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Ausstellung:
Menschen als Material

Eine Sonderausstellung im Medizinhistorischen Museum beschäftigt sich mit Menschenversuchen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern...

Verena Sarah Diehl

Wie neutral sind die Naturwissenschaften? Wie neutral ist die Medizin? Diese Fragen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus Anlass der Nürnberger Ärzteprozesse im Jahr 1946 gestellt. Der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich dokumentierte die Ärzteprozesse, in denen Ärzte und Wissenschaftler wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurden. 16 der 23 Angeklagten wurden für schuldig befunden, unter den verhängten Strafen waren sieben Todesstrafen und fünfmal lebenslänglich.

Im Gegensatz zu seinen Kollegen bewertete Mitscherlich die Verbrechen der Verurteilten nicht als Unfälle der Geschichte und als kriminelle Vergehen Einzelner. Er untersuchte sie vor dem Hintergrund der Methoden und Inhalte der Naturwissenschaften selbst und stellte fest, dass diese nicht wertfrei und neutral seien. Eben dadurch, dass die Naturwissenschaften für sich in Anspruch nähmen, allein auf der Rationalität und nachweisbaren Fakten zu basieren, verschleierten sie die irrationalen und widersprüchlichen Momente ihrer Argumentation und ihrer Methoden.

Hermann Rein, ehemals Professor der Physiologie in Göttingen, schrieb in der Göttinger Universitätszeitung gegen die Thesen Mitscherlichs an. Er verteidigte die Objektivität und Reinheit der Wissenschaften. Die Wissenschaft könne nur von machtpolitischen und finanziellen Interessen verunreinigt werden. Somit seien die Forschungen der Naziärzte unwissenschaftlich gewesen.

Mitscherlich entgegnete, dass sich die Wissenschaften gleichzeitig mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten, also nie losgelöst davon existierten. Auch beinhalte die Wissenschaft eine latente Aggressivität, da sie Menschen zu Objekten, zum Forschungsmaterial degradiere. In der Logik der Forschung sei es geradezu konsequent, wenn Forscher, sobald sie die Möglichkeiten wie im Nationalsozialismus hätten, diese auf abscheuliche Weise nutzten.

Obwohl nicht direkt angesprochen, durchziehen solche Fragen die Ausstellung im Medizinhistorischen Museum in der Berliner Charité mit dem Titel: »Gewissenlos – Menschenversuche im Konzentrationslager«. Seit seiner Wiedereröffnung im August des vergangenen Jahres verfügt das Museum neben einem historischen Teil zur Medizin im Allgemeinen über Räume für Sonderausstellungen zu medizinhistorischen Themen. Die gegenwärtige Sonderausstellung beschäftigt sich mit den medizinischen Versuchen an KZ-Häftlingen, die in unzähligen Fällen zu lebenslangen Schäden, zu Traumatisierungen oder zum Tod führten.

Die AusstellungsmacherInnen spürten Hinweisen auf Menschenversuche von der Antike bis ins 20. Jahrhundert nach und widmen sich der Darstellung der Forschungen und der Aufarbeitung dieser Verbrechen. Verschiedene ideologische Wegbereiter der von den nationalsozialistischen Ärzten begangenen Verbrechen werden vorgestellt. So hätten etwa Erwin Bauer, Eugen Fischer und Fritz Lenz bereits 1921 in ihrem Buch »Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene« darauf hingewiesen, dass der medizinische Fortschritt auch das Überleben der weniger tüchtigen und minderwertigen Menschen sichere. Darin sahen sie eine Gefahr.

Die Ausstellung konzentriert sich allerdings auf die Forschungen der im Ärzteprozess angeklagten Wissenschaftler, die vor allem in Konzentrationslagern arbeiteten. Entsprechend gliedert sich die Ausstellung nach deren Arbeitsschwerpunkten. Die Fleckfieberversuche von Gerhard Rose in Buchenwald werden dargestellt, die Zwillingsforschung von Josef Mengele in Auschwitz, Gasbrandversuche von Karl Gebhardt in Ravensbrück und die Unterdruckversuche von Sigmund Rascher in Dachau.

Andere »Forschungsgebiete«, etwa die Reproduktionsmedizin, werden in der Ausstellung nicht behandelt. Dabei wurde gerade anhand der Reproduktionsmedizin der Nationalsozialisten, deren Forschung und Anwendung insbesondere Frauen betraf, deutlich, was es heißt, Bevölkerungspolitik zu betreiben. Darstellungen der Forschungen zur Sterilität, zu Erbkrankheiten, Hormonen und dem weiblichem Zyklus, zur Fortpflanzungsphysiologie, zu künstlicher Befruchtung und Züchtung bis hin zur Ideologie des deutschen Mutterkults und den verbreiteten Lügen über Gefahren, die von »jüdischen« und »erbkranken« Müttern ausgehen sollten, fehlen in der Ausstellung.

Einen Großteil der Ausstellung macht ein ganz in Weiß gehaltener Gedenkraum aus, an dessen Wänden die Namen der Opfer aufgelistet sind. Dazwischen finden sich Leerstellen als Hinweis auf die vielen unbekannten, namenlosen Opfer.

Die Perspektive der Häftlinge soll durch Zitate zum Ausdruck kommen. Jadwiga Kaminska erzählt: »Ungefähr eine Woche nach der ersten Operation kam der KZ-Arzt Rosenthal in betrunkenem Zustand in unser Zimmer. Wir fragten ihn, warum wir operiert waren, und er antwortete: ›Weil ihr junge Mädchen seid und polnische Patrioten.‹« Wanda Poltawska schildert den Tod von Kazimiera Kurowska: »Das blaue, fast schwarze, enorm angeschwollene Bein verhieß eindeutig den Tod. Das starke, junge Herz aber wollte nicht aufhören zu schlagen. Einige Tage hindurch kämpfte sie umsonst um ihr Leben. Auch sie starb.«

Eine direkte Auseinandersetzung mit der Behandlung von Menschen in den Wissenschaften, wie seinerzeit zwischen Hermann Reich und Alexander Mitscherlich, hätte sich schon deshalb angeboten, weil die ausgestellten, in Formalin konservierten Säuglinge, die in einem Stockwerk über der Sonderaustellung unter der Rubrik »Monströsitäten und Missgeburten« gezeigt werden, der Publikummagnet des Museums sind.

Im Geleitwort zum Ausstellungskatalog rechnet Gerhard Baader die verbrecherischen medizinischen Versuche der Nationalsozialisten ebenso zum Projekt der Moderne wie den Holocaust. Es sei sehr wichtig, schreibt er, dass eine Ausstellung in Anbetracht der aktuellen Forschungen der Reproduktionsmedizin, der Gentechnologie und der Populationsgenetik an diese Verbrechen erinnere.

Die Ausstellung »Gewissenlos – gewissenhaft. Menschenversuche im Konzentrationslager« ist bis zum 27. Juli im Berliner Medizinhistorischen Museum in der Charité zu sehen. Öffnungszeiten: täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr, mittwochs bis 19 Uhr.

www.jungle-world.com
Jungle World (Nummer 27 vom 25.06.2003)

kt / hagalil.com / 2003-06-25

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