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Potzlow:
Bronx in der Uckermark

Vor einem Jahr wurde im brandenburgischen Potzlow ein 16jähriger ermordet...

Gisela Frielinghaus

Der Fall hat alles, was Journalisten brauchen. Man kann nachdenkliche Reportagen genauso gut verfertigen wie grelle Bild-Titelseiten. Vor einem Jahr - am 12. Juli 2002- ist in dem brandenburgischen Dorf Potzlow ein grauenhaftes Verbrechen passiert. Begangen von drei Jugendlichen. In einer Gegend, die von der Politik abgeschrieben ist. Mindestens die Hälfte der Bewohner ist arbeitslos. Sie brachten einen Jungen um, mit dem sie regelmäßig zusammen gewesen waren. Nachdem sie ihn zuvor stundenlang gequält und gedemütigt hatten - in Hörweite von Nachbarn, die sich nicht einmischten - , tötete einer der Täter ihn nach eigenen Angaben durch einen sogenannten Bordsteinkick. Die Methode hatten sich die jungen Männer zuvor viele Male gemeinsam in dem Film »American History X« angeschaut.

Der Film selbst erzählt paradoxerweise die Geschichte der Läuterung eines Neonazis. Die drei Jugendlichen, gegen die wegen der Tat seit dem 26. Mai vor dem Neuruppiner Landgericht verhandelt wird, bewegen sich seit Jahren im Neonazimilieu. Ihr Opfer, den 16jährigen Marinus Schöberl, sollen sie in der Tatnacht gezwungen haben, sich als »Jude« zu bezeichnen. Ohne genau zu wissen, was das eigentlich ist, wie einer der Angeklagten später zu Protokoll gab. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten deshalb und weil sie ihr Opfer offenkundig wegen seiner Art sich zu kleiden und wegen eines Sprachfehlers als minderwertig ansahen, Mord aus »niederer Gesinnung« wie auch zur Verdeckung der vorangegangenen schweren Körperverletzung vor. Und sie geht von einem rechtsextremistischen Tatmotiv aus.

Nachdem die nun vor Gericht Stehenden mehrere Bekannte zum Tatort, einem stillgelegten Stall bei Potzlow, geführt und ihnen die Überreste ihres Opfers in der ehemaligen Jauchegrube gezeigt hatten, kam das unfaßbare Geschehen ans Licht. Ein Jugendlicher informierte Mitte November die Polizei - trotz der Drohungen der mutmaßlichen Täter, ihm werde dann das gleiche passieren wie Marinus. In den ersten polizeilichen Vernehmungen gestanden die drei Angeklagten, die Brüder Marco (24) und Marcel S. (18) und Sebastian F. (18) alles, inklusive der Details dessen, was sie Marinus angetan hatten. Offenbar hatten sie den Drang, sich durch ein Geständnis zumindest teilweise von dem Druck zu befreien, der nach der Tat auf ihnen lastete. Die Mutter von Marco und Marcel sagte im Prozeß aus, die einzige Veränderung, die sie nach der Tatnacht an ihren Söhnen bemerkt habe, sei eine weitere Zunahme ihres schon vorher exzessiven Alkohol- und Drogenkonsums gewesen.Doch gerade die Protokolle der polizeilichen Vernehmungen nutzen die Anwälte der Verteidiger, um das Prozeßende hinauszuzögern oder gar das zu erwartende Strafmaß wesentlich zu mindern. Den Umstand, daß die Eltern bei der Vernehmung von Marcel S. und Sebastian F., die damals noch nicht volljährig waren, nicht ausdrücklich zur Teilnahme an den Gesprächen eingeladen wurden, sehen sie einen Verstoß gegen Paragraph 67 des Jugendgerichtsgesetzes. Die Verteidiger kritisierten, Geständnisse unter diesen »dubiosen Gesichtspunkten« regten zu Zweifeln an. Es müsse auch deshalb besonders gründlich gearbeitet werden, weil es keine unbeteiligten Zeugen für das Verbrechen gebe. Das Urteil, das ursprünglich bereits am 18. Juni gesprochen werden sollte, wird aufgrund der Verzögerung, die durch die ausführliche Vernehmung von Eltern und Ermittlungsbeamten eingetreten ist, mittlerweile erst für Mitte August erwartet.

Die Polizisten widersprachen in ihren Aussagen teilweise denen der Eltern. Sie erklärten, sie hätten die Jugendlichen auf ihr Recht aufmerksam gemacht, die Eltern dabeizuhaben. Dies hätten sie jedoch abgelehnt. Dennoch erhalten die Anwälte ihren im Juni gestellten Antrag auf ein Beweisverwertungsverbot aufrecht.

Die Vernehmung von Jugendlichen, die mit den Beschuldigten zusammenlebten und lernten, offenbarten in vielen Fällen ein erschütterndes Maß an Gleichgültigkeit. Sie wollten vor allem in Ruhe gelassen werden. Das sagten zwei von ihnen dem RBB Brandenburg in aller Deutlichkeit, nachdem ihnen zuvor im Gerichtssaal kein vollständiger Satz zu entlocken war. Auch Rassismus wird von Jugendlichen als Kavaliersdelikt gesehen. Ein junger Mann bestätigte, daß eine dunkelhäutige Auszubildende von Marcel S. als »Negersau« bezeichnet worden ist und gab an, er habe solche Ausdrücke auch gebraucht. Das sei doch normal.

Der Potsdamer Rechtsmediziner Dietmar Schröpfer sagte bei der Vorstellung des Obduktionsberichtes an, der Sprung ins Genick des Opfers habe so schwere Hirnverletzungen bewirkt, daß der Tod in wenigen Minuten eingetreten sein müsse. Der in seinen Einzelheiten schreckliche Bericht wurde von den Angeklagten ohne erkennbare Regung angehört.

Aus Potzlow waren beim Prozeßauftakt nur drei Bürger anwesend, unter ihnen die später als Zeugin vernommene Petra Freiberg und der Bürgermeister Peter Feike. Im Dorf versucht man offenbar, überwiegend zu vergessen. Lethargie durch jahrelanges Fehlen eines Lebensinhalts, der für viele früher in ihrer Arbeit bestand, könnte eine Erklärung sein. Die Tristesse wird im Alkohol ertränkt, die Kinder kommen noch früher als anderswo mit dieser Droge in Berührung. Rechte Rattenfänger haben hier ein leichtes Spiel. Und jemand, an dem man seinen Haß abreagieren kann, findet sich auch in einer Region, in der es kaum Ausländer gibt.

Junge Welt
Junge Welt vom 12.07.2003

kt / hagalil.com / 2003-07-12

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