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Judentum und Israel
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Verfassungsschutz:
Falsch gerechnet

Der Verfassungsschutz meldet einen Anstieg antisemitischer Straftaten - dabei hat er viele noch gar nicht berücksichtigt...

Andreas Spannbauer

Es war der Tag des Dorffestes in Potzlow, Uckermark, und die Folter dauerte mehrere Stunden. Es waren die letzten drei Stunden im Leben des sechzehnjährigen Förderschülers Marinus Schöberl. Immer wieder verlangten die Peiniger von ihrem Opfer: "Sag, daß Du ein Jude bist." Sie urinierten auf den Kopf des Jungen aus dem nahegelegenen Örtchen Gerswalde. Sie flößten ihm Bier und Schnaps ein, nannten ihn "Judenschwein", zwangen ihn, Erbrochenes zu essen. Gegen vier Uhr morgens schließlich zerrten sie ihn aus der Wohnung, die bis zu diesem Zeitpunkt die Kulisse für die bestialischen Mißhandlungen gewesen war.
Sie verschleppten den lernschwachen - und daher in ihren Augen "minderwertigen" - Marinus in den Stall einer stillgelegten landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft für Schweinemast. Dort schlugen die siebzehnjährigen Marcel Sch. und Sebastian F. und der dreiundzwanzigjährige Marcel Sch. immer wieder mit einem Stein gegen den Kopf ihres wehrlosen Opfers. Abwechseld droschen sie auch seinen Kopf gegen den Betonboden, bis zum Tod. Dann vergruben sie den leblosen Körper in einer Jauchegrube. Es war der 12. Juli 2002. Erst Monate später fanden die Ermittler die skelettierte Leiche.
Der Mord an dem siebzehnjährigen Marinus Schöberl im brandenburgischen Potzlow ist der widerwärtige Höhepunkt antisemitisch motivierter Gewalt in Deutschland im Jahr 2002. Oder auch nicht. Denn im jetzt veröffentlichten Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz für das vergangene Jahr taucht die perverse Blutorgie von Potzlow nicht auf, obwohl die Polizei bei den Tätern später auch Hakenkreuzfahnen fand. Im Gegenteil. "Im Jahr 2002 gab es kein vollendetes rechtsextremistisches Tötungsdelikt", vermeldete die Behörde von Innenminister Otto Schily (SPD) in der vergangenen Woche stolz, aber unzutreffend.
Die Bedeutung der antisemitischen Motive für den Mord betont dagegen der Leitende Oberstaatsanwalt im Potzlower Mordfall, Gerd Schnittcher. Die Täter, polizeibekannte Rechtsradikale, hätten Marinus Schöberl "als Juden beschimpft, um vor sich selbst eine Rechtfertigung zu haben und ihn umbringen zu können", sagt Schnittcher. Ähnlich sieht das auch Wolfram Hülsemann, Mitarbeiter des Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit: Die Bezeichnung als Jude habe "in der rechten Szene eine klare Bedeutung, nämlich: Du hast kein Recht zu leben." Wer in Deutschland "Jude" gerufen wird, muß wieder um Leib und Leben fürchten.
Einmal mehr ist der Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz Anlaß für eine erschütternde Bilanz. Die Gewalt gegen Juden hat, allen Programmen gegen Rechts zum Trotz, zugenommen. Der Verfassungsschutz zählt allein im vergangenen Jahr achtundzwanzig antisemitisch motivierte Gewalttaten, zehn mehr als im Vorjahr. 2002 gab es mehr rechtsextreme Körperverletzungen, mehr Brandstiftungen, mehr gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft- und Straßenverkehr; auch die Zahl der Landfriedensbruchdelikte ist um ein Drittel gestiegen.
Dabei befinden sich einige der Taten längst an der Grenze zum Terrorismus, auch wenn das Bundesamt für Verfassungsschutz bisher nicht von rechtsterroristischen Strukturen sprechen will. Zweifel an dieser Einschätzung ruft beispielsweise die Verwendung von Sprengstoff bei einem Anschlag auf den jüdischen Friedhof in Berlin-Charlottenburg hervor. Dort warfen Unbekannte am 16. März vergangenen Jahres eine mit Sprengstoff gefüllte Stahlflasche auf den Eingang des Friedhofs. Die Explosion zerstörte die Fensterscheiben des Andachtsraumes; Menschen wurden nicht verletzt.
Aber auch die Propagandadelikte sind im Vergleich zum Vorjahr mehr geworden. In Boizenburg und Raben-Steinfeld (Mecklenburg-Vorpommern) schändeten unbekannte Antisemiten die lokalen jüdischen Friedhöfe. Am Tatort hinterließen sie abgetrennte Schweinsköpfe; eingeritzt war der Davidstern. Vermutlich die selben Täter verwüsteten die KZ-Gedenkstätte Wöbbelin, ebenfalls Mecklenburg-Vorpommern, mit Hakenkreuzschmierereien.
Neben diesen konspirativen und von wenigen durchgeführten Straftaten gibt es jedoch noch eine weitere, besorgniserregende Entwicklung. Auch sie taucht im Verfassungsschutzbericht nicht auf. Denn neu ist vor allem die Freizügigkeit, mit der antisemitische Ansichten inzwischen vertreten werden. Aus den Hinterzimmern sind die Ressentiments längst auf die Straße expandiert; Antisemiten verschaffen sich inzwischen nicht nur nachts und verschämt, sondern unverschämt und am helllichten Tag Gehör.
Bei der Rückbenennung der Berliner Kinkelstraße in Jüdenstraße erreichte ein antisemitischer Mob sogar den Abbruch eines öffentlichen Festaktes im Bezirk Spandau. Mit Rufen wie "Juden raus!" erzwangen rund vierzig Schreihälse im November 2002 dort das vorzeitige Ende einer Rede des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Alexander Brenner. Die ehemalige Jüdenstraße war 1938 von den Nazis in Kinkelstraße umbenannt worden.
Allein die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Spandau brauchte siebzehn Jahre, um die NS-Entscheidung rückgängig zu machen. Als es schließlich so weit war, kam es zu einem Ausbruch antisemitischer Ressentiments. Der Fraktionsvorsitzende der FDP im Spandauer Bezirksparlament, Karl-Heinz Bannasch, der die Rückbenennung maßgeblich vorangebracht hatte, beschrieb die Krakeeler der Parolen ("Ihr Juden seid an allem schuld") hinterher folgendermaßen: "Das waren nicht die kahlköpfigen Leute, von denen wir sonst solche Beschimpfungen gewohnt sind. Das waren Leute, die der bürgerlichen Mittelschicht zuzuordnen sind."
Zu oft sehen die Strafverfolgungsbehörden bei solchen Vorfällen weg. Auch dafür ist der Vorfall in der Berliner Jüdenstraße ein gutes Beispiel. Die Initiatoren der Rückbenennung warfen der Polizei vor, angesichts volksverhetzender Rufe nichts unternommen zu haben. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Brenner, habe einen Polizeioberkommissar aufgefordert, die Personalien eines Zwischenrufers aufzunehmen. Der Beamte unternahm - nichts. Später erklärte die Polizeibehörde dieses Verhalten mit dem Straßenlärm. Die Volksverhetzer aber dürften diese Passivität als Aufforderung zum Weitermachen verstanden haben.
Kein Zweifel: Einen Grund zur Entwarnung gibt es nicht. Schuld daran ist auch, vielleicht mehr als vieles andere, der Tabubruch von Jürgen Möllemann im Bundestagswahlkampf 2002. Mit seiner Kampagne gegen den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, ist erstmals das Ressentiment gegen Juden von Seiten einer demokratischen Partei zum Wahlkampfthema gemacht worden. Die langanhaltende Unentschlossenheit des FDP-Vorstandes im Umgang mit Möllemann und seiner Kampagne gegen Friedman und den israelischen Regierungschef Ariel Scharon hat das ihrige dazu beigetragen, einen als israelkritisch verbrämten Antisemitismus wieder gesellschaftlich akzeptiert erscheinen zu lassen.
Die extreme Rechte nimmt diese Entwicklung begeistert zur Kenntnis. Unter der Überschrift "Israel-Lobby: Der Konsens bröckelt. Ablehnung gegenüber der anmaßenden Machtausübung des Zentralrats der Juden wächst" veröffentlichte der NPD-Parteivorstand eine Erklärung zum Konflikt zwischen Friedman und Möllemann. Die "Erosion des Konsens" - gemeint ist die Ächtung antisemitischer Ressentiments - sei "nicht mehr aufzuhalten", triumphierte die NPD darin.
In der Bundeshauptstadt Berlin jedenfalls macht sich diese Diagnose längst schmerzhaft bemerkbar. Gleich zweimal wurden in den vergangenen beiden Wochen orthodoxe Juden auf offener Straße angegriffen. Eine Gruppe Jugendlicher verfolgte einen neunzehnjährigen Amerikaner, der an seiner Kippa als Jude zu erkennen war, aus der U-Bahn (vgl. dazu auch Bericht Seite 15). Die Jugendlichen, nach Angaben des Opfers arabischer Herkunft, warfen mit Weintrauben und schlugen dem Amerikaner dann mit der Faust ins Gesicht. Nur wenige Tage zuvor war ein sechsundfünfzigjähriger Mann in einem Bus der Linie 148 getreten und als "Drecksjude" beschimpft worden, weil er einen Davidstern um den Hals trug.
Der Nahostkonflikt sorgt in diesem Zusammenhang zunehmend für eine groteske Melange von rechtsradikalen und islamistischen Antisemiten. Zuletzt führte der drohende Irak-Krieg auf einer Veranstaltung in der Technischen Universität Berlin im Oktober sogar mutmaßliche Mitglieder der inzwischen verbotenen Islamistenorganisation Hizb ut-Tahrir al-Islami und die Ausländerfeinde Horst Mahler und Udo Voigt, Parteivorsitzender der NPD, zusammen. Geeint werden sie vom Haß auf Israel, gegen das Hizb ut-Tahrir al-Islami offen zur Gewalt aufgerufen hat.
Dennoch läßt sich eine gewalttätige Alltagskultur nicht allein durch Verbote rechtsextremer und islamistischer Parteien und Gruppierungen aus der Welt schaffen. Ein verantwortliches Verhalten der politischen Eliten und ein konsequentes Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden, unabhängig vom Straßenlärm, könnte dazu beitragen, sie einzudämmen. So lange aber ehemalige Minister in der Öffentlichkeit den Mossad für ihren bevorstehenden Parteiausschluß verantwortlich machen können, bleibt der Anstieg der antisemitischen Gewalt kaum verwunderlich.
Letztlich aber ist nicht die Übermacht der Täter, sondern das Schweigen der Übrigen die Bedrohung. Der Tod von Marinus Schöberl jedenfalls hätte verhindert werden können. Gleich drei erwachsene Zeugen hatten stundenlang mit dem gequälten Opfer und den späteren Mördern zusammengesessen. Sie verfolgten die grausamen Mißhandlungen, ohne sich an ihnen zu beteiligen. Geholfen aber haben sie dem siebzehnjährigen Jungen nicht.

www.juedische-allgemeine.de
Jüdische Allgemeine vom 21.Mai 2003

kt / hagalil.com / 2003-05-22

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