antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

Judentum und Israel
haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

 
[Der Pressespiegel im Klick nach Rechts]

Jahrestag:
Brennende Landschaften

Am 29. Mai jährt sich der Mordanschlag auf eine türkische Familie in Solingen zum zehnten Mal...

Jan Süselbeck

Viele Solinger glauben heute, die Familie Genc lebe von großzügigen Entschädigungen im Luxus. Tatsächlich verlassen die Überlebenden des Brandanschlags vom 29. Mai 1993 ihr von Kameras überwachtes Haus kaum. Vater Durmus Genc ist arbeitslos. Schmerzensgeld hat die Familie bis heute nicht erhalten. Und die Stadt Solingen halte die Zustelladresse des Attentäters Felix K., der mittlerweile wieder auf freiem Fuß sei und eine Arbeitsstelle habe, geheim, wie das ZDF-Magazin »Frontal 21« berichtet. Daher sei es der Familie Genc bis heute nicht möglich, Schadensersatz einzuklagen.
Gencs Anwalt Rainer Brüssow sagte dem ZDF über die Solinger Behörden: »Sie sind Gehilfen der Brandstifter. Sie geben die Anschrift nicht heraus, weil sie meinen, dass dieser Brandstifter gefährdet würde, wenn die Anschrift bekannt würde.«
Vor zehn Jahren erreichte die Euphorie der Wiedervereinigung einen Höhepunkt. Nach den Pogromen in Hoyerswerda, Rostock und Mölln änderte die Bundesregierung am 26. Mai 1993 den Artikel 16 des Grundgesetzes, das Recht auf Asyl. Nur drei Tage später zeigte sich in der westdeutschen Stadt Solingen, dass der rechtsextremen Szene das noch lange nicht genug war.
Bei dem Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Zweifamilienhaus starben fünf Menschen. Hülya Genc (9), Gülüstan Öztürk (13) und Hatice Genc (18) kamen in den Flammen ums Leben. Gürsun Ince (27) und Saime Genc (4) erlagen ihren Verletzungen nach einem Sprung aus dem Fenster. Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges Kind und ein 15 Jahre alter Junge wurden mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.
Der Anschlag wurde in einem gesellschaftlichen Klima begangen, in dem Ausländer zu einer Gefahr für die Bundesrepublik stilisiert wurden. Nichts war plötzlich wichtiger als die in der Bevölkerung bestehenden »Ängste« vor einer angeblichen »Überfremdung«. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sprach gar von einem drohendem »Staatsnotstand«.
Rassistische Ressentiments in der Bevölkerung wurden als »Politikverdrossenheit« bezeichnet. Politische Entscheidungen wurden von irrationalen Ängsten und Aggressionen mitbestimmt, die zusehends außer Kontrolle gerieten. So kam es schließlich zur gesetzlichen Verschärfung des Asylrechts. Die Rechtsextremen fühlten sich ermutigt.
Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe teilte kurz nach der Tat mit, dass sie Haftbefehl gegen einen 16jährigen Jugendlichen erlassen habe. Bald darauf zog sie einen Aufruf zur Fahnung nach vier Skinheads, den sie nach den Aussagen des verhafteten 16jährigen veröffentlicht hatte, überraschend zurück. Es gebe »begründete Anhaltspunkte«, dass die Beschreibung der Mittäter falsch sei. Medien griffen diese Nachricht erleichtert auf und legten sich auf die Version der Geschichte fest, es habe sich bei dem Solinger Anschlag um die Tat eines verblendeten Einzelgängers gehandelt.
Otto Graf Lambsdorff (FDP) fand gleich nach dem Anschlag die Antwort auf die bange Frage, wer den jungen Täter so sehr verwirrt haben könne: das »Achtundsechziger-Denken«. Die angeblich so liberale Pädagogik in der Bonner Republik sollte an allem Schuld gewesen sein. So konnte man selbst noch einen rassistischen Mord für das Projekt eines autoritären Erziehungssystems nutzen.
Ziel der Rede vom Einzeltäter war nicht die Erörterung der gesellschaftlichen Ursachen, die zu der Solinger Tat geführt hatten. Vielmehr ging es darum, die Gemeinschaft, die sich gerade in einem parlamentarischen Akt gegen die Aufnahme von Asylbewerbern ausgesprochen hatte, von den Gewalttätern auf der Straße abzugrenzen. Zudem wurde so die Verharmlosung eines Mordes möglich, dessen Zusammenhang mit der deutschnationalen Stimmung nach der Wiedervereinigung offenkundig war.
Schnell stellte sich heraus, dass die von der Bundesanwaltschaft und dem Bundeskanzleramt aufgestellte These vom »asozialen Einzeltäter«, wie Helmut Kohl ihn nannte, eine schlichte Schutzbehauptung war. Nun räumte die Bundesanwaltschaft plötzlich ein, es habe doch vier Täter gegeben. Am 4. Juni 1993 wurden drei weitere Männer aus der Solinger Skinhead-Szene im Alter zwischen 16 und 23 Jahren festgenommen.
Die Verhafteten waren keine sozial marginalisierten Sorgenkinder, sondern verfügten über Kontakte in eine komplex organisierte rechtsextreme Szene, in der auch der Verfassungsschutz eine Rolle spielte. Bernd Schmitt, ein V-Mann in Nordrhein-Westfalen, der angeblich zu Ermittlungen in der rechtsextremen Szene eingesetzt wurde, organisierte nicht nur Ordnerdienste für die Republikaner und andere rechtsextreme Vereinigungen in der Region. Schmitt hatte in Solingen Anfang der neunziger Jahre die Kampfsportschule Hak-Pao gegründet, in der auch die Attentäter verkehrten. Auch für den Verein Arbeitskreis Deutsche Interessen (ADI), hatte Schmitt die Clique um die angeklagten Solinger Täter Felix K. und Markus G. angeworben.
Über Schmitts Loyalitäten wurde nach dem Mordanschlag seiner Schützlinge zwar gerätselt, Konsequenzen für den Verfassungsschutz aber gab es nicht. Auch die Presse empörte sich kaum über diese Hintergründe der Tat. Der damalige nordrhein-westfälische Innenminister, Herbert Schnorr (SPD), erklärte: »Die vielfältigen rechtsextremistischen Kontakte des Schmitt lagen auch im Interesse der Verfassungsschutzbehörde.« Schmitt selbst aber sei kein Rechtsextremist gewesen. Dabei offenbarten diese Zusammenhänge, dass der Solinger Anschlag eine Folge weitreichender gesellschaftlicher Vorgänge war, die ganz neue Vernetzungen und Agitationsformen rechtsextremer Vereinigungen toleriert und möglich gemacht hatten.
Am 13. Oktober 1995 verurteilte der sechste Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf den 24jährigen Markus G. wegen fünffachen Mordes, 14fachen Mordversuches und besonders schwerer Brandstiftung zu 15 Jahren Freiheitsstrafe. Der 18jährige Felix K., der 19jährige Christian R. und der 22jährige Christian B. wurden zur höchsten Jugendstrafe von zehn Jahren verurteilt.
Der Solinger Appell – Forum gegen Krieg und Rassismus ruft für den 29. Mai in Solingen zu einer Demonstration auf. Treffpunkt ist um 12 Uhr auf dem Rathausparkplatz.

www.jungle-world.com
Jungle World (Nummer 23 vom 28.05.2003)

kt / hagalil.com / 2003-06-05

Die im Pressespiegel veröffentlichten Texte spiegeln die Meinungen der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Verantwortlichen dieser Website wieder.


DE-Titel
US-Titel

Books

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2013 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved