Tschechien und die Sudetendeutsche:
Die Münchner Abkommen
Mit dem EU-Beitritt Tschechiens steigen die Chancen der
Sudetendeutschen, wieder das zu werden, was sie mal waren: Beherrscher eines
Mustergaus...
Erich Später
In seinen Lebenserinnerungen schreibt Klaus Mann über die Republik, die ihn und
seine Familie 1936 einbürgerte: »Die Tschechoslowakei Masaryks und Benes’ hätte
verdient, dass man um ihretwillen das Äußerste riskierte. Es war ein gutes Land,
eine gute Demokratie. Von allen europäischen Völkern waren es die Tschechen, die
damals am mutigsten und am klarsten eben die Ideale und Überlieferungen
repräsentierten, die in Deutschland mit Füßen getreten wurden.«
Die Verbündeten der CSR wollen aber nichts riskieren für den kleinen und jungen
Staat, der Mitte der dreißiger Jahre von den politischen Vorstellungen des
Staatspräsidenten Thomas Masaryk (1918 bis 1935) und seines Außenministers und
Nachfolgers Edward Benes (1935 bis 1938 und 1940 bis 1948) geprägt ist.
Am 1. Oktober 1938 überschreiten Verbände der Wehrmacht die Grenzen der
Tschechoslowakei. Von England und Frankreich im Stich gelassen, muss die
Republik, wie es das Münchner Abkommen von 1938 festlegt, den deutschen Truppen
28 000 Quadratkilometer ihres Landes überlassen, das ist ein Fünftel des
Staatsgebietes. Wenige Monate später – im März 1939 – gibt es die
Tschechoslowakische Republik nicht mehr.
Es ist das Ende eines liberalen Staates. Die 1920 verabschiedete demokratische
Verfassung der CSR garantierte allen Bürgern der Republik volle
staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Konstituiert aus den historischen Ländern
der böhmischen Krone, der Slowakei und der Karpatho-Ukraine, folgte die Republik
in ihrem Staatsverständnis den westlichen Traditionen einer Staatsbürgernation,
die sich politisch und territorial definiert. Allen Minderheiten, auch der
deutschen, wurde kulturelle Autonomie und die eigenständige Verwaltung ihrer
Schulen zugestanden.
Deutsche Nationalisten hingegen gebrauchen bereits kurz nach der Staatsgründung
die Worte »Sudetenland« und »Sudetendeutsche« als politische Kampfbegriffe. Vor
1918 waren sie als Selbstbezeichnung der Deutschen in Böhmen und Mähren kaum
gebräuchlich. Die Begriffe werden eingeführt, um jenseits aller geographischen,
ökonomischen, politischen und sozialen Unterschiede eine völkische deutsche
»Kampf- und Schicksalsgemeinschaft« der in den Grenzgebieten der CSR lebenden
Staatsbürger deutscher Herkunft zu definieren.
Der Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 wird im Sudetenland mit
Begeisterung aufgenommen. Der demokratische tschechoslowakische Staat versucht,
die wachsenden Provokationen der völkischen Kampfverbände zu bekämpfen. Die
Führer der deutsch-völkischen DNSDAP etwa werden verhaftet und ihre Organisation
wird im November 1933 verboten. Als Nachfolgeorganisation gründet der Führer der
radikal antisemitischen Turnervereinigung, Konrad Henlein, im gleichen Monat die
Sudetendeutsche Heimatfront. Sie repräsentiert ein breites Spektrum völkischer
Organisationen und Verbände, die bereits den »Arierparagraphen« und das
Führerprinzip als politische Grundlage akzeptiert haben.
Die Sudetendeutsche Heimatfront, 1935 umbenannt in Sudetendeutsche Partei, ist
nicht nur die fünfte Kolonne des nationalsozialistischen Deutschlands. Der hohe
Grad ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und Verankerung im Sudetenland zeigt die
freiwillige Verwandlung von Bürgern eines demokratischen Staates in Mitglieder
eines homogenisierten Stammeskörpers, lange vor dem Anschluss an Deutschland.
Ab Herbst 1937 unterstützt die Sudetendeutsche Partei offensiv die deutsche
Aggression gegen die CSR. Bei den Kommunalwahlen im Mai und Juni 1938 erhält die
Partei, die inzwischen 1,2 Millionen Mitglieder zählt, vom deutschen Teil der
Bevölkerung zwischen 80 und 90 Prozent der Stimmen. Im Frühjahr und Sommer kommt
es im Sudetenland analog zu den Vorgängen in Deutschland zu Gewalt gegen die
jüdische Bevölkerung, die sich im September zu lokalen Pogromen steigert. Die
Städte Warnsdorf und Komotau brüsten sich bereits im September damit, sie seien
»judenfrei«.
Der Einmarsch der Wehrmacht und der SS in den ersten Oktobertagen wird von der
sudetendeutschen Bevölkerung mit euphorischer Begeisterung gefeiert. Und der
Terror gegen die jüdische Bevölkerung wird durch die Übernahme der
antisemitischen deutschen Gesetze innerhalb von zwei Monaten
institutionalisiert. Die Massenflucht der jüdischen Bevölkerung, es handelt sich
um etwa 30 000 Menschen, beschleunigt und erleichtert die Inbesitznahme ihres
Eigentums. Im von den Nazis zum Mustergau ernannten Sudetenland verbleiben 400
000 Menschen tschechischer Herkunft. Ihnen wird der öffentliche Gebrauch ihrer
Sprache untersagt, ihre Schulen und kulturellen Einrichtungen werden verboten.
Die Auflösung der staatlichen Existenz der CSR im März 1939 und die Bildung des
»Reichsprotektorats Böhmen und Mähren« auf dem verbliebenen Territorium des
tschechischen Teils der Republik feiern die Sudetendeutschen als endgültigen
Sieg über das »minderwertige Tschechentum«, wie es damals heißt. Im September
1941 wird zur Freude der Sudetendeutschen der Chef des
Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, zum stellvertretenden
Reichsprotektor ernannt. Er stirbt nach einem im Auftrag von Edward Benes am 27.
Mai 1942 durchgeführten Attentat.
In der historischen Erinnerung der tschechischen Nation bleibt der Terror der
deutschen Besatzer seit dem Amtsantritt Heydrichs und seine nochmalige
Steigerung nach dessen Tötung als »Heydrichade« lebendig.
Neben den Massenhinrichtungen und Deportationen impliziert der Begriff auch die
Panik und allgegenwärtige Todesangst der Bevölkerung. Bis zum 1. September 1942
werden nach offiziellen Zahlen der deutschen Besatzer 1 400 Menschen
hingerichtet. Das Bergarbeiterdorf Lidice wird dem Erdboden gleichgemacht, die
Männer werden erschossen, die Frauen nach Ravensbrück deportiert. Die als nicht
»eindeutschungsfähig« klassifizierten Kinder im Alter von ein bis vierzehn
Jahren werden von den Nazis in den Gaskammern des Vernichtungslagers Chelmno
getötet.
Zwischen 1941 und 1944 ermorden die Deutschen und ihre Kollaborateure 260 000
jüdische Bürger der ehemaligen CSR. Die größte Massenhinrichtung findet am 27.
und 28. August 1941 in der ukrainischen Stadt Kamenz-Podolsk statt. Deutsche
Tötungskommandos erschießen zwischen 14 000 und 18 000 jüdische Bürger der CSR.
Wegen des Vormarschs der Alliierten im Frühjahr 1945 treiben die Deutschen
Zehntausende Gefangene der Konzentrations- und Vernichtungslager durch und in
das Sudetenland. Die tschechische Bevölkerung reagiert geschockt und voller
Entsetzen. Sie findet ihre Angst, dass die Deutschen zu allem fähig sind,
bestätigt. »Keine Propaganda gegen die Deutschen könnte so wirksam sein wie der
Anblick dieser Elendsgestalten«, notiert ein tschechischer Zeuge aufgrund des
monatelang vor aller Augen durchgeführten Massenmords.
Nach dem Sieg der Alliierten und dem Ende der Besatzung Tschechiens im Frühjahr
und Sommer 1945 entlädt sich der aufgestaute Hass gegen alle Deutschen. Es kommt
in den Gebieten des ehemaligen Sudetengaus zu Lynchaktionen, Selbstjustiz und
Exekutionen, denen auch offensichtlich Unschuldige zum Opfer fallen.
Die Zustände sind geprägt von der Willkür lokaler Behörden und Milizen. Hinzu
kommen marodierende Banden von Kriminellen und Deserteuren, die das Klima von
Gewalt und Rechtlosigkeit verschärfen. Rache, Vergeltung, aber auch kriminelle
Gier und Mordlust kosten nach Schätzungen deutscher und tschechischer Historiker
etwa 15 000 Menschen das Leben.
Mit der Konsolidierung staatlicher Macht ab Herbst 1945 beruhigen sich die
Verhältnisse allmählich.
Im Sommer 1945 beschließt die Potsdamer Konferenz der drei alliierten
Siegermächte den Transfer der Deutschen aus Polen, der CSR und Ungarn. Der
alliierte Kontrollrat genehmigt am 20. November 1945 die Abschiebung von 2,5
Millionen Deutschen. Bis 1947 verlassen drei Millionen Deutsche die CSR.
Teilweise werden sie dazu gezwungen, teilweise flüchten sie, um nicht für
begangene Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden.
In der Tschechoslowakei werden die Potsdamer Beschlüsse der Alliierten ergänzt
durch Dekrete von Staatspräsident Benes. Sie beinhalten u.a. die Annullierung
des Münchner Abkommens, die Auflösung der Strukturen der deutschen
Besatzungsherrschaft und der faschistischen slowakischen Republik sowie die
Beschlagnahmung des landwirtschaftlichen Vermögens der Deutschen und »der
Verräter und Feinde des tschechischen Volkes«. Die Benes-Dekrete garantieren in
ihrer Gesamtheit die Kontinuität tschechoslowakischer Staatlichkeit.
Vier Monate nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland im September 1949
treffen sich in Stuttgart 70 ehemalige führende NS-Funktionäre des früheren
Mustergaus. Als wichtigste organisatorische Aufgabe wird die Gründung einer
einheitlichen Volksgruppenorganisation angesehen. Der organisatorische und
politische Rahmen der zu gründenden »Vertriebenenorganisation der
Sudetendeutschen« wird auf diesem Treffen festgeschrieben. Beim ersten
Pfingsttreffen 1950 in Kempten erfolgt die offizielle Gründung der
sudetendeutschen Landsmannschaft.
In der damals verabschiedeten und bis heute gültigen Satzung der Landsmannschaft
wird faktisch die Wiederinkraftsetzung des Münchener Abkommens von 1938
verlangt. Gefordert wird, »den Rechtsanspruch auf die Heimat, deren
Wiedergewinnung und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht der Volksgruppe
durchzusetzen«. Hinzu kommt die Forderung nach »Rückgabe des konfiszierten
Vermögens auf der Basis einer gerechten Entschädigung«.
Die »Volksgruppenzugehörigkeit« überträgt sich, wie alle Ansprüche, automatisch
auf alle Nachkommen in der Bundesrepublik. Bereits 1952 wurden vom Bundestag im
so genannten Lastenausgleichsgesetz vielfältige Entschädigungszahlungen für die
»Vertriebenen« beschlossen. Bis 1991 addieren sich die Zahlungen auf über 121
Milliarden Mark.
Hieß es Mitte der fünfziger Jahre noch, dass 20 000 Deutsche Opfer tschechischer
Gewalt geworden seien, so haben sich die angegebenen Zahlen bis heute mehr als
verzehnfacht. Mittlerweile wird gar behauptet, 250 000 Sudetendeutsche seien
während der Vertreibung getötet worden – eine politische Konstruktion der
Sudetendeutschen, die sich als Opferkollektiv wahrnehmen, dessen Leiden
identisch sei mit dem Schicksal der 260 000 tatsächlich von den Deutschen
ermordeten jüdischen Bürger der damaligen CSR. Bis heute stilisiert die
Propaganda der Landsmannschaft die »sudetendeutsche Volksgemeinschaft« zum
unschuldigen Opfer tschechoslowakischer Gewaltpolitik.
Nach 1989 sind die deutschen Vertriebenenverbände gar zu Akteuren der
bundesdeutschen Außenpolitik geworden. Im Mittelpunkt steht dabei nicht mehr der
Traum von Großdeutschland in den Grenzen von 1939, sondern das Bemühen, so
genannte Volksgruppenrechte für zu rekonstruierende deutsche Minderheiten in den
mittel- und osteuropäischen Staaten durchzusetzen, um mit ihrer Hilfe
politischen, ökonomischen und kulturellen Einfluss auf die Innen- und
Außenpolitik der Nachbarstaaten zu gewinnen.
Offene Forderungen nach einer Revision der Nachkriegsgrenzen sind zwar
spätestens mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Abschluss des
2-plus-4-Vertrages obsolet geworden. Aber der 1992 abgeschlossene Vertrag
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der damals noch Tschechischen und
Slowakischen Förderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche
Zusammenarbeit sowie die sich daran anschließende »deutsch- tschechische
Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen« von 1997 werden von der
sudetendeutschen Landsmannschaft abgelehnt. Die dort festgelegten vertraglichen
Regelungen über die deutsche Minderheit in der CSR erweitern jedoch erheblich
ihren politischen Handlungsspielraum.
Die juristische Schaffung einer deutschen Minderheit in Tschechien, faktisch
eine Einführung des deutschen völkischen Prinzips in die Rechtsordnung der
Tschechischen Republik, hat dazu geführt, dass bis 2003 mehr als 80 000 neue
deutsche Staatsbürgerschaften verliehen wurden. Diese Zahl wird in den nächsten
Jahren noch größer werden. Der Nachweis einer deutschen Abstammung, etwa durch
die Erfassung in so genannten Volksgruppenlisten, die der Germanisierungspolitik
in der Zeit der deutschen Herrschaft dienten, genügt zur Erlangung der deutschen
Staatsbürgerschaft.
Die Landesversammlung der »Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien« besteht
zurzeit aus 24 Regionalverbänden und unterhält 13 so genannte Begegnungsstätten.
Das Hauptziel der Landesversammlung ist die »Wiederbelebung der deutschen
Sprache und kulturellen Selbstverwirklichung der deutschen Minderheit in der
Tschechischen Republik«. Die deutschen Verbände erhalten vielfältige
Unterstützung aus Deutschland. Von der Bundesregierung flossen von 1999 bis 2001
vier Millionen Mark Fördergelder.
Die Führung der Landesversammlung arbeitet eng mit der sudetendeutschen
Landsmannschaft zusammen. Auf allen größeren Zusammenkünften in Deutschland ist
sie vertreten. Regionale Gliederungen der Landsmannschaft, die so genannten
Heimatkreise und Landschaften, übernehmen Patenschaften bei der Gründung von
regionalen und örtlichen Zusammenschlüssen von »heimatverbliebenen« Deutschen.
Nach dem EU-Beitritt Tschechiens und der damit einhergehenden Schwächung der
staatlichen Souveränitätsrechte wird sich der politische und juristische
Einfluss der Sudetendeutschen Landsmannschaft und der ihr verbundenen neuen und
alten »Heimatverbliebenen« beträchtlich erhöhen.
Die von österreichischen und deutschen Politikern getragene Kampagne gegen die
Benes- Dekrete hat das politische Gewicht der Landsmannschaft in der
Bundesrepublik zudem wesentlich erhöht.
Zentrale Forderungen der Landsmannschaft an die Tschechische Republik sind nach
wie vor die Anerkennung des »Rechts auf Heimat« als Bestandteil der universellen
Menschenrechte und die volle rechtliche Gleichstellung der »Vertriebenen« und
der deutschen Minderheit vor dem tschechischen Staat und vor den Gerichten, u.a.
um damit die Rückgabe des nach 1945 konfiszierten Eigentums einzuklagen. Die
Regierung Tschechiens wird aufgefordert, mit den »Repräsentanten der
vertriebenen sudetendeutschen Volksgruppe« in Verhandlungen einzutreten.
Während der Bemühungen Tschechiens um einen EU-Beitritt ist dies ein deutliches
Signal der Landsmannschaft, ihren Kampf gegen die Souveränität und Legitimität
der Tschechischen Republik fortzusetzen und gar zu verstärken.
Nur unter günstigeren Bedingungen.
Jungle World
Jungle World (Nummer 30 vom 16.07.03)
kt /
hagalil.com
/ 2003-07-25
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