralf Schröder und Hubert Dahlkamp

Als am 1. Juli 1903 am Stadtrand von Paris die erste Tour de France gestartet wurde, war dieses neue Rundrennen mittelbar auch das Ergebnis eines politischen und gesellschaftlichen Skandals, der das öffentliche Leben Frankreichs über Jahre prägte.
Unter dem Verdacht der Spionage für Deutschland war 1894 der Hauptmann Alfred Dreyfus verhaftet worden. Er habe, so lautete die Anklage, einen französischen Verteidigungsplan an deutsche Militärs verraten. Dreyfus wurde vom Obersten Kriegsgericht für schuldig befunden und 1895 auf die Teufelsinsel in Guayana deportiert, die früher als Verbannungsort für Leprakranke gedient hatte. Mit dem Abtransport des Offiziers weitete sich die Angelegenheit zur Staatsaffäre aus. Kritiker der Anklage wiesen nach, dass sich das Verfahren gegen Dreyfus auf zahlreiche Fälschungen und Manipulationen gestützt hatte.
Die Motive für die Kampagne entsprangen dem damals in etlichen europäischen Ländern grassierenden Antisemitismus. Dreyfus war der erste jüdische Offizier im Generalstab der französischen Armee und galt deshalb in weiten Teilen des militärischen und gesellschaftlichen Establishments als untragbar.
Wie stark die Judenfeindschaft damals auch in Frankreich war, zeigt der Erfolg der von Eduard Drumont verfassten antisemitischen Hetzschrift »La France juive«, die während der Dreyfus-Debatte 150 000mal verkauft wurde. Gegen die von Kirchen und Konservativen gestützte antisemitische Front richtete Emile Zola, der übrigens außerordentlich fahrradbegeistert war, seine berühmte Streitschrift »J’accuse« (»Ich klage an«).
Die Auseinandersetzungen um Dreyfus wurden auch auf der Bühne des Sports ausgetragen, wo insbesondere Zeitungsverleger ihre Möglichkeiten zur Parteinahme nutzten. Einer von ihnen war Pierre Giffard; mit Le Vélo gab er die größte französische Sportzeitung heraus, und um deren tägliche Auflage von 80 000 Exemplaren weiter zu steigern, hatte er verschiedene Veranstaltungen organisiert, darunter auch die bei den Lesern sehr beliebte Radfernfahrt von Bordeaux nach Paris, die er seit 1891 veranstaltete und über die Vélo ausführlich berichtete.
Gleichzeitig war Giffard einer der einflussreichsten Kritiker der Anklage gegen Dreyfus. U.a. im Petit Journal, das ebenfalls zu seinem Presseimperium gehörte, forderte der scharfsinnige Giffard eine Revision des Verfahrens. Dieser Standpunkt brachte ihn – wenig verwunderlich – in Konflikt mit seinen großen Anzeigenkunden aus der Fahrrad- und Autoindustrie; die Unternehmer, mehrheitlich konservativ und in der Dreyfus-Frage auf Linie der Anklage, wollten nicht in politisch unzuverlässigen Zeitschriften werben. Umgekehrt war Giffard so frei, im Jahr 1900 die Anzeigen seines Großkunden Marquis de Dion abzulehnen. Als Hersteller von Automobilen und Velos gründete dieser, unterstützt von anderen namhaften Unternehmern, eine eigene Zeitschrift.
L’Auto-Vélo erschien erstmals am 16. Oktober 1900. Verantwortlicher Chefredakteur war Henri Desgrange, ein gelernter Jurist, der selbst ein erfolgreicher Radsportler gewesen war. Sein Start als Zeitungschef allerdings verlief ziemlich holprig. Kaum war sein Sportblatt auf dem Markt, da ging Giffard wegen des Titels mit einer Plagiatsklage gerichtlich gegen ihn vor und bekam Recht.
Desgrange musste sein Blatt in L’Auto umbenennen und machte sich, während im Hintergrund seine Geldgeber auf Erfolge warteten, angestrengt Gedanken über eine Steigerung der Auflage. Spektakuläre Massenveranstaltungen wären dazu in hohem Maße geeignet gewesen, doch die Organisation einer weiteren Radfernfahrt barg die Gefahr, zum verlachten Double von Vélo zu werden. Desgrange hatte nur die Alternative, eine Veranstaltung zu organisieren, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen würde.
Sein Ressortleiter für die Radsportberichterstattung, Geo Lefèvre, hatte schließlich die Idee, an mehreren aufeinander folgenden Tagen verschiedene französische Städte anzufahren – eine Art »Circuit de France«. Desgrange zögerte, doch dann erinnerte er sich an ein früheres Abenteuer. 1895, als Rekordfahrten über lange Distanzen in Mode waren, hatte Théophile Joyeux eine Frankreichtour auf dem Rad unternommen und in 19 Tagen ca. 4 500 Kilometer zurückgelegt. Desgrange hatte seinerzeit zum Tross und zu denen gehört, die den erschöpften und demoralisierten Joyeux immer wieder zur Weiterfahrt überredeten. Der Chefredakteur wusste also: Eine Rundfahrt – das geht!
Im Frühjahr 1903 schrieb Desgrange in L’Auto eine »Tour de France« aus, die 19 Tage dauern sollte. Als Anreiz für die Sportler wurden 20 000 Francs an Preisgeldern ausgelobt, 3 000 davon waren für den Sieger bestimmt. Die 50 Besten wollte Desgrange täglich mit je fünf Francs belohnen. Mit diesen Konditionen hatte die Tour de France von Beginn an einen professionellen – und keinen touristischen – Charakter, denn für die Bewältigung der Etappenfahrt kamen aus sportlichen und terminlichen Gründen nur Berufsfahrer in Betracht. Doch die meldeten sich nur zögerlich. Lediglich 27 Radsportler bekundeten zunächst ihr Interesse, und Desgranges Konkurrent Giffard bedachte die spärliche Resonanz sogleich mit hämischen Kommentaren.
Um zu vermeiden, dass am Ende dieser Tour eine Handvoll »bons hommes« unter dem Gejohle Giffards ins Ziel rollen würde, richtete Desgranges erneut eine Aufforderung an die Fahrer; neben allerlei nationalistischen und patriotischen Appellen enthielt sie die Zusicherung, dass das Rennen für keinen der Sportler ein Verlust werden könne. »Die Hoteliers bieten ihnen Sonderpreise an und die Zuschüsse der Organisation sind großzügig. Und vergesst nicht, dass jeder, der etwas leistet, für seine zehn Francs Startgeld hohe Preise gewinnen kann. Zauderer, gebt eure Meldung ab.«
Diesmal war der Appell erfolgreich. Kurz nach 15 Uhr setzten sich am 1. Juli 60 Fahrer auf ihre Rennräder und starteten zur ersten Tour-Etappe in Richtung Lyon.

www.jungle-world.com
Jungle World (Nummer 29 vom 09.07.2003)

kt / hagalil.com / 2003-07-10

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