Theodor Bergmann:
»Nichts ist endgültig«
Ein Gespräch mit Theodor Bergmann über den 17. Juni, seine
Biografie als Jude und Kommunist in Deutschland und die Irrwege des Sozialismus...
Interview: Thorsten Fuchshuber und Danièle Weber
Der Arbeitskampf
Die westliche Geschichtsschreibung bezeichnet den Aufstand vom 17. Juni als
»Volksaufstand«, der die Wiedervereinigung zum Ziel hatte, während im Osten die
Version verbreitet wurde, westliche Agenten hätten versucht, eine
Konterrevolution anzuzetteln. Was waren aus Ihrer Sicht die Motive der
Beteiligten?
Für meine Begriffe war der Aufstand eine Sache der ostdeutschen Arbeiter in den
großen Städten. Sie waren zutiefst unzufrieden mit der Art, wie der Sozialismus
aufgebaut werden sollte, forderten verbesserte Lebensbedingungen und
protestierten gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen. Aber sowohl die Führung der
Gewerkschaften als auch die Führung der Partei und des Staates haben sich nicht
dafür interessiert, wie unzufrieden die Menschen waren. Die SED hat den Fehler
gemacht, dass sie diese Revolte zu einem faschistischen Aufstand erklärt hat,
zur Konterrevolution. Die westdeutschen Kapitalisten und Historiker haben es
dann leicht gehabt, dies als einen Aufstand für die Wiedervereinigung
darzustellen. Die ostdeutschen Arbeiter wollten jedoch weder eine
Privatisierung, noch wollten sie eine so genannte Wiedervereinigung.
Es gab Mobilisierungen wie in Bitterfeld und in thüringischen Städten, wo die
westdeutsche Nationalhymne gesungen und Forderungen nach »nationaler Einheit«
laut wurden. Wie stark schätzen Sie diese deutschnationale Strömung ein?
Ich glaube, auch daran ist die politische Führung schuld. Sowohl die SED wie
auch die KPD haben jahrelang für ein vereinigtes Deutschland gekämpft. Ich habe
das von Anfang an abgelehnt. Ich habe mich gefreut, dass es zwei Deutschländer
gab, weil damit der deutsche Kapitalismus einen Teil seines Machtbereichs
verloren hatte. Sicher hat es auch Leute im Osten gegeben, die auf den Westen
gehofft haben. Doch erst als die Auseinandersetzung um die Arbeitsnormen immer
heißer wurde, nahm sich der Westen der Sache an. So hat etwa der Rias, der
antisowjetische Rundfunk von Westberlin, versucht, diese Geschichte mit sozialer
Demagogie weiterzutreiben, und damit manche Arbeiter verwirrt.
Es haben sich auch Arbeiter aus Ostdeutschland an den Rias gewandt, mit dem
Wunsch, ihre Forderungen zu verbreiten.
Das ist mir nicht bekannt, doch es ist durchaus möglich. Auch Moskau hat von der
Sache gewusst. Die Moskauer Gesprächspartner hatten Otto Grotewohl und Walter
Ulbricht gesagt: Ihr müsst das ändern. Doch erst nach dem 17. Juni hat sich die
DDR-Führung in einer Sitzung des Zentralkomitees und des Politbüros mit den
Arbeitsnormen beschäftigt. Das war zu spät, und so konnte sich der Rias zum
Sprecher der arbeitenden Menschen machen, was der Sender sonst nie war.
Wie war das gesellschaftliche Klima vor dem 17. Juni?
Ich habe öfter die DDR ohne Genehmigung der SED und der sowjetischen Behörden
besucht und hatte engen Kontakt mit meinen dortigen Freunden. So wusste ich,
welche Bedingungen dort herrschten. Man konnte sich zum Sozialismus bekennen,
man konnte aber nicht sagen, dass die Politik der Partei falsch war.
Wie haben Sie den 17. Juni erlebt?
Ich war ja im Westen und habe mir gedacht: Es ist traurig, dass die SED-Führung
nicht versteht, wo die Arbeiter der Schuh drückt. Ich habe mich auch gewundert,
dass die SED nicht einmal die Mahnungen aus Moskau gehört hat, wo man nach dem
Tod Stalins sensibler für Probleme war.
Haben Sie das öffentlich kritisiert?
Ich habe mich damals nicht öffentlich geäußert.
Warum nicht?
Nicht dass ich nicht wollte. Ich war seit dem Frühjahr 1952 nicht mehr der
verantwortliche Redakteur der Zeitschrift Arbeiterpolitik, die ich mitgegründet
habe. Wo sonst hätte ich mich äußern sollen? Niemand hätte damals etwas von mir
gedruckt. Als ich nachher Gelegenheit hatte, habe ich etwas geschrieben.
Wurde mit der Niederschlagung des Aufstands die endgültige Niederlage des
Sozialismus in der DDR eingeleitet?
Es gibt nichts Endgültiges in der Geschichte, es gibt immer wieder
Weichenstellungen.
Und in Bezug auf die DDR?
Auch in der DDR gab es nichts Endgültiges. Ich habe natürlich gehofft, dass die
Leute dazulernen. Ich habe 1956, als Chruschtschow die Stalinverbrechen
aufgedeckt hat, gehofft, dass die DDR sagt: »Da sind Verbrechen begangen worden
und einige unserer Köpfe waren auch daran beteiligt.« Zwar hat es keine Moskauer
Prozesse wie bei Stalin gegeben, aber man hat Leute, die parteitreu waren, für
viele Jahre eingesperrt. Und 1985, als Gorbatschow eine Reform versucht hat,
hätte man die Dinge ebenfalls wieder wenden können. Erst als die großen Helden
des Politbüros die Grenzen aufgemacht haben, waren alle Chancen vertan.
Häufig wird der 17. Juni in eine Linie mit dem November 1989 gestellt.
Ich finde das völlig illegitim. Es ist einmalig in der Geschichte, dass ein
Streik der Arbeiter zu einem Nationalfeiertag in einem anderen Land erklärt
wurde. Damit wurde versucht, das zu okkupieren, was ostdeutsche Arbeiter
geleistet haben. Heute hören wir täglich, wie schädlich Arbeiterstreiks seien,
also das Gegenteil von dem, was man nach 1953 gesagt hat. Das zeigt die
Heuchelei und die Verlogenheit der bürgerlichen Historiker und Medienfachleute.
Kommunist und Jude
Sie wurden 1916 in Berlin als Sohn eines Rabbiners geboren und waren schon früh
mit sozialistischem Gedankengut vertraut. Wie kam es zu ihrer frühen
Politisierung?
Mein Vater hat wenig Einfluss auf uns gehabt, eigentlich gar keinen. Durch zwei
Dinge bin ich stark beeinflusst worden: erstens durch meine fünf älteren Brüder.
Ich war das siebte von acht Kindern. Zweitens durch unsere politische und
gesellschaftliche Umwelt, durch das rote Berlin, durch die Demonstrationen und
durch die reaktionäre Schule, die mich immerzu veranlasst hat zu widersprechen.
Meine Brüder haben mir beim Widerspruch gegen reaktionäre Lehrer geholfen, und
so bin ich allmählich in die Arbeiterbewegung hineingekommen.
Sie waren nahezu von Anfang an Mitglied der Kommunistischen Partei-Opposition
(KPD-O). Wer waren die führenden Leute in der KPD-O?
Die KPD-Opposition hat sich Ende 1928 gegründet. Ende 1923/Anfang 1924 wurde zum
ersten Mal die deutsche KPD-Führung ausgewechselt. Heinrich Brandler, August
Thalheimer und die so genannten Rechten wurden abgesetzt. Die neue Parteiführung
verfolgte eine »ultralinke« Politik, gegen die sich die Rechten wandten.
Später, Anfang 1928, folgte ein Beschluss der Stalin- und der Thälmann-Fraktion,
in dem erklärt wurde: Die »Rechten« sind die Hauptgefahr. Die meisten ihrer
führenden Funktionäre mussten bis Ende 1928 gehen. Sie beschlossen, eine eigene
Organisation zu gründen – keine Partei, sondern eine organisierte Strömung im
Kommunismus: die KPD-O.
Ein zentraler Punkt in der Auseinandersetzung zwischen KPD und KPD-O war die
Faschismusanalyse.
Das war eine der wesentlichen Leistungen der oppositionellen Kommunisten. Zu
einer Zeit, in der alle anderen geschlafen oder die Augen verschlossen haben,
legten sie eine hervorragende Faschismusanalyse vor. Hier wird der Faschismus
als eine ambivalente Bewegung erklärt, die in Wirklichkeit die Interessen des
deutschen Kapitalismus vertritt, die aber ihre Massenbasis bei den Deklassierten
aller Klassen hat.
Diese Theorie hat gezeigt, dass der Nationalsozialismus eine Gefahr für alle ist
und alle Arbeiterorganisationen existenziell bedroht. Im Programmentwurf der
KPD-O von 1928 werden auch die Ziele der Nazis dargelegt: dass sie alle
Organisationen verbieten und die bürgerliche Demokratie, die Presse-, die
Demonstrationsfreiheit aufheben werden. Und dass der Nationalsozialismus die
Absicht hat, Deutschland zu einer Weltmacht zu machen, was die Vorbereitung des
zweiten Weltkrieges bedeutet.
Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 mussten Sie aus Deutschland
fliehen. Warum sind Sie nach Palästina gegangen?
Es gab kein Land, dass einen jüdischen Kommunisten aufnehmen wollte. Selbst in
die Sowjetunion konnte man nur gelangen, wenn die Partei das den Leuten in einem
langen Verfahren genehmigt hatte. Für Palästina wurden jährlich 2 500
Einreiseerlaubnisse erteilt. Eine davon habe ich bekommen, und ich war zwei
Jahre als Landarbeiter dort. Dann bin ich in die Tschechoslowakei, habe dort als
Landarbeiter gearbeitet und angefangen zu studieren. Außerdem habe ich über die
Grenze hinweg Kontakt zu meinen Freunden gehalten.
Warum sind Sie nach Europa zurückgekehrt?
Ich habe gedacht, dass der Nationalsozialismus nicht lange regieren wird. Ich
wollte dabei sein, wenn in Deutschland wieder andere Verhältnisse kommen.
Außerdem war ich kein Zionist und hatte nicht die Absicht, in Palästina zu
bleiben. Ich hatte gehofft, wieder nach Deutschland einreisen zu können, was
aber 1938 durch den Einmarsch der deutschen Truppen in die CSR verhindert wurde.
Dann bin ich nach Schweden geflohen. Dort war ich bis Anfang 1946 und bin mit
einer kleinen Gruppe von 30 freiwilligen Rückkehrern wieder nach Deutschland
gekommen, auf demselben Schiff mit 30 Nazis, die gar nicht freiwillig
zurückkehrten.
»Volk« und »Besatzer«
War es eine schwere Entscheidung, in welchem Teil Deutschlands Sie fortan leben
wollten?
Nein. Ich habe wählen können zwischen Ost- und Westdeutschland, obwohl ich für
Ostdeutschland damals noch die Erlaubnis der KPD benötigt hätte. Aber ich war
mir darüber im Klaren, dass ein kritischer Kommunist in Westdeutschland mehr
Chancen auf freie politische Betätigung hat als in Ostdeutschland.
Aus welchem Grund?
Weil wir den Stalinismus gekannt haben und wussten, was in der Sowjetunion in
den dreißiger Jahren mit allen kritischen Leuten passiert ist, auch mit unseren
Freunden. Es gab Prozesse gegen die »Brandleristen«, eine ganze Reihe von ihnen
wurde in der Sowjetunion hingerichtet. Ich habe auch mit den KPD-O-Leuten
gesprochen, die in Ostdeutschland eine große Rolle gespielt haben, bevor man sie
abgesetzt hat. Sie konnten nur unter den Direktiven der Sowjets und unter der
Kontrolle der Partei arbeiten. Das war nicht meine Absicht.
Der Vordenker der KPD-O, August Thalheimer, plädierte 1945 dafür, die
»nationalen Interessen der deutschen Werktätigen« zu vertreten und wandte sich
gegen die »sowjetische Besatzung«. Hatten Sie keine Bedenken, dass diese
Forderungen nationalistische Stimmungen in der Bevölkerung ansprachen? Ein nicht
geringer Teil der deutschen Bevölkerung war ja an den Verbrechen der Nazis
beteiligt, der größte Teil hat sie widerstandslos gewähren lassen. Da traf der
Ruf nach »Befreiung von Fremdherrschaft« sicher auf mehr Zustimmung als
Forderungen nach Befreiung von Herrschaft an sich.
Ich sehe in diesen Forderungen Thalheimers keinen Nationalismus im Sinne des
bürgerlichen Kapitalismus. Denn die deutschen Kapitalisten waren damals bereit,
die Fremdherrschaft zu akzeptieren. Sie wussten, dass diese Fremdherrschaft den
deutschen Kapitalismus konsolidiert und reetabliert. Das war der Sinn der
amerikanisch-britisch-französischen Besatzung. Deutschland sollte wieder zur
kapitalistischen Speerspitze gegen Osteuropa werden.
Eine solche Darstellung blendet die Tatsache aus, dass der Einmarsch der Roten
Armee und der westlichen Alliierten weithin nicht als Befreiung, sondern als
Besatzung wahrgenommen wurde.
Ich glaube, es ist heute schwer, sich die politische Atmosphäre von damals
vorzustellen. Es gibt eine ganze Reihe Hinweise darauf, dass es durchaus ein
revolutionäres Potenzial für eine sozialistische Veränderung in Europa gab.
Thalheimers Forderung ging davon aus, dass die deutschen Arbeiter etwas tun,
nämlich dass sie sich gegen die Demontage ihrer Arbeitsplätze wehren, damit sie
den Sozialismus aufbauen können. Seine Forderungen waren proletarische.
Die deutschen Arbeiter sind zum Teil Nazis geworden, zu einem großen Teil aber
nicht. Und an letztere hat sich Thalheimer gewandt. Nicht zu Unrecht ging er
davon aus, dass die Besatzungsmächte hier eine Revolution verhindern und den
Kapitalismus wieder aufbauen wollten.
Die Vorstellungen der deutschen Arbeiterschaft nach 1945 waren nicht gerade
sozialistisch. Es gab auch kein Schuldbewusstsein. Hätten die Kommunisten nicht
das thematisieren müssen, anstatt gegen »unrechtmäßige Besatzer«, egal ob
Amerikaner oder Sowjets, zu agitieren?
Kritische Kommunisten wie Thalheimer und Brandler haben sich gewehrt gegen die
Fremdherrschaft – sowohl der sowjetischen Roten Armee wie der westlichen
Siegermächte, weil sie gesagt haben, dass damit das sozialistische Potenzial der
deutschen Arbeiter behindert wird. Und es hat ja nicht bloß Nazis gegeben, es
hat ja auch in vielen Orten antifaschistische Ausschüsse gegeben, bevor die
Amerikaner kamen. Und diese antifaschistischen Ausschüsse wurden von den
kapitalistischen Besatzungsmächten und von der sowjetischen Besatzungsmacht
aufgelöst. Das waren Ausschüsse, die eine neue Einheit der Arbeiterklasse
schaffen wollten, Sozialdemokraten und Kommunisten zusammen.
Aber das war nur ein kleiner Teil innerhalb der Arbeiterschaft. Eine sehr
fragile Grundlage, um darauf eine Gesellschaftsanalyse zu stützen und
Forderungen abzuleiten.
Man weiß nicht, wie groß der Anteil war. Jedenfalls haben die Besatzungsmächte
wie alle Besatzungsmächte diese Eigeninitiative der Arbeiter behindert, und die
alliierten Besatzungsmächte haben den deutschen Kapitalismus rehabilitiert und
konsolidiert, bis zur Wiederaufrüstung. Es gibt keinen deutschen Kapitalismus
ohne Militarismus. Und deswegen waren diese nationalen Forderungen auch
eindeutig gegen die deutschen Kapitalisten gerichtet.
Sie waren auch selbst schon bald wieder mit früher aktiven Nazis konfrontiert.
Zum Beispiel als Sie ihre Dissertation 1955 an der Universität Hohenheim
promovierten, wo sie später auch Professor für internationale vergleichende
Agrarpolitik wurden.
Ich habe natürlich als Kommunist und als Jude eine ganze Menge Schwierigkeiten
gehabt. Ich alleine kann den Nazismus in Deutschland und das, was dank unserer
Besatzungsmächte übrig geblieben ist, nicht beseitigen. Ich habe Kollegen
gehabt, die haben gesagt: »Ich war dumm und habe es nicht verstanden.« Das
akzeptiere ich. Andere waren immer noch Nazis in ihrem Denken. Mit denen habe
ich mich nie arrangieren können.
Was machen Sie heute?
Ich schreibe Bücher über die Geschichte des Kommunismus, über die Alternativen
im Kommunismus. Mich beschäftigt die Frage, welche Alternativen es zum
Stalinismus gegeben hat, und ich will zeigen, dass der Kommunismus kein
geschlossenes System, sondern ein Instrument zum Nachdenken und zur Analyse ist.
www.jungle-world.com
Jungle World (Nummer 25 vom 11.06.2003)
kt /
hagalil.com
/ 2003-06-14
|