Babij Jar:
Wer die Tränen zählt
Der Kanon des Glaubwürdigen wandelt sich: Viel mehr als in
früheren Jahren betonen neue Spielfilme über die Verbrechen der NS-Zeit, dass
sie auf historisch Verbürgtes zurückgehen. So auch der von Artur Brauner unter
vielen Schwierigkeiten produzierte...
Dorothee Wenner
Ein halbes Jahrhundert lag das Projekt auf dem Produzentenschreibtisch von Artur
Brauner: Eigentlich wollte er bereits 1951 - zum zehnten Jahrestag des Massakers
von Babij Jar - diesen Film in die Kinos bringen. "Das vergessene Verbrechen"
heißt nun der Untertitel des Films, weil "Babij Jar", die
"Großmütterchenschlucht" nördlich von Kiew, bis heute im öffentlichen
Geschichtsbewusstsein Deutschlands ein nahezu weißer Fleck auf der Landkarte der
Kriegsverbrechen geblieben ist.
33.771 Juden - die deutschen Truppen haben genau Buch geführt - sind dort Ende
September 1941 erschossen beziehungsweise lebendig begraben worden. Der
inzwischen 82 Jahre alte Produzent widmet seinen neuen Film, "der noch in 100,
ja in 200 Jahren als Zeitdokument vorliegen wird", den Opfern, "die sich nicht
wehren konnten, die betrogen wurden, die nicht wussten, was mit ihnen
geschieht". Möglicherweise waren unter den ermordeten Juden von Babij Jar auch
Verwandte von Artur Brauner; er selbst ist ein Holocaust-Überlebender. Vor den
Nazis floh er aus seiner Heimatstadt Lodz; er weigerte sich, den Judenstern zu
tragen.
In "Babij Jar" muss man sich durch eine enorme Schicht von Zahlen, historischen
Fakten und Lebensläufen von Beteiligten durchwühlen, um zum eigentlichen Film zu
gelangen - nicht nur, wenn man darüber liest oder schreibt. So weist schon der
Vorspann darauf hin, dass die kommende Geschichte authentische Schicksale
rekonstruiert. Dann rollt das Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko Zeile für Zeile
über die Leinwand " …Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal …". Auf das
Versepos lässt der Regisseur Jeff Kanew historische Aufnahmen aus dem
Russlandfeldzug folgen, die das Schwarzweiß der Spielfilmhandlung noch etwas
deutlicher in Richtung "So war es damals" katapultieren. Wenn dann endlich die
eigentliche Handlung beginnt, ist schon wenig später absehbar, was sich in dem
nachgebauten Doppelhaus am Stadtrand von Kiew zutragen wird.
In dem Szenario leben im historischen September 1941 auf engstem Raum eine
jüdische und eine ukrainische Familie nebeneinander und spielen all die Rollen,
die es in Filmen dieses Genres braucht. Auf der einen Seite des Doppelhauses
wohnt der gutmütige Großvater (Michael Degen), der den Berichten der jüdischen
Flüchtlinge aus der Westukraine, die er in seinem Stall auffindet, nicht
wirklich glauben mag. Seine nichtjüdische Schwiegertochter Natalja (Barbara de
Rossi) , Ehefrau seines Sohnes Sascha, erkennt die Dramatik der Situation. Aber
Saschas Bein wurde amputiert - er hatte gegen die Nazis gekämpft -, dadurch wird
die zwingend notwendige Flucht der Familie gen Osten erschwert.
Auf der anderen Seite des Doppelhauses lebt die ukrainische Familie Onufrienko,
die - so geht aus den Dialogen hervor - früher einmal gut mit den jüdischen
Nachbarn befreundet war. Doch schon zu Beginn des Films führt das Weltgeschehen
dazu, dass bei der Mutter (Katrin Saß) ein lang verborgener Antisemitismus jäh
hervorbricht und sich in menschenverachtender Habgier äußert. Durch die Gunst
der Stunde will sie sich das Haus der Nachbarn zu Eigen machen - für die
Tochter. Um diesem Ziel näher zu kommen, denunziert sie die ehemaligen Freunde
auch noch fälschlicherweise als Partisanen. Die Tochter macht bei diesem
teuflischen Plan widerwillig mit, sie ist mit einem Mann verlobt, der später,
als Erfüllungsgehilfe beim Massenmord, zufällig erst die jüdische Familie, dann
die Schwiegermutter in spe jeweils kurz vor deren Tod wiedertrifft.
Was nämlich die Zukunftspläne der bösen Ukrainerin durchkreuzt und damit den
Handlungsverlauf erst ermöglicht, ist die zarte Liebe ihres Sohnes zu der
jüdischen Flüchtlingsfrau, die Unbekannte in der Rechnung der Denunziantin.
Diese Liebe, die trotz härtester Prüfungen die Rassengrenzen überwindet, segelt
am Ende des Films in eine Zukunft, die ungewiss bleiben muss. Aber die Zuschauer
werden dadurch mit einem kleinen Hoffnungsschimmer aus dem Kino entlassen,
nachdem sich Sascha und seine Frau im Kugelhagel der Schlucht von Babij Jar nur
noch ein letztes Mal zuflüstern konnten, wie sehr sie sich lieben, liebten.
Kurz und gut: Man könnte den Film schnell als ein altmodisches Rührstück abtun
und darauf verweisen, dass zuletzt Roman Polanski mit "Der Pianist" ein
jüdisches Schicksal in der NS-Zeit wesentlich überzeugender auf die Leinwand
gebracht hat. Die Liste der "besseren" Filme wäre lang, sicher ebenso die der
"schlechteren". Aber interessanterweise funktionieren diese Vergleiche nicht -
oder nur bedingt. Und dabei ist es wohl nur zum Teil die historische Schuld, die
es einem schwer macht, sich abfällig über den Versuch zu äußern, den namenlosen
Opfern von Babij Jar Schauspielergesichter zu leihen, damit Zeitgenossen, vor
allem aber den Nachgeborenen, Geschichte nahe gebracht wird.
Das Problem liegt vielmehr darin, dass sich die Thematik auf komplizierteste
Weise mit den Machtstrukturen des Medienzeitalters verknüpft. So weist der Film
selbst im Abspann darauf hin, dass die Filmförderanstalt mehrmals Förderanträge
des Films abgelehnt hat. Und sicher ließen sich in der 50-jährigen
Projektgeschichte zahlreiche weitere Anekdoten finden, die darüber Aufschluss
geben würden, warum es ausgerechnet für "Babij Jar" so viel persönliches und so
dauerhaftes Engagement brauchte, damit der Film realisiert werden konnte.
Schließlich hat Artur Brauner mehr als 20 Verfilmungen von Holocaust-Schicksalen
produziert. Vielleicht könnte man sich bei der Rekonstruktion der
Produktionsgeschichte mit viel Mühe doch am Ende dem Interpretationsmonopol der
Entscheidungsträger nähern.
Vergleicht man Filme über die NS-Zeit, lässt sich ein historisch äußerst
wandlungsfähiger "Kanon der Glaubwürdigkeiten" entdecken, der natürlich für
Spielfilme anders aussieht als für Dokumentationen. Insbesondere die
Annäherungsversuche der beiden vormals wesentlich klarer getrennten Genres ist
in diesem Zusammenhang interessant. Viel mehr als in früheren Jahren betonen
neue Spielfilme über die NS-Zeit die "Echtheit" ihrer Geschichten und die
Recherchen, auf denen sie beruhen. Der Hinweis im Vorspann ist dabei nur eine
von vielen Möglichkeiten: Wenn, wie etwa bei "Aimée und Jaguar" die "echte"
Protagonistin noch lebt, wird die Premiere gerne als ein feierlicher Akt von
"Autorisierung" des Werks inszeniert.
Nach einem ähnlichen Prinzip funktionierte die Vermarktung der Biografie und der
Musik von Wladislaw Szpilman, der nicht mehr lebte, als "The Pianist" gedreht
wurde. Im Dokumentarfilm hingegen lässt sich eine gegenläufige Tendenz
feststellen. Vor allem im Fernsehen werden viele kinematografische Stilmittel
benutzt, die noch vor einigen Jahren als unseriös wahrgenommen worden wären:
beispielsweise die Nachvertonung von historischem Material, das Heranzoomen auf
Fotos oder aber auch das visuelle Angleichen von Materialien unterschiedlicher
Provenienz, sodass historische und nachinszenierte Sequenzen kaum mehr zu
unterscheiden sind.
Selbstredend handelt es sich bei der Wahl für dieses oder jenes Stilmittel um
filmkünstlerische Entscheidungen, die aber nur in Ausnahmefälle unabhängig von
der geplanten Auswertung beziehungsweise der angepeilten Einschaltquote
getroffen werden. Dafür ist die Anzahl von "richtigen" Antworten beim Abfragen
mehr oder minder internalisierter Checklisten relevant: Gibt es positive
Identifikationsfiguren - auch im Feindeslager? Überleben sie - oder nicht? Kann
an Originalschauplätzen gedreht werden? Sind Regisseur/in oder Darsteller
jüdischer Herkunft?
Bei Fragen dieser Art werden am Ende Varianten der amerikanischen
Tears-per-minute-Rate ungeschriebenes Gesetz. Das entscheidet darüber, ob ein
Film gemacht wird oder nicht - und nicht etwa sein aufklärerischer Wert.
Zugleich aber gilt derzeit noch das perfide "Holocaust sells"-Motto, das bei
entsprechenden Diskussionen über den Entscheidungsträgern schwebt und
gelegentlich den einzelnen Redakteur seine ganz persönliche Verantwortung spüren
lässt.
In diesem Zusammenhang würde es sich lohnen, über den Perspektivenwechsel im
deutschen Fernsehen nachzudenken: Wie kommt es wohl, dass in der letzten Zeit
Filme über die Täter - über Hitlers Helfer, Vollstrecker, Freunde, Frauen und
Mitläufer - weit bessere Quoten zu machen scheinen als Filme über die Opfer?
In der medialen Darstellung der NS-Zeit werden sich in Zukunft Fiktion und
Nichtfiktion noch weiter annähern. Allein deswegen gehört nicht viel Fantasie
dazu, sich vorzustellen, dass kommende Generationen die prä- und postfilmischen
Umstände all dieser dann historischen Produktionen noch viel genauer beobachten
werden. Und bestimmt wird irgendwann irgendwer verständnislos darüber
räsonieren, warum einer der letzten Versuche, die ein Überlebender jener Zeit
unternahm, den Opfern von Babij Jar ein filmisches Denkmal zu setzen, doch
irgendwie scheiterte.
Zum Kinostart von "Babij Jar" im Jahr 2003 lässt sich nur so viel mit Sicherheit
voraussagen: Dieser Film wird einige, die sehr viel, und andere, die viel
weniger über Artur Brauner und das Verbrechen in der Ukraine wissen, auf komisch
deutsche Art einander näher bringen.
"Babij Jar - Das vergessene Verbrechen". Regie: Jeff Kanew. Mit Michael Degen,
Barbara de Rossi, Katrin Saß u .a. Deutschland 2002, 108 Min.
www.taz.de
taz vom 03.07.2003
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/ 2003-07-04
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