Studie:
Demokratieschwund im Kiez
Rechtes Friedrichshain, multikulturelles Kreuzberg? Eine
Kommunalstudie attestiert dem Fusionsbezirk rassistische Alltagskultur und
zunehmenden Antisemitismus. Eine Bestandsaufnahme...
Adrienne Woltersdorf
Nie hatte sich Gökhan K. vorgestellt, dass eine Diskussion so folgenreich sein
könnte. Der studierte Theologe und Geschäftsführer eines türkischen Gemüseladens
am Kottbusser Tor hatte in den beiden Moscheen des Kiezes heftig mit seinen
Nachbarn um religiöse Fragen gestritten. Seitdem wartet Gökhan K. auf die
ehemalige Kundschaft. Sein Disput für liberalere Ansichten im Islam ließ die
ehemaligen Kunden, mehrheitlich orthodoxe Muslime, auf Geheiß des Imams zum
Konkurrenzladen abwandern.
Alltag im Kreuzberger Multikulti-Kiez. Die deutschen Nachbarn bekommen von
diesen Repressionen innerhalb der türkischen Gemeinde kaum etwas mit.
"Antidemokratische Tendenzen und Diskriminierung nehmen im Alltag des
Fusionsbezirkes zu", attestierte denn auch gestern eine druckfrische
Kommunalstudie dem Fusionsbezirk.
"Demokratiegefährdende Phänomene und Möglichkeiten der Intervention" betitelte
das elfköpfige Autorenteam des Zentrums demokratischer Kultur (ZDK) und anderer
Institutionen seine 203 Seiten starke Studie im Auftrag des Bezirksamtes. Fazit:
Rassistische und rechtsextreme Tendenzen nehmen zu. Besonders überrascht waren
die leitenden Autoren Claudia Danschke und Dierk Bostel über die alltägliche
Diskriminierung Dunkelhäutiger und einen zunehmenden Antisemitismus.
Untersucht wurden antidemokratische Gruppierungen und Tendenzen jenseits der
Klischees vom Rechtsextremismus in Friedrichshain und der Toleranz in Kreuzberg.
"Wir haben festgestellt, dass quer durch alle sozialen und kulturellen Schichten
und unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit eine Art antisemitisches Milieu
herrscht, aus dem heraus ein Aktionismus möglich ist", sagte Danschke bei der
gestrigen Präsentation der Studie. Die Vorfälle der letzten Wochen gegen
erkennbar jüdisch aussehende Menschen habe diese Erkenntnis bereits bestätigt.
Der Studie zufolge gehört auch Rassismus insbesondere gegenüber dunkelhäutigen
Menschen im gesamten Bezirk zum Alltag. "Das äußert sich in Pöbeleien oder
darin, dass sie in Restaurants nicht bedient werden", sagte Bostel, der ein Jahr
lang überwiegend Jugendliche in Friedrichshain interviewte und beobachtete. Von
den rund 98.000 Friedrichshainern sind nur und 700 dunkelhäutig, in Kreuzberg
sind es von 147.000 Einwohnern knapp 2.300.
Es sei keine Ausbreitung der rechtsextremen Szene in Friedrichshain zu
beobachten gewesen, sagte Bostel. Zwar organisiere sich dort eine bundesweite
Gruppe "Kameradschaft Tor", lokal trete sie allerdings kaum in Erscheinung.
Gegenwärtig gebe es etwa fünf bis sechs Jugendcliquen mit rechtsextremer
Gesinnung. Gewalttätigkeit sei in beiden Bezirksteilen kein vordergründiges
Problem.
Vor allem Jugendliche seien stark emotionalisiert und ideologisiert, resümierte
Danschke. Diese Entwicklung werde von der Gesellschaft aber nicht
problematisiert. Dabei handele es sich nicht um eine neue Entwicklung. Vielmehr
sei der latente Antisemitismus durch die aktuelle Entwicklung im Nahen Osten
befördert worden.
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TAZ vom 22.05.2003
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/ 2003-05-22
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