Jean-Améry:
Sehen und Lesen
Essays zur Literatur und zum Film...
Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Vorwort
Jean Améry: Werke
Jean-Améry (1912–1978) war Kulturkritiker, Philosoph,
Schriftsteller, bekannt durch seine Essays über Auschwitz und das Weiterleben
danach (»Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines
Überwältigten«, 1966). Dass er einer der ungewöhnlichsten, leidenschaftlichsten
Leser des 20.Jahrhunderts war, wird jetzt durch die Edition seiner Literatur-
und Filmessays im Band 5 der Werkausgabe sichtbar.
Im Schreiben über Literatur, hingegeben an die »Denkträume«
seiner Lektüre, hat er mehr von sich preisgegeben als sonst in seinen Büchern,
so autobiografisch sie alle sind, die Auschwitz-Essays genauso wie die Bücher
über das Altern, über den Freitod oder seine politischen und philosophischen
Schriften. Man könnte die jetzt gesammelt erscheinenden Literaturessays, die den
weitaus größeren Teil des Bands der »Aufsätze zur Literatur und zum Film«
ausmachen, auch »Bewältigungsversuche eines Überwältigten« nennen. Es sind
seismographische Studien über den Kulturbruch, der das Lesen nach Auschwitz
verändert hat. Doch diese Essays sind auch wunderbare Studien über die Zeit und
das Zeitvergehen in der Literatur, über Eros und Tod, über das bedrängte, nicht
nur von den geschichtlichen Katastrophen bedrohte Ich. Über Bücher zu schreiben,
das war für Améry eine Möglichkeit, das vielgestaltige, widersprüchliche
lebendige Ich zur Sprache zu bringen, Leidenschaft, Romantik, soziales Gewissen,
souveränen dialektischen Witz, Polemik und aufklärerische Klarsicht, aber auch
Hingabe an die Stimmen und Gesten in den gelesenen Büchern, an
Todesverfallenheit und Ich-Entgrenzung im begriffsauflösenden literarischen
Denken. Vor allem die Bücher von Marcel Proust, Thomas Mann und Heinrich Mann,
seine Lebensbücher, waren Teil seiner inneren Welt, er erlebte sich in ihnen
wirklicher als in der Wirklichkeit, und es ist kein Zufall, dass sein letztes
literarisches Projekt eine Novelle vom »Traum als Leben« der Literatur hätte
werden sollen (»Rendezvous in Oudenaarde«).
Ungewöhnlich ist Amérys Leserbiographie allein wegen des
geschichtlichen Erfahrungsgehalts dieses Leselebens im Zeitalter der
Judenvernichtung. Er kannte von Anfang an nicht die großbürgerliche kulturelle
Sicherheit, Literatur war kein selbstverständlicher Besitz, sondern für den 1912
in ärmeren Verhältnissen in Wien als Hanns Mayer Geborenen ein Mittel der
Selbstbehauptung und des Überlebenkönnens. Aus einer jüdischen Familie stammend,
bei der Mutter in der österreichischen Provinz, in Bad Ischl, aufgewachsen, kam
er als Jugendlicher nach Wien zurück, wo er sich in den zwanziger und dreißiger
Jahren als Buchhändler und Literat durchschlug. Schon damals schrieb er, im
Umkreis der Bildungsbewegung des Roten Wien, über Bücher, die ein Teil seiner
Existenz waren und ihm wie ein zweites Leben erschienen, wirklicher als das
eigene, das früh schon im antisemitischen Österreich der dreißiger Jahre, mit
dem nationalsozialistischen Deutschland als Nachbar, von der Vernichtung bedroht
war. Und er las weiter im belgischen Exil, dann im Lager im südfranzösischen
Gurs, wo er aus dem Gedächtnis eine Lyrik-Anthologie zusammenschrieb. Nach
seiner Flucht und Rückkehr nach Brüssel schloss er sich dem Widerstand an, wurde
verhaftet, gefoltert und nach Auschwitz deportiert, dorthin, wo der Geist an
eine Grenze kam und das Lesen zur Undenkbarkeit wurde. »Es führte keine Brücke
vom Tod in Auschwitz zum ›Tod in Venedig‹.« Améry überlebte, schrieb nach der
Befreiung wieder über das Lesen, nun, 1945, mit der Hoffnung auf eine sich
erneuernde Gesellschaft, orientiert am revolutionären Frankreich und an der
Résistance.
Bald folgte die Enttäuschung durch den Kalten Krieg und die
ökonomische und soziale Restauration. Der ökonomische Druck zwang ihn, der nicht
in Deutschland publizieren wollte, sich auch nicht entscheiden konnte, auf
Französisch zu schreiben, zur journalistischen Verwertung seiner Arbeiten in der
Schweiz. Mehr als 5 000 Zeitungsartikel, zum großen Teil lesenswerter
professioneller Journalismus, hatte er hinter sich, als er in der Zeit des
Frankfurter Auschwitz-Prozesses von einer kritischen Generation Intellektueller
zur Mitarbeit an deutschen Kultur- und Literaturzeitschriften und an
Rundfunksendern eingeladen wurde. Nun begann er, sich aus dem stummen »Bann« des
Nach-Auschwitz zu befreien und zu sich selber zu finden »im Bild des jüdischen
Opfers«. Aus diesem Bewusstsein entstanden von 1964 an seine Essays über
Literatur und Film. Literarisches Schreiben, Erzählen, war von früh an sein
Traum gewesen, und nun konnte er Prosa schreiben, eine nachdenkliche Prosa in
Essayform, die selbst dort, wo sie polemisch ist, wie die beiden hier
abgedruckten Essays, als Grundschicht eine »durch Meditation gebrochene,
persönliche Konfession« erkennen lässt (Améry in den Vorworten zu seiner ersten
Essaysammlung »Jenseits von Schuld und Sühne«, 1966 und 1977, Werke, Bd.2).
Er wollte mit seinem Schreiben vor allem die jungen Leute in
Deutschland erreichen, wollte, als einer, der die Katastrophe der
Judenvernichtung miterlebt hatte, dass sie diesen Bruch der Kultur in ihrem
politischen Denken realisierten – und nicht eine »faule, gedankenlose,
grundfalsche Versöhnlichkeit« akzeptierten: »Es geht mir darum, dass die Jugend
Deutschlands – die bildsame, wesenhaft generöse und nach Utopie strebende, also:
die linke – nicht unversehens hinüber gleitet zu jenen, die ihre Feinde so gut
sind wie die meinen« (Werke, Bd.2). Es sieht so aus, als seien heute, 25 Jahre
nach dem Tod von Jean Améry, die Voraussetzungen für die Realisierung dieses
Wunsches günstiger als noch zu seinen Lebzeiten. Er hatte sich gewünscht, neben
Theodor W. Adorno als ein Lehrer der Jugend in Deutschland aufgenommen zu
werden. Sein Denken ging, anders als das von Adorno, von seinen
lebensgeschichtlichen Erfahrungen aus, gewissermaßen von der biographisch
verkörperten geschichtlichen Dialektik. Darum schrieb er auch keine eigentlich
philosophische Sprache, tat alles, um verstanden zu werden. Nur einem Hang zu
sprachlichen Archaismen und aus dem Französischen geschaffenen Fremdwörtern
konnte er nicht widerstehen. Für die Fachkritik hat er nie schreiben wollen.
Amérys Begriff vom Lesen und Schreiben kann man indirekt den
paar kritischen Sätzen über die »Sterilität der Fachkritik« entnehmen, die in
dem hier abgedruckten Godard-Essay vorkommen. Was er zu sagen hat, orientiere
sich nicht an der »Fachkritik« der elitären Filmzeitschriften, sondern seine
Überlegungen wollen die eines »leidlich kinogewohnte(n) Zuschauer(s)« sein.
Dieser »leidlich kinogewohnte Zuschauer«, also ein Alltagskinogeher wie wir,
verwandelt sich im Essay in ein politisch nicht korrektes Ich, wird zur
kritischen Stimme, die sich von den gängigen Werten freimacht, sich ablöst vom
selbstverständlichen Chic der Avantgarde und, im Sinne Brechts, nach der
Funktion der Spielregeln der wohlfeilen Schocks fragt. Der alte Kinogeher wird
zum Dekonstruktivisten, der nach der Bildsyntax in den Filmen Godards fragt, das
unverbunden dargebotene »Vokabular der Epoche« nicht hinnimmt, sondern im
scheinbar Unkonventionellen eine Form der Anpassung an die Publikumserwartung
und die strukturalistische Filmkritik zu erkennen meint. Der gerühmten
»romantischen Ironie« Godards, in der Améry das Schielen nach dem
fortschrittlichen Marktsegment des Kinopublikums bemerken will, begegnet er mit
der Ironie des politischen Aufklärers, der im Kino »eine moralische Anstalt
unserer Zeit« verteidigt und sich nicht abfindet mit der »Weltrevolution« als
filmische »Bagatelle«.
Der Essay zu Gustav Freytags Roman »Soll und Haben« zeigt eine
andere Spielart von Amérys politischer Kritik, die sich in der sprachlichen Form
jeweils auf den verhandelten Gegenstand einzustellen weiß. Gegen den einst
meistgelesenen deutschen Roman, dem nicht einmal dokumentarischer Wert
zuzugestehen ist, hilft nur die Satire. Der satirische Essay ruft in Erinnerung,
was von diesem Zerrbild eines Gesellschaftsromans ausgespart wird: die deutsche
Geschichte. Im Gegenzug zur biedermeierlichen Romanwelt skizziert Améry eine
pointierte Ideologie- und Sozialgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert,
lesbar als Vorgeschichte der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. In der
altväterlichen Gestalt des einstigen Hausbuchs der Deutschen wird so das spätere
ökonomische deutsche Sendungsbewusstsein genauso entdeckt wie die Elemente jenes
exterminatorischen Antisemitismus, der »zugleich ›gesund-volkshaft‹ und auf
abstoßende Weise raffiniert« ist. Die »paar stenographischen Sigel«, die Améry
auch in anderen Essays gern denen an die Hand gibt, die das Buch nicht gelesen
haben, sind letztlich, wie alle Lektürehilfen in seinen Essays, erhellende
gesellschaftskritische Skizzen, unprätentiöse Signaturen einer geschichtlichen
Geistesgegenwart, die Améry mit seiner Kunst des Lesens vermitteln möchte. Was
er sich gewünscht haben dürfte, war, dass sein Erzählen über die gelesenen
Bücher und die gesehenen Filme nicht einfach nur »Wissensvermittlung« wäre,
sondern, wie es Günter Kunert einmal von Jean Amérys Essays sagte, »die
Vermittlung einer Perspektive, einer Sichtweise, einer Haltung«. Hans Höller,
Herausgeber des Bandes 5 der Werkausgabe Amérys Jean Améry: Jean-Luc Godard oder
Das Mißverständnis der künstlerischen Freiheit (1968) Nach der Pariser
Uraufführung von Godards »La Chinoise« (im letzten Herbst) schrieb der
Filmkritiker von Le Monde: »Nachdem man einen Film von Jean-Luc Godard gesehen
hat, kommen einem alle anderen irgendwie archaisch vor.« Wenige Wochen darauf
sah man in Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes eine dem gleichen Film
gewidmete Glosse, in der es hieß: »Godard ist geschickt wie ein Chinese, aber
nicht ein Chinese des Typs Rote Garde.
Was Garde angeht, so ist er eher ›un chien de garde‹ – ein
Wachhund. Dieser Film ist in der Tat vollkommen konservativ, um nicht zu sagen:
reaktionär! Aber dank der Originalität der Form geht der Traditionalismus des
Inhalts durch …« Ich habe keine Lust und keinen Beruf, mich hier in die
Für-und-Wider-Diskussion um Godard einzumengen, die heute in Deutschland kaum
weniger aufgeregt geführt wird als in Frankreich. Ich bin kein zünftiger
Filmkritiker, kein »Fachmann«, nur ein leidlich kinogewohnter Zuschauer. Was ich
hier vorzubringen habe über die Arbeiten Godards und, am Rande, gewisser seiner
Generationsgenossen, die vor genau zehn Jahren als Reiter auf der »Nouvelle
Vague« vor die Öffentlichkeit hintraten, kann und will nicht bestehen vor der
Fachkritik. Es will aber – und diese Ambition greift höher – sowohl die
Sterilität besagter Fachkritik bloßstellen als auch verweisen auf die soziale
und kulturelle Umwelt, die Godards Arbeiten bedingen: eine Welt der in volle
Konfusion geratenen Wertkategorien.
Die angeführten Zitate führen uns mitten hinein in die
Problematik: Le Monde beurteilt »La Chinoise« nach rein formalen Kriterien, der
Befund ist dementsprechend für Godard überaus schmeichelhaft. Les Temps Modernes
hingegen führen das soziale, beziehungsweise politische Wertmaß ein, lassen zwar
daneben das formale gelten, ordnen dieses aber jenem unter, so daß die
Erwägungen in eine entscheidende Ablehnung einmünden. Wenn es nun in der Tat so
ist, daß ein Kunstwerk vor den ästhetischen Kriterien besteht und vor den
sozialen versagt, liegt dies nicht an der Geratenheit oder dem Mißlingen des
Werkes, noch an den theoretisch mehr oder minder soliden Grundlagen der
Bewertung. Es liegt an der Gesellschaft, die nicht imstande ist, ihr
ästhetisches und ihr soziales Referenz-System in Übereinstimmung zu bringen. Das
alte Nietzsche-Wort von der Kultur als Einheit des Stils in allen
Lebensäußerungen gilt noch immer: Lebensäußerungen in diesem Sinne sind der
soziale Welt- und der ästhetische Kunstwille. Um es dezidiert und roh zu
vereinfachen: wo das Schöne nicht zugleich das Gute und Rechte ist, dort ist
zwar weder das Schöne nicht schön, noch das Rechte nicht recht, wohl aber hat
die darüber befindende Gesellschaft die Kraft sowohl zum Schönen als auch zum
Rechten nicht mehr. Jean-Luc Godard, Jahrgang 1930, ist eine glänzende
filmschöpferische Begabung, die nur leider ganz und gar frei im Raume schwebt.
Er kommt, gleich François Truffaut, Claude Chabrol, Pierre Käst,
Doniol-Valcroze, aus der Equipe der Cahiers du Cinéma, die seit Ende des zweiten
Weltkriegs dem französischen Film wichtige Impulse gab. Er war Filmtheoretiker,
bevor er Filmautor wurde. Doch zeigen seine theoretischen Arbeiten die gleiche
phantasievolle und poetische Inkonsistenz, die seine Filme kennzeichnet.
Man liest einen Artikel Godards mit Ergötzen – und fragt sich
nachher, was man denn nun eigentlich erfahren habe. Man sieht einen Godard-Film
mit Zustimmung, ja Entzücken, aber schon auf dem Nachhauseweg, sobald erst die
Stimmung abklingt, ist man seiner Billigung nicht mehr sicher. Die romantische
Ironie seiner Filme schlägt oft ins Possenhafte und wohlfeil Schockierende um –
Geist vom Geiste Heines. Und seine Verfremdungen sind denen Dürrenmatts
verwandter als der Dramatik Brechts. In seinen Äußerungen provoziert er den
Intellektuellen und den Proleten ebenso wie den Bourgeois, wenn er etwa erklärt:
»Ein Künstler steht notwendigerweise links, so wie Kennedy und Chruschtschow
rechts standen, weil sie beide totalitär gesinnt waren. Links sein heißt für
einen Regisseur nicht, daß er den Arbeiter an der Werkbank zeigt. Ein Film wie
der angeblich sozial engagierte englische Streifen ›Saturday Night and Sunday
Morning‹ war rechts und reaktionär.« Oder: »Ich sah mir (als junger Mensch) die
sogenannten Meisterwerke der französischen Filmarchive an. Bei Fernandel und
Gabin wurde mir schlecht … am Ende zog ich einen ›schlechten Wildwestfilm‹ einem
›guten‹ Duvivier-Film vor.« Den Karel Reisz-Film »Saturday Night and Sunday
Morning« als reaktionär zu bezeichnen, nur weil sein Regisseur sich einigermaßen
herkömmlicher, dabei stets brillant beherrschter Mittel bediente, nicht einmal
die großartige Leistung Albert Finneys gelten zu lassen, ist natürlich barer
Unsinn. Nicht zu sehen, daß der frühe Fernandel ein vortrefflicher Komiker war,
heißt filmblind sein (was Godard selbstverständlich nicht ist, es ging ihm ja
auch nur um den Jokus).
Des jungen Gabin fast erdrückende Filmpräsenz wegzuleugnen,
ist pubertäre Vertrotztheit. Vor Duvivier in den Western flüchten, bedeutet
Schule schwänzen – als wären nicht zumindest und bei Anerkennung des Faktums,
daß Duvivier auch schlechte Filme gemacht hat, »Pépé le Moko«, »La Bandera«,
»Voici les temps des assassins« innerhalb der Möglichkeiten ihrer Zeit Arbeiten
allerersten Ranges. Gerne würde man Godards radikale Ablehnung des
traditionellen französischen Films gelten lassen als die notwendige
Überschreitung einer überständigen Ästhetik – wenn nur seine eigenen Arbeiten
ein höheres spezifisches Gewicht besäßen und wenn seine Ästhetik mehr wäre als
die Forderung einer Freiheit, von der leider schon ein kleiner Schritt in die
Narrenfreiheit hineinführt. Godards unbestreitbare Meisterschaft – und hier hat
der Kritiker von Le Monde durchaus recht, wenn er von der »archaischen« Wirkung
aller anderen Filme im Vergleich zu denen Godards spricht – erschöpft sich in
einer allerdings hinreißenden Fülle formaler Ideen: die heisere, sterbende
Stimme des Herrscher-Computers aus »Alphaville« (es war die Stimme des alten
François Mauriac!); die Hundertwasser-Spirale, die in der »Chinoise« der
geistesgestörte Maler durch die Räume der Kommune zieht; die fast unerträglich
intensive Vietnamkrieg-Sequenz des gleichen Films, in der ein paar
Spielerei-Flugzeuge mit Haifischzähnen ein blutbeschmiertes, als Vietnamesin
stilisiertes Mädchen anfallen, das verzweifelt schreit: »Au secours, Monsieur
Kossygin!« Überschaut man aber das gesamte, schon sehr reiche Opus dieses
Filmautors, so wird man unweigerlich erkennen, daß viele dieser formalen
Einfälle aus der Requisitenkammer der Epoche stammen, aus der sie – wie Pop-Art
und Op-Art – mit fast journalistischem Flair für die Zeitungsaktualität
herausgeholt wurden. Dabei soll nichts dagegen vorgebracht werden, daß Godards
Filme Elemente des zeitgenössischen kulturellen Klimas aufnehmen und
wiedergeben: daß man in der Epoche des nouveau roman das alte, logische und
langsam gedrehte flashback zum alten Eisen wirft und dafür ein freies Spiel mit
der Zeit treibt, ist nur selbstverständlich; daß man, während längst der Roman
schon auf die zusammenhängende Story verzichtet, diese auch im Film nicht mehr
brauchen kann, sie optisch atomisiert und sie, wie Jean-Louis Conolly in den
Cahiers du Cinéma schreibt, nur noch als einen Vorwand benützt, ist
vorgezeichnet in den Mustern des modernen Bewußtseins, das bereits auch der
»naive« Zuschauer entwickelt hat, so daß ihn die Undeutlichkeit des filmisch
Aufgewiesenen, das kein Erzähltes mehr sein kann, nicht länger stört. Jedoch,
bei Godard hat man vielfach den Eindruck, als seien die Fakten eines
verwandelten Welt- und Kunstgefühls nicht eigentlich assimiliert.
Es wird uns einfach das Vokabular der Epoche geboten, mit
zahllosen optischen oder auch ausgesprochenen Anspielungen auf moderne
Literatur, Philosophie, Soziologie. Das gleiche gilt für die Thematik seiner
Filme. Auf eine fast schon fatale Weise ist dieser Autor immer aktuell. Der
Algerienkrieg stand auf der Tagesordnung – und das gab bei Godard »Le petit
soldat«. Eine Wochenschrift (Le Nouvel Observateur) veranstaltete eine Enquete
über die angeblich um sich greifende Amateur-Prostitution kleinbürgerlicher
Frauen in den großen Wohnblocks an der Peripherie von Paris, die Tagespresse
bemächtigte sich des pikanten Gegenstandes – und Godard machte »Deux ou trois
choses que je sais d’elle«. Ein science-fiction-Alpdruck legte sich auf die
Brust der ins Computer-Zeitalter eintretenden Franzosen, die das 19. Jahrhundert
so sehr lieben – Godard drehte »Alphaville«. Bei den Studenten machten
Mao-Kommunisten von sich reden, worauf Godard mit der »Chinoise« hervortrat. Die
Affäre Ben Barka und Vietnam erregten die Gemüter der Zeitungsleser: Godard
inszenierte »Made in USA«, in dem ein Gangster den Namen McNamara führt. Dank
dieser einerseits aktuellen, andererseits in den fragmentarischen Plots häufig
an die Tradition des amerikanischen Gangsterfilms anknüpfenden Thematik
entstehen Werke, die ebenso avantgardistisch wie kommerziell sind.
Mit Recht durfte die amerikanische Wochenschrift Time
schreiben, daß das »Publikum heute willens ist, für ein neuartiges Produkt zu
zahlen«. Das »neuartige Produkt« ist bei Godard stets so verfertigt, daß es
breiten Absatz finden kann. Der fortschrittliche Intellektuelle konsumiert es
zum Zwecke modernistischer Selbstachtung, die Samstag-Abend-Zuschauer im
Nachbarschaftskino langweilen sich nicht. Mag sogar, wie in »Vivre sa vie«, das
inkohärente Geschwätz eines betagten Philosophen mit Leibniz, Kant und
Kierkegaard über die Leute hingehen, sie nehmen es dem Autor nicht übel; die
raffiniert, nach dem besten Muster amerikanischer B-Pictures aufgebaute
Mordszene am Schluß entschädigt sie reichlich. Keineswegs will ich insinuieren,
Godard drehe seine Filme nach Box-Office-Imperativen, er sei »aktuell« wie der
Journalist des Groschenblattes. Ich glaube nicht, daß Godard dem Zeitgeschehen
atemlos nachjagt. Eher habe ich das Gefühl, daß er diesem Geschehen hilflos
ausgesetzt ist, kein Diener seiner Zeit, sondern im doppelten Wortsinne ihr
Kind. Man könnte sich, nur versuchsweise, das nicht gerade kostspielige und
etwas altmodische Vergnügen leisten, persönlich-psychologische Motive zu suchen
für Godards Hinfälligkeit an alles Zeitgemäße. Er ist, wiewohl in Paris geboren,
schweizerischen Ursprungs, Sohn einer vornehmen und vermögenden protestantischen
Familie aus Genf. Nicht undenkbar, daß in seinem Spiel mit dem Film der Protest
des jungen Mannes aus gutem Hause gegen das angestammte Milieu liegt.
Gleichfalls ist vorstellbar, daß der super-pariserische, ausgesprochen mondän
orientierte Modernismus unseres Autors die Kompensation ist jenes
Minderwertigkeitsgefühls, das jeder französischsprachige Ausländer (Wallone,
Westschweizer, Kanadier), ja sogar der Provinzfranzose in den Pariser Salons
empfindet und das von den Parisern, die allerwegen nur ihre Stadt sehen, ihre
Kunst, ihre Literatur, kräftig genährt wird. Man lasse mir diese Randbemerkung
hingehen, ich insistiere nicht weiter darauf. Godard wäre mit einer solch naiven
Interpretation seines Schaffens gewiß unzufrieden. Denn er ist anderes gewohnt.
Nicht nur die Cahiers du Cinéma, die seine Wiege waren, sondern die gesamte über
Tageszeitungsniveau hinauslangende französische Filmkritik, ja nachgerade auch
die noch sehr junge und der französischen ziemlich abgehetzt nachlaufende
deutsche »Filmologie« verfällt in ein pseudophilosophisches
Interpretationsdelirium, an dem wahrscheinlich die »Nouvelle Critique« um Roland
Barthes und seine Freunde nicht ganz unschuldig ist. So hat man jahrelang in den
Cahiers die ermüdendsten Analysen lesen können, in denen Hitchcock und Lang als
Metaphysiker des Films gefeiert wurden, während man Marcel Carné oder René Clair
keines Brauenzuckens mehr würdigte. Heute ist Godard nicht mehr Deuter, sondern
Gegenstand der Deutung, und was über ihn geschrieben wird, kann sich sehen
lassen neben den Hitchcock-Rhapsodien.
Man soll nicht spielen mit Zitaten, die aus ihrem Kontext
gelöst wurden; doch kann ich es mir in diesem Falle nicht versagen. In einem
Büchlein über Godard von Jean Collet (Editions Seghers, Paris) lese ich: »Die
ganze Logik von ›Alphaville‹ beruht auf der strikten Anwendung eines binären
Systems, es ist dies das System der Datenverarbeitungsgeräte und ist zugleich
das wichtigste Konditionierungsinstrument des modernen Menschen … Godard ist der
Zeuge einer Welt, die zu schwer ist und zu voll, einer Welt, die sich auflöst
und auflösen muß. Um sich wie wieder zusammenzufügen? Das ist die Frage, die
seit sieben Jahren seine schöpferischen Schritte bewegt.« In der quasi
offiziösen deutschen Filmzeitschrift Filmkritik (2/67) heißt es: »Wie Hermann
Broch (!) dem Roman Erkenntnisfunktion zuwies, so funktioniert der Film bei
Godard, freilich viel gebrochener … dieses Wagnis, die romantische Progression
und der geradezu abenteuerliche Anspruch erklären die extreme Subjektivität der
Filme Godards.« In Film (4/67) steht: »Godards Versuch, möglichst jede Rede in
Frage zu stellen, findet in der Tautologie ihre natürliche Grenze. Sie ist, weil
sie keinen von der sprachlichen Form ablösbaren Sinn mit sich trägt, die reinste
Form eines Satzes. Sie enthält wenigstens eine – wenn auch wenig tröstliche –
Gewißheit, nämlich: sie ist sinnlos.« Wollen diese Beispiele beweisen, daß Film
und »Filmologie« endlich erwachsen wurden, daß filmdramaturgische Gesetze sich
herausbildeten, daß die Filmkritik eine präzise Fachsprache entwickelt hat? Eher
das Gegenteil: Godards Film-Ludus, sein »jeu sans règles« geben auch der
Filmologie den Weg ins Unverbindliche frei. Die Interpretation weist die
gleichen spielerischen Elemente auf wie ihr Gegenstand. Man tastet sich zurück
in die eigene Kindheit. Die genaue Sprache und die gründlichen Analysen der
verstorbenen Filmtheoretiker Georges Sadoul, Siegfried Kracauer, André Bazin
sind vergessen. Damit man mich recht versteht: es geht mir nicht um eine Polemik
gegen Godard. Bei keinem seiner Filme habe ich mich bisher gelangweilt, ein
besseres Kompliment kann man einem Regisseur kaum machen. Es sollte nur auf die
Ambiguität seiner Schöpfungen verwiesen werden, auf ihren Mangel an Stil und –
bei der vollen Anerkennung ihrer Originalität – auf ihre Gewichtslosigkeit. Da
steht Godard natürlich nicht allein. Das, was vor zehn Jahren als »Nouvelle
Vague« hervortrat, laboriert generell an filmästhetischer Konfusion. Wie sehr
man hinter der Aktualität auch her sei, man erfaßt sie nicht, besser gesagt: man
erwischt nur ihre oberflächlichsten Erscheinungsformen am Zipfel. Das soziale
und politische Ereignis, an dem man sich oftmals zu orientieren versucht, wird
zumeist als ein Fremdkörper oder als Signal für den Zeitungsleser einmontiert –
wenn wir absehen wollen vom dokumentarischen »Cinéma-Verité«. Wie flüchtig die
soziale Wirklichkeit angeschaut wird, das erkennen wir nicht nur bei Godard,
sondern auch bei einem von ihm so sehr verschiedenen Autor wie Claude Lelouch:
die Vietnam-Aufnahmen in Lelouchs letztem Film »Vivre pour vivre« sind nichts
als pittoreske Details, austauschbar mit beliebigen anderen, eingeblendet, um
dem Werk einen zeitgemäßen Effekt zu geben. Die Realität der Gesellschaft indes,
und sei sie hundertmal erwähnt, bleibt verborgen: hinter aktuellen Anspielungen
(»La Chinoise«), hinter traditionellen Gangster-Plots (»À bout de souffle«),
hinter naiver science fiction (»Alphaville«), hinter »ewiger« Liebespoesie (»Un
homme et une femme« von Lelouch), hinter dem sich selbst persiflierenden
filmischen Kriminalroman (»Trans-Europ-Express« von Robbe-Grillet). Auch
Frankreich befindet sich in einem noch gar nicht abzusehenden Prozeß
wirtschaftlicher, industrieller und sozialer Umwälzung, aber der junge
französische Film schweigt darüber.
Ich meine nicht, daß unbedingt, wie Godard verachtungsvoll
schreibt, »der Arbeiter an der Werkbank« gezeigt werden muß, wiewohl vielleicht
ein Film, der den Zusammenstoß des Arbeiters mit der Automation zum Gegenstand
hat, gar nicht so uninteressant wäre. Aber es ist denn doch befremdlich, wie die
wirkliche Welt der Franzosen, die ihr Dasein ausmacht, aus dem Film ausgespart
ist. Sofern überhaupt von der beruflichen Tätigkeit der Protagonisten die Rede
ist, handelt es sich um Glamour-Jobs: Testfahrer und Script-Girl (Lelouch: »Un
homme et une femme«), TV-Star-Reporter (Lelouch: »Vivre pour vivre«),
Air-Hostess und prominenter Schriftsteller (»La peau douce« von Truffaut). Dort,
wo ausnahmsweise einmal das Milieu kleiner und kleinster Leute geschildert wird,
wie in Agnés Vardas »Le bonheur«, bleibt die Arbeitswelt reine Staffage: daß der
Held des Films ein Tischler ist, hat keine Relevanz für den Film. Man denkt mit
einiger Melancholie zurück an den poetisch-sozialen Realismus, wie er in der
Zwischenkriegszeit den französischen Film beherrschte. Gewiß, dort war die
gesellschaftliche Frage vielfach eingekleidet in den Miserabilismus (»Poil de
carotte« von Renoir) oder in Kriminaldramatik (»Pépé le Moko« von Duvivier),
oder es überwog das romantische-atmosphärische Element bei weitem das soziale
(»Quai des brumes« von Carné und Prévert). Doch konnte man damals auch Arbeiten
sehen wie »La belle équipe« von Duvivier, in denen zumindest der Versuch gewagt
wurde, ein konkretes soziales Problem – in diesem Fall die Erwerbslosigkeit –
durchzuarbeiten. Nach dem Krieg war es vorbei mit dem poetisch-sozialen
Realismus, nur noch in Carnés unvergeßlichem Meisterwerk »Les portes de la nuit«
(1947) und vielleicht in »Antoine et Antoinette« von Jacques Becker verspürte
man die letzten Wellenschläge eines Genres, in dem Thematik und Ästhetik
akkordiert waren; heute ist es vergessen – und verachtet. Nun soll hier nicht
einer bestimmten Form des sozialen Realismus das Wort geredet werden, die ihre
Zeit hatte und von der Zeit überholt wurde. Es liegt auf der Hand, daß man in
den fünfziger Jahren nicht wieder den Faden aufnehmen konnte, den in den
Dreißigern die Jean Renoir, Duvivier, Carné, René Clair gesponnen hatten.
Der italienische Neo-Realismus brach ein mit seiner viel
spontaneren und brutaleren Annäherung an die soziale Wirklichkeit, und als auch
diese Welle verebbt war, mußte notwendigerweise eine neue kommen: eben die
»Nouvelle Vague« und nach ihr die heute herrschende »nouvelle Nouvelle Vague«,
deren gewiß stärkste Begabung der hier zur Rede stehende Godard ist. Man kann
Godard nicht den Vorwurf machen, er halte sich abseits von den Zeitproblemen
oder er zaubere die gute, alte elegante Evasionswelt herauf. Im Gegenteil. Er
ist, ich sagte das schon, auf nachgerade beängstigende Weise aktuell, womit ich
meine: Der Zeit verfallen oder auch ausgeliefert. Ob Sartre oder der Marxismus
oder der Strukturalismus oder Brecht die aktuellen Signale sind, Godard läßt sie
aufblitzen und gibt in seinen Filmen einen Abzug jener »homogenisierten
Zivilisation«, von der der amerikanische Kulturkritiker Dwight MacDonald
gesprochen hat. Wollte man unfreundlich sein, man könnte ihn auf amerikanisch
einen »name-dropper« nennen, einen Mann, der auf Biegen und Brechen aktuelle
Namen nennt, als seien seine Arbeiten eine gefilmte Salon-Konversation. Immer
zielt er auf das sogenannte Zeitproblem, sei es die Wirkung der Massenmedien und
der verdinglichenden »Choses« in »La femme mariée«, sei es der Algerienkrieg
oder der Peking-Kommunismus. Eigentümlich ist dabei nur, wie dieser Autor sich
dabei zugleich jenseits der Zeit zu stellen scheint, und dies auf zweierlei
Weise: einmal in der thematischen Aussageform, indem er sich hütet, Positionen
zu beziehen (für oder gegen die Studenten-Kommune, für oder wider den
Algerienkrieg); zum anderen in seiner Ästhetik, die durch Kaskaden von
Verfremdungseffekten das Thema, jedes Thema, neutralisiert. Was für die übrigen
Künste längst eine – wenn freilich auch recht diskutable und sogar dubiose –
Selbstverständlichkeit ist, will Godard für den Film sich erobern: die Autonomie
des Kunstwerks. Das Kunstwerk nicht als Wiedergabe, sondern als Fortsetzung der
Wirklichkeit oder auch als eine Wirklichkeit eigenen Rechts: das ist im Grunde
eine sehr alte Forderung (der, wiewohl sie das Gegenteil intendierten, auch
strenge Naturalisten wie Holz und Schlaf einst sich beugten) und eine ewig neue,
unerfüllbare. Es ist hier nicht der Platz, die Frage aufzuwerfen, wohin das
Verlangen nach Autonomie der Sprache etwa die moderne Lyrik und den nouveau
roman striktester Observanz (Philippe Sollers) hinführt. Was den Film betrifft,
so ist es jedenfalls klar, daß ein immer autonomerer Film als optisches Ereignis
schließlich einmünden müßte in den abstrakten Film: eine Abfolge von bewegten
Bildern, deren ästhetischer Zusammenhang nur für den Autor gegeben wäre und der
eines Plots nicht einmal als eines Vorwandes bedürfte. Daß dieser hypothetische
abstrakte Film schließlich vom Interesse des Menschen verlassen würde, scheint
mir gewiß. Dergleichen konsequentes Verhalten ist freilich bei Godard trotz
seiner Autonomiebestrebung nicht zu befürchten, zu sehr will er gefallen, zu
sehr ist er »homme du métier«.
Liegt also, wie ich glaube, eine Radikalisierung der
Autonomie-Forderung nicht in der Linie von Godards Talent, so dürfte
andererseits sein Verlangen nach künstlerischer Freiheit ein stets dringenderes
werden. Wir haben dieser Godard’schen Freiheit sehr viel zu verdanken. Daß nach
ihm möglich ist, was vordem unmöglich erschien, bedeutet Bruch, Umbruch,
Aufbruch der Filmkunst, man kann nicht ausdrücklich genug darauf verweisen. Doch
kommt man nicht umhin, den Sinn dieser Freiheit in Frage zu stellen. Godard gibt
sich frei: frei von Moralin (»À bout de souffle« und »Pierrot le Fou«), frei vom
Realismus der Dekoration (»La Chinoise«), frei von herkömmlicher Psychologie
(»La femme mariée«), frei auch von der Logik des Dialogs. »Je voudrais que tu
m’aimes, et puis, en même temps je voudrais que tu ne m’aimes plus«, sagt eine
Godard-Frau, und der Godard-Interpret Jean Collet erklärt: »Die Personen Godards
drücken die Logik des Unlogischen aus«. Die totale Freiheit Godards ist also
eine Freiheit des Spiels, aber eines Spiels, das keine Regeln hat, und deshalb
kaum noch als Freiheit durchgehen kann. Jede Freiheit muß rigoros bestimmt sein
durch eine Unfreiheit: sie wird Freiheit im Akte der Befreiung von dieser.
Angewendet auf die künstlerische Freiheit heißt dies aber, daß sie stets nur
Befreiung sein kann von einem Gesetz: einem tradierten oder einem sich selbst
gesetzten. Wo aber der Filmschöpfer sich alles erlauben darf, weil, wie Time
schrieb, »das Publikum bereit ist, für das neue Produkt zu zahlen« (für jedes
neue, wäre ergänzend hinzuzusetzen) – dort hat der Begriff des Erlaubten keinen
Sinn mehr; die künstlerische Freiheit hebt sich selbst auf. Von der Freiheit der
»nouvelle Nouvelle Vague«, die sich im box-office die Bestätigung holt, daß sie
lukrativ ist, kann dann unversehens der Weg in den totalen Kommerzialismus
führen, den das Publikum immer noch besser honoriert: Louis Malle, der Meister
von »Ascenseur pour l’échafaud« und »Les Amants«, fand sich plötzlich in den
Kommerzialgefilden von »Viva Maria«. Von der intellektuellen Avantgarde, die
ästhetisch und sozial frei im Raume schwebt, ist nur ein Schritt zurück zu
»Papas Kino«.
So leicht glitten einst die Carné, Duvivier, Renoir nicht in
den Schund ab. Nun verschleudern sich die Begabungen zu kleinen Preisen. Kein
Zweifel, daß Malle, Truffaut, Godard, Chabrol stärkere kreative Potenzen sind
als etwa die Regisseure des »free cinema« jenseits des Kanals. Wenn trotzdem
dieses mit Werken wie »Saturday Night and Sunday Morning«, »A Taste of Honey«,
»Girl with Green Eyes«, »Morgan«, ja sogar mit dem bald zehn Jahre alten, formal
unbeträchtlichen Film »Room at the Top« von Jack Clayton dem
Durchschnittszuschauer, als den ich mich hier bekenne, mehr bedeuten als die
Pariser Produkte, dann kann es nur an ihrer sozialen Relevanz liegen, die von
den jungen Franzosen mit einer Handbewegung abgetan wird. Man sprengt in Paris
die Klischee-Realität des herkömmlichen Films auf, das ist ein wichtiges, ein
unerläßliches Unternehmen. Man verzichtet aber in der Suche nach einer
authentischeren Form des Wirklichen, da doch das Suchen so viel Spaß macht, auf
die Wirklichkeit schlechthin. So erging es im Roman Robbe-Grillet. So ergeht es
im Film Jean-Luc Godard. Man stellt die Frage nach der Ursache und findet sie
auf kürzestem Wege. Desengagement, Entideologisierung, Entpolitisierung seien
hier zunächst nur als Schlagworte hingesetzt. Auch und gerade in Frankreich wird
die zweite industrielle Revolution vollzogen von einer Schicht von Technokraten
und Spezialisten, die in einem Universum leben, das dem Laien unzugänglich ist.
Als am Beginn der fünfziger Jahre der Traum von Résistance und Revolution
ausgeträumt war und Marcel Carné mit dem Werk »Portes de la nuit« das letzte
Chanson des sozial-poetischen Realismus sang, wurde die Welt der »Sachlichkeit«
(hier gemeint im Sinne von Hermann Brochs »Huguenau oder die Sachlichkeit«)
erschaffen. Management, Marketing, Computers, human engineering und public
relations: ein neues Vokabular war da, wurde schnell auswendig gelernt und blieb
dabei doch unverstanden. Staunend hörte man, da sei eine Überflußgesellschaft
ausgebrochen, die das soziale und ideologische Problem gelöst habe, man glaubte
auf den Buchstaben, was die gute Presse schrieb. Den Filmschöpfern (wie den
Romanciers, den Dramatikern, den Lyrikern) blieb nichts übrig, als ihre
Unzuständigkeit zu erklären und sich zurückzuziehen auf – nein: nicht die
»ewigen Probleme«, wie man vor fünfzig Jahren gesagt hätte, vielmehr auf die
»recherche«, die formale Untersuchung ihrer Mittel, allenfalls auf die
Absurdität, die ein »ewiges« Problem ist, das als ein solches sich nicht
eingesteht und sich stattdessen zeitgemäß kostümiert. Der Ernst des Lebens war
vorüber, beziehungsweise war Sache der Fachleute. Das Spiel begann, mit ihm die
Freiheit der Kunst, die »Autonomie des Kunstwerks« – und dann wundert man sich,
daß als einzige Spielregel verblieb, was Herbert Marcuse die »repressive
Toleranz« nennt. Daß die Koexistenz der Stile den Stil zunichte gemacht hat,
wirkt sich nämlich gerade für die Sinnesmöglichkeit des Films negativ aus. Denn
für ihn gilt auf die verführerischste, die negativste Weise, daß die
Generalerlaubnis zu dieser »Autonomie« von der Wirtschaft erteilt worden war –
wenn nur das Produkt, das niemals der attraktiven Präsentation und ansprechenden
Verpackung in traditionelle Erotik und ebenso traditionelle Violence ermangelte,
von einem konsumgehorsamen und konditionierten Publikum akzeptiert wurde: Louis
Malle und Jean-Luc Godard verkauften sich fast ebenso gut wie die letzten
Superproduktionen aus Hollywood. In Godards theoretischen Artikeln ging es noch
her mit Husserl und Hegel, aber da in »À bout de souffle« die Bettszenen so
wohlgelungen waren wie Belmondos Todesjagd, bestand kein Grund zur Beunruhigung.
So brennt Godard als desengagierter junger Herr, der den Richtspruch saueren
Moralisten überläßt und die Aktion den Fachleuten, das Feuerwerk seines
hinreißenden Talents ab. Für ihn, Kind seiner Zeit, sind die Probleme der Epoche
eine Skala von Anregungen und ein Wortschatz. Marx, science-fiction, eine
soziologische Enquête, eine Denunziation und ein Ehebruch, das gilt gleichviel.
Er ist niemandem verpflichtet als sich selbst – und dem Financier: solange
dieser auf seine Rechnung kommt, ist des Autors kreative Freiheit total. Niemand
mag da den Spielverderber machen, nicht einmal der Philosoph Francis Jeanson,
der in »La Chinoise« als intellektueller »pére noble« im Tweed die
unglaublichsten Banalitäten über die politische Chancenlosigkeit der
revolutionären Kommune von sich gibt.
Leer geht aus, wer da vom Kino fordert, daß es eine moralische
Anstalt unserer Zeit sei. »Du mußt dein Leben ändern«, fiel mir ein, als ich
Bressons »Mouchette« sah. Nach Godards »Chinoise«, wo es nicht um das Geschick
eines Bauernmädchens ging, sondern um die Bagatelle der Weltrevolution, dachte
ich nur daran, wie schade es doch ist, daß Godard sich nicht geändert hat. Jean
Améry: Schlecht klingt das Lied vom braven Mann (1978) Anläßlich der Neuauflage
von Gustav Freytags »Soll und Haben« »… Auf den Balkon des Hauses trat durch die
geöffnete Tür eine zierliche Frauengestalt im hellen Sommerkleide mit weiten
Spitzenärmeln und einer liebenswürdigen Frisur, wie sie Anton von alten
Rokoko-Bildern her kannte; er konnte deutlich die feinen Züge ihres Gesichts
erkennen und den klaren Blick des Auges, welches auf dem Rasenplatz unter ihren
Füßen ruhte. Die Dame stand auf das Geländer gestützt bewegungslos wie eine
Statue, und Anton blickte ehrerbietig zu ihr hinauf. Endlich flog aus der
offenen Tür hinter der Dame ein bunter Papagei, setzte sich auf ihre Hand und
ließ sich von ihr liebkosen. Dies glänzende Tier steigerte Antons Bewunderung.
Und als dem Papagei ein fast erwachsenes Mädchen folgte, welches schmeichelnd
den Hals der schönen Frau umschlang, und als die Dame zärtlich die Wange des
Mädchens an die ihre drückte und als der Papagei auf die Köpfe der beiden Damen
flog und laut schreiend von einer Schulter zur anderen sprang, da wurde das
Gefühl der Verehrung in unserem Anton so lebhaft, daß er in tiefer Scham
errötete und sich tiefer in den Schatten des Gebüsches zurückzog. Er dachte an
die beiden schönen Frauengestalten und ging elastischen Schritts, wie einer, dem
etwas Fröhliches begegnet ist …« Woraus zitiere ich? Aus einem Werk der alten
Mamsell Marlitt? Aus einem Familienroman von Rudolf Herzog? Aus der
vielgeschmähten Courths-Mahler gar, die in Gottes Namen niemals etwas anderes
hat sein wollen als eine artisanale Manufaktur für kleinbürgerliche
Erbauungs-Unterhaltung? Die »liebenswürdige Frisur« spräche für letztgenannte
Annahme, ebenso wie der »elastische Schritt« und das züchtige »Erröten« des von
so viel Schönheit überwältigten Jünglings Anton. – Aber warum das Spiel
weitertreiben! Ich nahm mir ganz aufs Gratewohl eine halbe Seite aus einem der
berühmtesten Romane der deutschen Literatur vor, einem voluminösen Werk, das in
Prachtausgaben jahrzehntelang die Bücherborde unserer Väter und Großväter
zierte, neben Goethe, Schiller, Uhland und Theodor Körner, zwecks Seelenstärkung
und kaufmännischer Ertüchtigung kommender Geschlechter –: aus Gustav Freytags
Bildungsroman »Soll und Haben«. Auch mir ist dieses Buch, Geschenk meines
Franz-Josephs-bärtigen und auch sonst staatserhaltenden Großpapas nicht erspart
geblieben; aber es hat mich schon als Vierzehnjährigen so aggressiv gelangweilt,
daß ich es nach dem ersten Kapitel mit Widerwillen weglegte und mich besserer
Lektüre zuwandte: den Abenteuern Tarzans, den bewegten Sagen des klassischen
Altertums – und natürlich Schiller, bei dem allemal was los war, Donner und
Doria! Und nun, berufshalber und auch aus ehrlichem Interesse, denn, wie ich
vernahm, hätte man den Text aus dem Jahre 1855 verfilmen sollen, was man aber
dann vermied, machte ich mich noch einmal an die Lektüre, und jetzt ging ich
schweißtriefend bis ans bittere bzw. eigentlich süße Ende: denn
selbstverständlich geht die Geschichte des braven Mannes Anton Wohlfahrt, der
entgegen allen schlimmen Versuchungen und Fährnissen dem guten deutschen
Kaufmannsstand die gebotene Treue hält, gut aus: er heiratet die Schwester des
Chefs. Einheirat – das Ziel eines jeden strebsamen Jünglings, dem das traute
Heim, das Hauptbuch, der redliche Gewinn des Lebens heiligste Güter sind. Muß
ich die Geschichte erzählen oder darf ich mich darauf verlassen, daß die Leser
sie ohnehin kennen? Ich weiß nicht. Ein paar gleichsam stenographische Sigel
mögen jedenfalls von Nutzen sein, auch für diejenigen, die Freytags Werk gelesen
haben. Anton Wohlfahrt – nomen est omen –? Sohn eines ehrlichen, aber armen
Kalkulators, wird nach des Vaters Tod in die ehrsame Breslauer Firma Schröter
aufgenommen. Er bewährt sich nicht nur als fleißiger Kontor-Lehrling, sondern
hat alsbald auch die Gelegenheit, seinem auf redlichen Gewinn und die
Verbreitung deutscher Kommerz-Zivilisation bedachten Chef bei gefährlicher
Mission zur Rettung soliden Warengutes gegen aufständisches Polen-Gesindel
beizustehen. Das Verdienst und der Verdienst sind austauschbare, im Grunde
identische Größen: man wird es dem wohlfahrenden Anton im Kontor und auch im
Herzen der Chef-Schwester Sabine auf seinem Haben-Konto hoch anrechnen, daß er
die deutsche Brust ohne Furcht und Tadel den polnischen Horden darbot, auf daß
sowohl Ehre wie Geld der Firma erhalten blieben. Freilich, die böse und
zwielichtige Welt außerhalb des Handel und Wandel treibenden, damit die Welt
erschließenden Kaufmannstandes setzt den guten Anton manchen Versuchungen aus.
Denen der bösen Juden, die, wie es bei Busch heißt, »mit krummer Nase, krummer
Fers’ und krummer Hos’ tiefverderbt und seelenlos«, sich nach der hohen Börse
schleichen, widersteht er ohn’ jede Müh’.
Anders schon ist es mit dem Adelsstand, der wiewohl er doch
wirtschaftlich untergeht, im Range aber immer noch hoch über ihm steht, Anton zu
sich hinaufziehen möchte, auf seelen- und geldgefährdende Weise! Denn da ist ein
höchst hinreißender Wildfang von Mädchen, Leonore von Rothsattel, Tochter eines
Edelmanns mit amateurhaft kaufmännischen Ambitionen, die für ihn manches übrig
hat, glücklicherweise aber nicht genug, denn am Ende nimmt sie einen
Standesgenossen, den Herrn von Fink, einen wahrhaft tollen Kerl, der sich in
Amerika mit Indianern schoß, mit Pferden und Mädchen umzugehen weiß wie nur
einer, dazu steinreich ist und daneben noch ein Witzbold mit brillanten
Repliken. Immerhin, Anton Wohlfahrt ist so sehr von der wildfängischen Lenore
entzückt, daß er vorübergehend seine hoffnungsvolle Stellung im Hause Schröter
aufgibt, um als Bevollmächtigter des heillos untüchtigen Barons Rothsattel in
einem gottverlassenen Nest ein Landgut, das ständig von polnischen Banden
bedroht ist, zu verwalten und mannhaft zu verteidigen. Aber er findet sich
wieder, man ist entzückt, die frohe Botschaft zu vernehmen. Das Schicksal ist
ihm auf freundliche Weise dabei behilflich: Lenore und der tolle Fink fallen in
eine jener Leidenschaften, die dem Bürger ohnehin nicht zustehen, und die
Schröter-Chef-Schwester Sabine, die ihrerseits zeitweise der Anziehungskraft des
frohen Finken verfallen war, wendet sich dem in jeder Hinsicht verläßlicheren
Wohlfahrt zu. Soweit ein paar die Handlung betreffende Anhaltspunkte. – Und nun
zur einerseits für mich leichten, andererseits den wahrscheinlich majoritären
Freunden des Buches nicht unmittelbar einleuchtenden Kritik. Der Verlag, der
jüngst auch den großartigen, ganz zu Unrecht vergessenen Erzähler Otto Ludwig
herausbrachte, nimmt sich kein Feigenblatt vor den Mund: »Die Lektüre dieses
Romans gehört zum Interessantesten und Fesselndsten, das uns die deutsche Epik
des vergangenen Jahrhunderts zu bieten vermag«, heißt es im Klappentext. Nicht
mehr und nicht weniger als das. Die Leute sind nicht eben verfroren, wenn’s ums
Anpreisen ihrer Ware geht: man kann auch klarer sagen, sie seien unverfroren.
Was da fesselt, ist mir dunkel. Aber die Wege des Literaturbetriebs sind so
rätselhaft wie die des Herrn. Das Buch erschien in einer schönen Aufmachung, und
für das Nachwort gewann man sogar Hans Mayer, Titelhalter des ersten Platzes
unter den Kritikern des deutschen Bildungs- und Besitzbürgertums. Hans Mayer
lehnt Freytags Roman ab. Daß er dennoch das Nachwort schrieb, ist nicht recht
erklärlich, denn wenn man ein literarisches Werk zugleich als ästhetisch
unbedeutend und politisch gefährlich einschätzt, tut man doch wohl am besten,
darüber zu schweigen. Aber das ist Sache des Nachwortschreibers, und wenn ich
hier meinerseits zu diesem Elaborat mich äußere, begehe ich vielleicht die
gleiche kleine Sünde, deren Hans Mayer sich schuldig machte. Allerdings bin ich
gesonnen, mich schärfer zu fassen als der berühmte Kollege. Ich halte Freytags
Buch für eine literarische Mißgestalt und für eine politische
Niederträchtigkeit, womit, wenn ich recht habe, ihr auch jeder dokumentarische
Wert genommen ist: Karikaturen sind keine realitätsgetreuen Abschilderungen. Und
Freytags Werk nimmt sich gelegentlich so aus, als sei es eine (etwa von Robert
Neumann verfaßte) Parodie seiner selbst. Da sehen wir zum Beispiel den Wohlfahrt
Anton im Angesicht der räuberischen, dreckigen, heimtückischen und feigen Polen,
die das Gut des Barons von Rothsattel angreifen. Also spricht der wackere junge
Herr sich zu: »Um uns herum ist für den Augenblick alle gesetzliche Ordnung
aufgelöst, ich trage Waffen zur Verteidigung meines Lebens und wie ich, hundert
andere mitten im fremden Stamm. Welches Geschäft auch mich, den einzelnen,
hierher geführt hat, ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche
für freie Arbeit und menschliche Kultur einer schwächeren Rasse die Herrschaft
über diesen Boden abgenommen haben. Wir und die Slawen, es ist ein alter Kampf.
Und mit Stolz empfinden wir: auf unserer Seite ist die Bildung, die Arbeitslust,
der Kredit.« Jede Nation hat den Kipling, den sie verdient: die Deutschen hatten
ihren Gustav Freytag samt dessen Wohlfahrt; bei dem besseren Imperial-Sänger
Kipling wäre in diesem Zusammenhang das lächerliche Wort »Kredit« unmöglich.
Freytag ist in der Tat auf diesen Kredit so stolz wie der Engländer auf seiner
Landsleute »white man’s burden«. Bei Freytag geht die Plattitüde über das
Inhaltliche hinaus und wird zur ästhetischen Selbstaburteilung. »Zwei Formen
künstlerischer Unkultur«, heißt es an einer Stelle bei Karl Kraus: »die
Wehrlosigkeit vor dem Stoff und die Wehrlosigkeit vor der Form.« Hinzuzusetzen
wäre allenfalls, daß überall dort, wo ein Autor, und namentlich ein epischer,
wehrlos ist vor dem Stoff unter seinen Händen, unmöglich eine reine Form
gedeihen kann.
Wo schlecht gedacht wird, dort kann nicht gut geschrieben
werden, und wer die läppische Genugtuung am kaufmännischen Kredit der erobernden
Deutschen feiert, ganz ohne Selbstanfechtung, ohne eine Spur von ironischer
Distanz, in spießerhaft-seliger Selbstzufriedenheit, der kann unmöglich das
vollbringen, was der Klappentext anpreist: einen Roman von »dokumentarischem
Wert«. Denn was wird hier dokumentiert? Nicht etwa die Epoche nach 1848 in den
deutschen Landen, in der ein niemals durchdachter, geschweige denn praktizierter
Liberalismus sich mauserte zum dreisten Nationalismus; nicht die Heraufkunft des
Industrieproletariats; die militaristisch getönte deutsche Einigungsbestrebung
so wenig wie die Kämpfe, die zwischen der als Machtträger in den Hintergrund
gedrängten Adelskaste und der Bourgeoisie ausgefochten wurden. Der Adel,
verkörpert durch den Baron Rothsattel einerseits, den wohlfeil geistreichen
Herrn von Fink andererseits, wird als ranghaft übergeordnet nicht in Frage
gestellt: Wenn der Held Anton Wohlfahrt auf die schöne, reit- und schießgewandte
Rothsattel-Tochter Lenore verzichtet und sie dem ihr standesgemäßen Fink
überläßt, tut er dies zwar mit dem stillen Stolz dessen, der weiß, daß die
Zukunft nicht den Junkern gehört, sondern den Handelsherren, zugleich aber im
Gefühl seiner Unterlegenheit. Warum denn nach den Sternen greifen? Das Gute, das
Geld, liegt doch so nahe; aber die Sterne bleiben Sterne gleichwohl und leuchten
hoch über dem Hauptbuch-Alltag. Und von den Arbeitern mag man gar nicht erst
reden. Sie sind Staffage und haben bieder-unterwürfig zu sein. Nichts
ärgerlicher als die Geschichte des schwer arbeitenden Lastträgers der
Schröter-Firma, der einem schmucken Offizier, dem Sohn des Barons Rothsattel,
mit inniger Bereitschaft seine Ersparnisse zur Deckung von Spielschulden leiht
bzw. schenkt, denn der von Bier und Arbeitslust genährte Auflader weiß sehr
wohl, daß er die vorgestreckte Summe niemals zurückerhalten wird. Aber er findet
das in guter Ordnung. Und der Romancier klopft ihm gleichsam auf die Schulter,
als wolle er sagen: Deine Dummheit, Alter, und die des Schnösels Rothsattel
ergänzen einander, denn beide wißt ihr nicht hauszuhalten mit Gottes Geldsegen;
tut nichts, es ist ganz recht, daß du gibst! Dem Bruder Leichtfuß, der am Ende
auch ein Sternchen ist am Himmel der deutschen Gesellschaft, kommt es so zu;
dein Teil sei das Bewußtsein erfüllter Arbeiterpflicht. Man kann tiefsinnig
werden, bedenkt man, daß Gustav Freytags Werk zwei Jahre vor Flauberts Madame
Bovary erschien. Bei dem aus dem Hochbürgertum stammenden Franzosen ein wütender
Ekel vor der Bourgeoisie und ihrer Dummheit, beim Deutschen nur würdig nickendes
Einverständnis. In der Normandie ein wenn auch nur marginal sich dartuendes
tiefes Mitgefühl mit den Erniedrigten und Beleidigten – ich denke da an die
ergreifende Szene, wo einer alten Bauernmagd für fünfzigjährige Dienstschaft auf
demselben Hof eine wertlose Silbermedaille von einem blödsinnigen Präfekturrat
überreicht wird! –, an der Oder nichts als satte Jasage zur Condition inhumaine
der, wie es später dann geheißen hat, »Arbeiter der Faust«. Flaubert schildert
den Händler als den gemeinen Wucherer L’heureux, der Emma Bovary schließlich in
den Tod treibt. Freytag, Germanist, Literaturdozent und dem realen Leben der
Sozietät so fremd wie ein um die Sammlung folkloristischer Dokumente bemühter
Oberlehrer den Bauern, will nichts anderes wahrnehmen als den die Königskrone
modest in der Truhe aufbewahrenden redlichen Kaufmann, der eine
völkerverbindende, zivilisatorische Mission hat, über der er selbstverständlich
die deutsche Prädestination zur europäischen Hegemonie nicht vergißt. Und
wiederum stoße ich hier auf das schwierige Problem von Stoff und Form. Wo man
sich einem Stoff ganz ausliefert – also: im Sinne von Karl Kraus wehrlos ist vor
ihm! –? dort ist man als Autor auch unfähig zur eigenständigen Formgestaltung.
Erst wenn man den Gegenstand als Widerstand erkennt, sucht man nach einer neuen
Sprache; erst dann öffnet sich der dichterische Horizont, vor dem die Metaphern
aufsteigen. Noch anders ausgedrückt: Der Geist, der dichterische so gut wie der
philosophische, ist seinem Wesen nach Negation der vorgefundenen Wirklichkeit,
ist der Stachel, der sie durchdringt, auf daß sie werde, was sie zuinnerst ist.
Freytag, im Gegensatz nicht nur zu Flaubert, sondern auch zu Gottfried Keller,
verspürt diesen Stachel nicht, operiert ihn nicht heraus aus sich, um ihn als
sprachliche Waffe einzusetzen. Er ist unverwundet und will auch nicht verwunden.
Hier ist allerdings eine Einschränkung zu machen; ich habe mich zu korrigieren.
So harmlos ist unser gelehrter Romanschriftsteller auch wieder nicht. Er
versehrt sehr wohl, allerdings nur dort, wo der Widersacher ohnehin am Boden
liegt und wo man sich, ihn verletzend, an seiner Ohnmacht zum Gaudium der
Wohldenkenden und Kreditwürdigen weiden kann. Vor der aggressiven Verachtung der
Slawen, für die sich erschreckende Beispiele finden, die uns an Hitlers
denkwürdiges, während des Polenfeldzugs von 1939 zu neuem Leben erwecktes Wort
von der »polnischen Wirtschaft« erinnern, habe ich schon gesprochen.
Noch ärger als ihnen, denen da und dort immerhin eine gewisse
wilde Kampfesfreude zugebilligt wird, was Kontormännern und Literaturprofessoren
stets imponiert, auch wenn sie es nicht eingestehen – viel schlimmer als den
bösen Polen ergeht es bei Freytag den zugleich feigen und aufdringlichen,
unterwürfigen und frechen, ungebildeten und diabolisch schlauen Juden. – Ich
gebe zu, daß ich hier nicht ganz unbefangen bin. Durchaus fühle ich mich
persönlich betroffen. Aber ich darf beteuern, daß Befangenheit und Betroffenheit
mir nicht die Urteilsfähigkeit trüben. Es gibt in der deutschen Literatur genug
Zeugnisse eines vulgären Antisemitismus: an hohen, höchsten Stellen. Nietzsches
Jugendbriefe aus Leipzig beispielsweise, wo von den ekelhaften »Judenfratzen«
die Rede ist, denen der unglückliche Pastorssohn aus Röcken bei Lützen in der
Metropole Leipzig auf Schritt und Tritt begegnete. Die bösartigen Worte haben
mir niemals den Blick auf Nietzsches Genialität verstellt. Desgleichen habe ich
stets Wilhelm Hauff, der es in seiner packenden Novelle »Jud’ Süß« und mehr noch
in seinem großartigen Buch »Memoiren des Satans« entschieden schlimmer trieb als
Freytag, als einen der geist- und phantasievollsten Erzähler Deutschlands
anerkannt. Noch weniger haben Thomas Manns antisemitische Anwandlungen, die von
den Buddenbrooks bis zu »Wälsungenblut«, ja, noch weiter reichen, auch nur im
mindesten meine Liebe und Verehrung dieses Dichters beeinträchtigt. Im Falle
Freytag aber verhält es sich anders. Sein Antisemitismus ist zugleich
»gesund-volkshaft« und auf abstoßende Weise raffiniert. Für ihn sind die Juden
das, was sie – unter freilich völlig anderen Vorzeichen – für seinen
Zeitgenossen Karl Marx waren, die elenden Abfallprodukte des von ihm gefeierten,
von Marx verurteilten Kapitalismus. Was für Freytag allenfalls schlecht sein
kann an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung – es wird den Juden und nur
ihnen in ihre vertretenen Schuhe geschoben Es werden in »Soll und Haben«
verschiedene Typen dieser ethnisch-religiösen Gruppe vorgestellt. Ein einziger
von ihnen ist einigermaßen sympathisch, der Sohn des Maklers Ehrenthal, ein
weltabgewandter Gelehrter. Aber der Autor läßt ihn schnell verschwinden: »Abgang
durch Tod«, wie es im Nazi-KZ hieß; der einzige gute Jude ist ein toter Jude,
basta. Alle anderen jüdischen Gestalten werden dem »gesunden Volksempfinden«
entsprechend gezeichnet. Also wird der Händler Ehrenthal, der darauf aus ist,
den aus mangelnder Kenntnis der Geschäftsusancen ohnehin gefährdeten Baron
Rothsattel zugrunde zu richten, um sich in den Besitz seines Gutes zu bringen,
eingeführt: »Herr Ehrenthal war ein wohlgenährter Herr in seinen besten Jahren
mit einem Gesicht, welches zu rund war, zu gelblich und zu schlau, um schön zu
sein; er trug Gamaschen an den Füßen, eine große Busennadel auf dem Hemd und
schritt mit großen Bücklingen und tiefen Bewegungen des Hutes durch die Allee
dem Baron entgegen …« Nichts fehlt: weder die physische Unansehnlichkeit, noch
der aufdringliche Schmuck, noch die heimtückische Unterwürfigkeit, die den Leser
alsogleich Böses ahnen läßt. Ehrenthal redet selbstverständlich ein unmögliches
Deutsch. Seine Geschäftspraktiken sind undurchsichtig – was sage ich: sie sind
so durchsichtig übel, daß jeder gute Deutsche sofort weiß, wie gefährlich es
ist, sich mit solchen Leuten einzulassen. – Aber Ehrenthal, Vater des mit
Hurtigkeit um die Todesecke gebrachten jungen Gelehrten, kommt vergleichsweise
noch gut weg: der Autor billigt ihm Familiensinn zu, wenngleich auf eine Weise,
die den Leser sofort ins Bild bringt darüber, daß es eine Eigentümlichkeit der
jüdischen Rasse ist, tribal zusammenzuhalten, da man doch den blöden Goj mittels
unverbrüchlicher Familiensolidarität am besten prellt. Die anderen Juden – man
hat den Eindruck, als sei der Verfasser geradezu traumatisch fixiert gewesen auf
diese ekligen Leute – sind gleichsam der Gottseibeiuns in höchsteigener Person.
Da lernen wir zum Beispiel Schmeie Tinkeles kennen – ja: Schmeie Tinkeles; ich
erzähle nicht etwa einen blöden Judenwitz aus dem Stegreif, halte mich vielmehr
streng an den Text. Schmeie Tinkeles! Ein huschender, ewig mit anrüchigen
Geschäften befaßter und, was den Autor offenbar am meisten in Rage versetzt, dem
ordentlichen Wohlfahrt sich ständig auf unappetitliche Art anbiedernder
Schatten. Ein wohlgelungener Scherenschnitt, den man sich am Biertisch grinsend
herumreicht. Die absolut widerwärtigste Figur aber ist der verbrecherische Jude
Veitel Itzig, ein ehemaliger Schulkamerad Anton Wohlfahrts, der im Laufe der
Erzählung diesem gegenübergestellt wird wie das total negative, teuflische
Prinzip dem guten und humanen. Das Scheusal wird präsentiert wie folgt: »Junker
Itzig« – man vermerke bitte die feine Ironie der Bezeichnung »Junker«! – »Itzig
war keine auffallend schöne Erscheinung. Hager, bleich, mit rötlichem, krausem
Haar, einer alten Jacke und defekten Beinkleidern, sah er so aus, daß er einem
Gendarmen ungleich interessanter sein mußte als anderen Reisenden.« Was tut’s.
Anton, der grundgütig ist und keine Vorurteile kennt, hatte sich seinerzeit auf
der Schule sogar für den Unsympathischen geschlagen, wenn Mitschüler ihn
verhöhnten. »Seither«, heißt es weiter, »hatte Itzig eine gewisse Anhänglichkeit
an Anton gezeigt, welche er dadurch bewies, daß er sich bei schweren Aufgaben
von seinem Beschützer helfen ließ und gelegentlich ein Stück von Antons
Buttersemmel zu erobern wußte …«. Wie denn auch anders: Der Schandjude kann nur
schändlich handeln, weil er es eben so will. Veitel Itzig geistert durch
Freytags Buch als eine zugleich lächerliche und satanische Erscheinung. Aus
lauter Raffgier und Unehr-Geiz wird der Itzig schließlich sogar zum Mörder eines
seiner Kumpanen, ehe er selber das wohlverdient gräßliche Ende nimmt: das
moralische metaphysische Weltgleichgewicht, die prästabilierte Harmonie wird
erst wieder hergestellt, nachdem alle bösen Juden aus der Welt geschafft sind.
Wer wohlfährt, der triumphiert über die Spuk-Dämonen, heiratet die Schwester des
Chefs und öffnet unter dem Zeichen »Mit Gott« sein neues Soll- und Haben-Konto,
dessen stattliche Bilanz der wohlgeneigte und befriedete Leser mit dem Gefühl
von Sicherheit vorausahnen darf.
Man möchte meinen, es habe die deutsche Bourgeoisie der Mitte
des 19. Jahrhunderts keine wichtigeren Sorgen gehabt als die grundschlechten
Juden und die verwilderten Slawen. Allein diese grobe Verzeichnung der
Verhältnisse müßte schon genügen, um Freytags Buch als Dokument zu
disqualifizieren. Womit ich nicht sagen will, es seien nicht für alteingesessene
Kaufleute in Breslau tatsächlich die übermäßig rührigen und moralisch nicht
zimperlichen, aufstrebenden Juden eine peinliche Konkurrenz gewesen; und es soll
auch nicht abgestritten werden, daß für die Oder-Deutschen die Polen, die sich
partout nicht fügen wollten in die aus dem Westen importierte Sauber-Ordnung,
ein wirkliches Problem waren. Unvergleichlich bedeutsamer und gefährlicher für
die Wohlfahrts & Co. war aber ganz gewiß die Heraufkunft des Vierten Standes,
der für den Romancier nur ein pittoreskes Detail ist. Mit der grobschlächtigen
Verzeichnung der sozialen Landkarte fällt aber nicht nur der dokumentarische,
sondern auch der ästhetische Wert des Werkes. Verzeichnung ist wohl ein
legitimes Stilmittel – jedoch nur so lange, wie sie geistreich und witzig ist
oder auch visionär-expressionistisch. Noch einmal sei als Vergleich Flauberts
»Madame Bovary« herangezogen. In diesem Buch macht der Autor reichlich Gebrauch
vom Mittel der Karikatur, namentlich bei der Zeichnung des
Fortschritts-Philisters, des Apothekers Homais. Was aber bei dem Franzosen böse
und grausam satirisch ist, das wird beim Deutschen schmatzend, selbstzufrieden
und vor allem: wohlfeil, im Ausverkauf angeboten. Die Ironie ist plump und hebt
damit sich selber auf; die Satanisierung (im Gegensatz auch zu der eines Hauff!)
ist nicht apokalyptisch, sondern sittsam. Hier hat ein mittelmäßiger Autor ein
mittelmäßiges Buch für mediokre Leser geschrieben: dies ist so klar zu sagen,
wie Hans Mayer es in seinem allzu fürsichtigen Nachwort leider nicht gesagt hat.
– Ebenso charakteristisch für die triste Mittelstands-Intelligenz des
Schriftstellers Freytag ist auch die Darstellung der adeligen Schicht. Sie ist
zugleich respektvoll (wie denn auch anders: der Zeitgenosse einer Revolution,
die keine war, der Vorfahr des Wilhelminismus ahnt, daß diese Leute noch lange
nicht ganz am Ende sind und daß darum Zurückhaltung geboten ist!) wie auch auf
unerträgliche Weise überheblich: die ständigen Bücklinge verbergen nicht die
falsche Selbstgewißheit einer Bourgeoisie, die sich im Besitze der Macht wähnt,
aber dieser Macht noch keine rechte Legitimität zuspricht, da eine solche nicht
nur erworben werden muß, durch eisernen Kaufmannsfleiß, sondern auch ererbt. Was
Freytag dem Adel, der verkörpert ist in dem Baron Rothsattel, dessen
schön-kühler Gattin, seinem zum Glücksspiel neigenden Sohn und seiner
stolz-wilden Tochter, vorzuhalten hat, ist allenfalls Mangel an weltlicher
Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit. Einerseits kommt dem Autor nicht in den Sinn,
daß es sich da um eine brutale Unterdrücker-Kaste handelt, andererseits erkennt
er nicht – denn, ach, er ist nur Literaturprofessor und sitzt, wenn überhaupt,
sicher elend zu Pferde – die ästhetischen Werte, die der Geburtsadel
einschließt. Wenn ich mir was vom Adel erzählen lassen will, dann noch lieber
von dem arroganten Börries von Münchhausen, der wenigstens weiß, wovon er
spricht, zu schweigen von dem wunderbaren Eduard von Keyserling, in dem sich
schon ausdrückt, was nachmals die ganz unsentimentale Gräfin Dönhoff in ihrem
Buch »Namen, die keiner mehr nennt« literarisch zu Ende geführt hat: die
Melancholie einer Schicht, die den rechten Adel erst in ihrem Untergang findet
und in einer stillen Resignation. Freytags Bürgerstolz ist nicht einer vor
Königsthronen: er ist Ausdruck einer kleinbürgerlichen Selbstgefälligkeit, für
die der Besitz selber keine moralische Größe hat und für die Bildung ihrerseits
nicht mehr bedeutet als geizige Aufsammlung von Kenntnissen, die sich kleinlich
verwerten lassen. Unter solch tristen Voraussetzungen kommt nichts weniger
zustande als ein realistischer Roman. Kleinbürgerliche Süffisanz bildet einen
Schleier, hinter dem soziale Realität ebenso unsichtbar wird wie
individuell-humane. Jedes psychologische Vorhaben wird unmöglich, wo Denk- und
Redeklischees im Wege stehen. Freytag hat sich nicht einmal bemüht, diese Hürde
zu nehmen. Beim besten Willen vermöchte ich nicht zu sagen, was an diesem Buch
beachtenswert ist. Ich frage mich sogar, was den Verlag zu einer immerhin
kostspieligen Neu-Auflage veranlaßt haben kann – und gebe mir die naheliegende
Antwort: die Hoffnung auf Verfilmung. Somit liegt ein knappes Nachwort zu der
inzwischen abgeschlossenen Debatte über die Fernseh-Adaptation von »Soll und
Haben« nahe. Wäre der Regisseur dem Text treu geblieben, das Ergebnis hätte
selbst bei menschenfreundlichsten Intentionen nur ein übles antislawisches und
antisemitisches Machwerk werden können, eine Art leicht mit Zivilisations-Firnis
überstrichener Veit Harlanscher »Jud’ Süß«. Hätte man sich andererseits vom
Geist und Text Freytags wegbewegt, dann würde man konsequenterweise ein
Anti-Soll-und-Haben produziert haben, also: nicht eine Verfilmung der
literarischen Vorlage, sondern eine kritische und schließlich vernichtende
Auseinandersetzung mit ihr. – Ich bin gegen jegliche Einschränkung
künstlerischer Freiheiten und hätte, wäre es auf mich angekommen, schon aus
prinzipiellen Gründen kein Veto einlegen wollen gegen die Verfilmung dieses
Romans. Aber ich muß zugeben, daß ich erleichtert bin bei dem Gedanken, daß die
polnischen Mordbrennerhorden, die Schmeie Tinkeles und Veitel Itzig nicht über
Millionen bundesdeutscher Fernsehschirme gehen werden. – Es gibt ja so viele
ungehobene Schätze. Warum nicht einmal Kellers Grünen Heinrich optisch präsent
machen? Warum nicht Otto Ludwigs »Zwischen Himmel und Erde«? Warum nicht
Ferdinand von Saar oder die Ebner-Eschenbach! Die deutsche Literatur des XIX.
Jahrhunderts ist nicht so arm, daß man es nötig hat, ausgerechnet auf Freytag zu
kommen.
Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus
Jean Améry: Werke. Hrg. v. Irene Heidelberger-Leonard, Bd.5,
Klett-Cotta, Stuttgart 2003. 640 Seiten, 34 Euro. Das Buch erscheint im August.
Jungle World
Jungle World (Nummer 30 vom 16.07.2003)
DG /
hagalil.com
/ 2003-07-25
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