Jüdisches Leben in Polen:
Liebe ist es nicht - aber Glaube und Hoffnung
Warschau - Vor 60 Jahren wurde im Warschauer Getto von den
Nazis der Aufstand junger Juden brutal niedergeschlagen. Am Ende wurden die
letzten hunderttausend jüdischen Männer, Frauen und Kinder in die Gaskammern
deportiert. Heute keimt wieder jüdisches Leben aus den Ruinen...
Remigius Bütler
Seit drei Jahren amtiert der New Yorker Michael Schudrich als Rabbiner von
Warschau und Lodz im Land seiner Vorfahren. "Dass ein Amerikaner für das
seelische Heil zuständig ist, ist nicht gut", sagt er offen. Allerdings, so der
47-Jährige, sei es immer noch besser, einen amerikanischen Rabbi zu haben als
gar keinen. Einheimischer theologischer Nachwuchs war lange nicht in Sicht -
eine Spätfolge von Holocaust und Kommunismus. Nun ruhen die Hoffnungen auf zwei
jungen Polen, die sich an einer Jeschiwa in den USA ausbilden lassen.
Die orthodoxe Gemeinschaft, die stark auf Spenden vor allem aus Nordamerika
angewiesen ist, bietet ihren 380 Mitgliedern wieder eine funktionierende
Infrastruktur: Gebete, Kurse, Beschneidungen, Begräbnisse, Suppenküchen. Grund
zur Euphorie besteht jedoch nicht. Denn so stark wie vor dem Zweiten Weltkrieg,
als ein Drittel der Warschauer mosaischen Glaubens waren, wird das Judentum nie
mehr. Schudrich schätzt die Zahl seiner polnischen Glaubensbrüder und
-schwestern auf 20 000 bis 30 000; einst waren es 3,5 Millionen.
Immerhin: In Warschau gibt es wieder einen jüdischen Kindergarten und eine
Schule, ein Gymnasium ist geplant. Das Jüdische Staatstheater- die einzige
Bühne, die Stücke in Jiddisch aufführt - stößt auf reges Interesse, vor allem
bei jüdischem Publikum aus dem Ausland: "Meine Vorstellungen sind ständig
ausverkauft", sagt der 80-jährige Direktor Szymon Szurmiej.
Wenige Meter entfernt betreibt der 51-jährige Adam Szyc seit einem Jahr ein
koscheres Lebensmittelgeschäft. Jüdische Touristen aus Israel und den USA,
Einwanderer aus GUS-Staaten sowie 15 bis 20 orthodoxe Familien und polnische
Nachbarn, die sich für koscheres Essen interessieren, kaufen bei ihm ein. "Sie
verbinden koscher mit 5000 Jahren jüdischer Geschichte."
Im Stadtteil Ochota liegt das Versammlungslokal des liberalen Kulturvereins Beit
Warszawa. Hier belegt Sebastian Krajewski, ein 28-jähriger Musiker, seit einigen
Monaten Jiddisch-Kurse. "Es ist die Sprache meiner Urgroßeltern. Ich versuche,
diese reiche Tradition neu zu schaffen", begründet er seine Motivation. "Es gibt
so viele Bücher, Poesie in Jiddisch. Eines Tages möchte ich sie im Original
lesen können." Beit Warszawa haben amerikanische Geschäftsleute vor zwei Jahren
gegründet. Hier kommen jüngere, akademisch gebildete Jüdinnen und Juden
zusammen, die sich als "fortschrittlich" bezeichnen. Die meisten leben nicht
nach strengen orthodoxen Vorschriften und feiern dennoch religiöse Feste. Sie
freue sich jedes Mal über neue Gesichter, sagt Geschäftsführerin Agnieszka
Kargol: "Ich sehe enorme Perspektiven für das Judentum."
Drei Dutzend Männer und Frauen bilden den aktiven Kern von Beit Warszawa.
Präsident ist Jan Weinsberg, der seine Heimat 1968 verließ und einige Jahre im
belgischen Exil verbrachte. Auch er glaubt an eine Renaissance der jüdischen
Kultur. Mit seinen 51 Jahren sei er einer der Ältesten, meint Weinsberg
lächelnd. "Wir sind sehr glücklich über die vielen jungen Leute, weil sie die
Gemeinde vergrößern und Kinder haben werden, die hoffentlich einmal unsere
Mitglieder werden. Wir blicken in die Zukunft, das ist bereits ein Erfolg."
Nicht alle im Beit Warszawa teilen Weinsbergs Zuversicht. Malgorzata Szymanska,
eine 24-jährige Ökonomiestudentin, bleibt skeptisch. Persönlich sehe sie
Perspektiven - mit polnischem Namen und Aussehen. Zudem lebe sie ihr Judentum
nicht offen, was die Situation erleichtere. "Wer allerdings religiöser ist als
ich, hat kaum Möglichkeiten - außer das Land zu verlassen und dorthin zu gehen,
wo es starke etablierte jüdische Gemeinden gibt."
Obwohl Drohungen offiziell kein Thema sind, verzichtet Beit Warszawa nicht auf
einen Sicherheitsdienst. Diese Aufgabe übernimmt der 31-jährige Jonathan
Britmann. "Kennen Sie ein Land, in dem man die Juden liebt - außer Israel?",
fragt der Student der Militärpsychologie, der in der israelischen Armee gedient
hat. Ja, er habe Angst vor Antisemitismus. Ob er in seiner Geburtsstadt Warschau
bleibt, ist nicht sicher. Vielleicht kehrt er nach Israel zurück.
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Stuttgarter Nachrichten vom 16.05.2003
kt /
hagalil.com
/ 2003-05-21
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