II.
Fremdenfeindlichkeit
Sozialwissenschaftliche Erklärungen
Welche Schublade bietet sich an, um die Einheimischen einzuordnen, die
den Fremden als Feind im eigenen Spielrevier ansehen? Xenophobiker,
Fremdenfeinde, Neofaschisten, Rassisten, Rechtsradikale oder
Rechtsextremisten? Der Kategorien gibt es viele (vgl. auch Heitmeyer
1989, Birsl 1994, Frindte 1995b) und ich verzichte an dieser Stelle auf
ihre Diskussion. Kategorien sind nützlich, wenn sie Wirklichkeit
handhabbarer machen.
Bornewasser (1994) moniert, daß es den
"Fremden" in der Sozialpsychologie kaum gebe, geschweige - so füge ich
hinzu - den "Rechtsextremen".
"Fremdheit ist", so Bornewasser
(ebd., S. 94), "kein genuin sozialpsychologisches Thema,
genausowenig wie Wir-Gefühl, Heimatverbundenheit, nationale
Identität, Vaterland oder Nationalstolz. Gerade die affektiven
Komponenten der Einbindung von Personen in soziale Systeme und der
Konfrontation mit Fremden, die dem System nicht angehören, sind
empirisch niemals systematisch untersucht worden".
In den gegenwärtigen
sozialwissenschaftlichen und politischen Diskursen über
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Deutschland erkenne ich
vor allem folgende, sich scheinbar ausschließende Argumentationsfiguren:
A. Die Modernisierungs-These:
Die Entstehung und die verschiedenen Verlaufsformen gegenwärtiger
fremdenfeindlicher und rechtsextremer Orientierungen und Handlungsweisen
seien eng mit den widersprüchlichen Modernisierungsprozessen in den
hochentwickelten Industrieländern verknüpft. Fremdenfeindlichkeit und
Rechtsextremismus müßten als internationale Phänomene verstanden und
erforscht werden. Vor allem die Bielefelder Arbeitsgruppe um Wilhelm
Heitmeyer greift in ihren theoretischen und empirischen Arbeiten auf die
Modernisierungs-These zurück, um die rechtsextreme Gewaltbereitschaft
junger Leute zu erklären. Heitmeyer und Mitarbeiter (vgl. Heitmeyer u.a.
1992) konstatieren mit U. Beck (1986) einen potentiellen
Individualisierungsschub, dem vor allem Jugendliche in den modernen
Risikogesellschaften ausgesetzt sein können. Die Modernisierungsrisiken
und Individualisierungsschübe gingen einher mit der soziokulturellen
Differenzierung und Enttraditionalisierung von Lebensformen und
Lebenswerten. Sie seien zum einen mit dem Zuwachs an
Individualisierungschancen verbunden, könnten zum anderen aber auch zu
verstärkten Verunsicherungen im Umgang mit sozialen Werten und
Identitätskrisen führen. Im Kontext potentieller Identitätskrisen sei
der individuelle Rückgriff auf rechtsextreme Politikangebote eine
mögliche Form, um durch fremdenfeindliche Orientierungen und Handlungen
mit individuellen Bedrohungen und Stresserlebnissen umzugehen.
"Insgesamt ist anzunehmen", schreiben
Heitmeyer u.a. (1992, S. 32), "daß Jugendliche, die den ‘Übergang’
zu einer autonomie-orientierten Identität nicht schaffen, weil sie
nicht in ausreichendem Maße Ressourcen und Bezugspunkte der
Identitätsbildung zur Verfügung haben, eher rechtsextremistischen
Konzepten zustimmen könnten, weil diese plausible Erklärungen für
die eigenen Handlungsprobleme liefern...".
Trotz der zahlreichen quantitativen und
qualitativen Studien, die die Bielefelder Arbeitsgruppe mittlerweile
über diesen Zusammenhang und die politische Sozialisation junger
Menschen vorgelegt hat (z.B. Heitmeyer 1989, Heitmeyer u.a. 1992), ist
dieser Ansatz nicht unwidersprochen geblieben. Vor allem die von
Heitmeyer anfangs explizit formulierte Annahme, ein geringes
Selbstwertgefühl in Verbindung mit schlechten schulischen bzw.
beruflichen Positionen usw. würden eine Übernahme rechtsextremer und
fremdenfeindlicher Orientierungsmuster befördern (vgl. z.B. Heitmeyer
1987), wurde verschiedentlich kritisiert (vgl. z.B. Bommes u. Scherr
1992, S. 216). Tatsächlich läßt sich eine solche Implikation weder für
westdeutsche noch für ostdeutsche Verhältnisse aufrechterhalten. Anett
Schreiber (1994, S. 96) fand z.B. in einer Längsschnittuntersuchung in
Sachsen, daß fremdenfeindliche Orientierungen vor allem von jungen
Leuten geäußert werden, die geringere Depressionswerte, weniger Angst,
ein höheres Selbstwertgefühl und mehr soziale Unterstützung erleben als
diejenigen, die positivere Einstellungen zu Fremden und Ausländern
besitzen.
B. Die Neo-Konservatismus-These:
Die Entstehung und die verschiedenen Verlaufsformen gegenwärtiger
fremdenfeindlicher und rechtsextremer und u.U. antisemitischer
Orientierungen und Handlungsweisen in Deutschland seien Folgen und
Nachwirkungen national-konservativer Auffassungen und
deutsch-nationalistischer Geschichtslegenden, auf die sich nach wie vor
ein relativ großer Teil der deutschen Bevölkerung beziehe und die
spätestens seit dem Historikerstreit im Jahre 1986 auch
wissenschaftliche Legitimationen fänden.
Scheinbar gegen die Modernisierungs-These
richtet sich das Argument mancher Sozialwissenschaftler, ein
tiefsitzender und kulturell gefärbter Nationalismus und Konservatismus
in breiten deutschen Bevölkerungskreisen dulde und fördere
fremdenfeindliche und rechtsextreme Orientierungen und Aktionen (vgl.
z.B. Leggewie 1993, Rommelspacher 1992b, 1994). Aus unterschiedlichen
Gründen und mit unterschiedlicher Beschaffenheit seien nach 1945 in Ost-
und Westdeutschland politische und ideologische Bedingungen geschaffen
worden, unter denen zum einen ein deutsch-nationalistischer
Konservatismus ständig neu reproduziert werde und durch die zum anderen
eine Bearbeitung der deutschen Schuld und Betroffenheit gegenüber der
deutschen Vergangenheit nicht stattfinden könne.
Maaz (1993) meint in diesem Sinne
z.B., in Ost- wie in Westdeutschland sei nach 1945 "die psychische
Bewältigung der nationalsozialistischen Pathologie unmöglich
geworden, die wirklichen Ursachen konnten verdrängt und die
persönlich/personale Betroffenheit vermieden werden. Statt dessen
beherrschten ideologische, propagandistische, bekennerhafte
Haltungen und Überzeugungen sowie ökonomische Erfolgsbilanzen die
Szene der ‘Vergangenheitsbewältigung’" (1993, S. 27).
So scheint es für die Vertreter der
Neo-Konservatismus-These nicht verwunderlich, wenn 50 Jahre nach dem
Ende des 2. Weltkrieges deutsche Enkel schöngefärbte Erlebnisse ihrer
Großeltern über die Zeit des Nationalsozialismus aufgreifen und zum
Inhalt ihrer eigenen gegenwärtigen Welt- und Lebensanschauungen zu
machen versuchen. Flankiert werden derartige retrospektive
Identifikationsversuche durch wissenschaftliche Argumentationsfiguren,
in denen die Greuel und die Einzigartigkeit des Holocaust geleugnet oder
relativiert werden.
Eine sozialwissenschaftliche Variante der
Neo-Konservatismus-These scheint mir die sog. Dominanzkultur-These
zu sein, deren Vertreter an Heitmeyers Modernisierungsthese vor allem
die scheinbare Kurzschlüssigkeit zwischen Individualisierung (oder
sozialen Desintegration) und rechtsextremen Biographien kritisieren
(vgl. z.B. Rommelspacher 1992a,b, 1993, Kersten 1993). Rechtsextremismus
müsse als Ausdruck des allgegenwärtigen Regulativs von Über- und
Unterordnung gesehen werden (vgl. auch den Überblick von Kliche 1993).
Minderheitenfeindlichkeit und Faschismus entstünden in der "Mitte" der
Gesellschaft und nicht am "Rand" bei benachteiligten
Modernisierungsverlierern.
Einige Vertreter der
Neo-Konservatismus-These verweisen mehr oder weniger explizit auf den
Funktionalwert der mündlich oder schriftlich überlieferten,
deutsch-nationalistischen Geschichtslegenden über die Zeit des
National-sozialismus für die aktuellen fremdenfeindlichen und
rechtsextremen Strömungen in Deutschland. Damit wollen sie auch deren
nationale Spezifik und Problematik hervorheben.
C. Die Stereotypisierungs-These als
genuin sozialpsychologischer Zugang:
Im Interesse ihrer eigenen sozialen Identität seien Menschen generell
bestrebt, ihre jeweils eigenen sozialen Bezugsgruppen aufzuwerten und
Fremdgruppen negativ zu stereotypisieren, was u.U. zur Diskriminierung
und Ausgrenzung dieser Fremdgruppen führen kann.
Drei sozialpsychologische
Forschungstraditionen werden im Kontext dieser These als besonders
relevant angesehen (vgl. Bornewasser 1994, Zick 1993): Die erste und
älteste Tradition ist mit dem Begriffstripel "Ethnozentrismus,
Vorurteil, Stereotyp" und den Namen Sumner, Allport, LeVine und Campbell
verbunden.
"Innerhalb dieser Tradition wird
davon ausgegangen, daß Einheimische andere Einheimische anders sehen
und anders behandeln als Fremde. Im ethnozentristischen Sinne wird
die eigene Gruppe oder Ethnie der anderen Gruppe oder Ethnie
übergeordnet und der Einheimische dem Fremden gegenüber als
überlegen und höherwertig wahrgenommen...Diese Relation schlägt auf
allen Ebenen des Umgangs durch" (Bornewasser 1994, S. 94).
Eine zweite Forschungstradition stammt
aus den gruppendynamischen Forschungen und ist vor allem an die Namen
Lewin, Cartwright und Sherif geknüpft. Feindseligkeiten zwischen
Angehörigen und Fremden entstehen aus dieser Sichtweise vor allem dann,
wenn die Angehörigen einer Gruppe ihre Ziele durch die Handlungen der
fremden Gruppen bedroht sehen.
Die dritte sozialpsychologische
Forschungstradition wird durch die Theorie der sozialen Identität von
Tajfel und Turner repräsentiert (vgl. Tajfel 1982, Turner et al. 1987).
Vorurteile, Diskriminierungen und gewalttätige Feindseligkeiten werden
dann wahrscheinlicher, wenn das individuelle Bedürfnis nach positiver
sozialer Identität nicht mehr oder nur mühsam durch einen sozialen
Vergleich gesichert werden kann, in dessen Ergebnis die eigene
Bezugsgruppe oder -gemeinschaft im Vergleich mit relevanten Fremdgruppen
als überlegen wahrgenommen wird.
D. Die Autoritarismus-These:
Persönliche Verunsicherungen in der Kindheit und im Jugendalter seien
die Ursache für die Herausbildung einer Persönlichkeitsstruktur, zu
deren Merkmalen vor allem autoritäre Unterordnung, autoritäre Aggression
und Konventionalismus gehören (vgl. Altemeyer 1981, 1988, 1996) und die
sich in fremdenfeindlichen und antisemitischen Einstellungen ausdrücken
können (Adorno, Frenkel-Brunswick, Levinson und Standford 1950).
In seiner Arbeit "The Forthieth
Anniversary of 'The Authoritarian Personality" verweist Jos Meloen
(1991) auf die nachhaltige Resonanz dieses Konzepts. Mittlerweile liegen
weit über 2000 wissenschaftliche Arbeiten zum Autoritarismus vor, wobei
die wissenschaftlichen Reaktionen nach wie vor ambivalent sind. In
Deutschland beschränkte sich die Auseinandersetzung mit den Studien zum
autoritären Charakter lange Zeit auf den gesellschaftskritischen Ansatz
von Adorno, Frenkel-Brunswick u.a. und auf die methodischen
Unzulänglichkeiten der sog. F-Skala und Antisemitismusskala, mit der die
Autoren Neigungen zu faschistischen und antisemitischen Einstellungen
messen wollten (vgl. Roghmann 1966). Inhaltliche Auseinandersetzungen
mit dem Konzept des Autoritarismus wurden stark vernachlässigt.
Bekanntlich umfaßt die autoritäre
Charakterstruktur laut Adorno et al. (1950) die folgenden neun
Konstrukte: Konventionalismus, Autoritäre Unterwürfigkeit, Autoritäre
Aggression, Anti-Intrazeption, Aberglaube und Stereotypie, Macht und
"Robustheit", Destruktivität und Zynismus, Projektivität und Sexualität.
Zur Operationalisierung ihres mit den neun Dimensionen beschriebenen
"Syndroms" konstruierten die Autoren der Theorie der autoritären
Persönlichkeit (TAP) die sog. F-Skala, deren Bezeichnung auf den
ursprünglichen Titel der Untersuchung hinweist: the Fascist Character
(Samelson 1993, S. 35).
Die empirischen Replikationsversuche der
TAP sind mittlerweile - ebenso wie die kritischen Auseinandersetzungen
(vgl. z.B. Altemeyer 1988, Duckitt 1989, Oesterreich 1974, 1996) - kaum
noch zu überschauen. Vor allem Gerda Lederer hat sich in den letzten
drei Jahrzehnten darum bemüht, durch kulturvergleichende Studien (in den
USA, in Deutschland, Österreich, der ehemaligen Sowjetunion)
interkulturelle Unterschiede autoritärer Einstellungen zu erforschen
(Lederer & Schmidt 1995). 1989 führten McFarland, Ageyev und Abalakina
(1993) eine Studie zum Autoritarismus (gemessen mit einer russischen
Übersetzung der Right-Wing-Authoritarianism-RWA-Skala von Altemeyer,
1988) in Rußland durch (N=346 russischsprechende Einwohner Moskaus und
Talinns). Neben der eigentlichen Zielstellung, "linken Autoritarismus"
zu untersuchen, erfaßten die Autoren auch Vorurteile über verschiedene
Outgroups (u.a. Kapitalisten, Juden, Journalisten, Frauen, Jugendlichen)
und fanden signifikante Korrelationen zwischen den Vorurteilen und den
Autoritarismuswerten. Oesterreich (1993) berichtet von einer eigenen
Studie an Ost- und Westberliner Gymnasien und Berufsschulen (im Jahre
1991 mit 1396 Jugendliche im Alter von 16 bis 21 Jahren). Erfaßt wurden
u.a. rechtsextreme und fremdenfeindliche Einstellungen und autoritäre
Persönlichkeitsstrukturen:
"Die Ergebnisse der
Vergleichsuntersuchung bestätigen die Annahme, daß zwischen Ost- und
Westberliner Jugendlichen keine Differenzen bezüglich autoritärer
Persönlichkeitsmerkmale vorhanden sind. Varianzanalytisch
aufgeschlüsselt erklärt sich Autoritarismus vor allem durch den
Schultyp, den die Befragten besuchen, ihre Geschlechterzugehörigkeit
und das Bildungsniveau ihrer Väter, überhaupt nicht dagegen durch
einen Wohnort im Osten oder Westen" (Oesterreich 1993, S. 186).
Autoritarismus scheint als
psychologisches Konstrukt zur Erklärung vorurteilsbehafteter
Einstellungen nach wie vor relevant zu sein. Trotz theoretischer
Unklarheiten darüber, was Autoritarismus ist und wie er zustandekommt,
hat sich vor allem die RWA-Skala von Bob Altemeyer (1988) als
Erhebungsinstrumentarium international bewährt.
Das von deutschen Sozialwissenschaftlern
in den Blick genommene Feld des "Umgangs mit Fremden" und der
fremdenfeindlichen, rechtsextremen und u.U. antisemitischen
Einstellungen und Aktionen scheint vielfältig, komplex und äußerst
divers zu sein. Diese Vielfalt und die sich z.T. widersprechenden
Erklärungsansätze kritisierend stellt Thomas Kliche (1994) etwas
resignierend fest:
"Damit stehen wir vor dem ersten
problematischen Zug der Rechtsextremismus-Diskurse, dem
Theorien-jahrmarkt: Nach den diversen Ansätzen können wir
‘Rechtsextremismus’ und ‘Fremdenfeindlichkeit’ wahlweise durch eine
ganze Palette von Ursachen erklären. Alle Befunde sind auf
ernstzunehmende, aber begrifflich wie methodisch kaum kommensurable
Daten aus Klinik, Befragung, Langzeitstudien, Feldforschungen,
teilnehmenden Beobachtungen, qualitativen Medien-Inhaltsanalysen
usf. gestützt. Wir finden recht disparate Motive, Gruppen,
Entwicklungsgänge, Gefühlsvalenzen, Identitäten, Bedürfnisse,
Lebensentwürfe und Sinnwelten zusammengefaßt. Sie wären je
unterschiedlich zu beurteilen und politisch-argumentativ wie
therapeutisch-intervenierend anders anzusprechen. Zusammengenommen
bieten uns die wissenschaftlichen Deutungen ein Repertoire, mit dem
wir jedwede politische Entwicklung erklären können - im Nachhinein:
ob Rechtsextremismus zu - oder abnimmt, ob er von armen Absteigern
oder saturierten Mittelschichten kommt, ob er in Ost- oder
Westdeutschland auftaucht, ob er auf Jugendliche beschränkt ist oder
als Tiefenströmung die Gesellschaft erfaßt, ob er sich gegen
kapitalistische Modernisierung oder veralteten Sozialismus richtet,
ob er sich als Soziale Bewegung bündelt oder auf barbarische
Gewaltakte beschränkt bleibt oder im Wahlverhalten verharrt..."
(1994, S. 8).
Nicht nur aus wissenschaftslogischen,
sondern eben aus inhaltlichen Gründen verbietet sich offensichtlich die
Suche nach einer einheitlichen sozialwissenschaftlichen Globaltheorie,
mit der sich das Phänomen "der" Fremdenfeindlichkeit in ihrer
Komplexität erklären ließe. Gegen ein - sagen wir einmal -
metatheoretisches Raster, das zwar allgemein genug ist, aber nicht den
Anspruch erhebt, eine Globaltheorie zu sein, dürfte hingegen weder aus
wissenschaftstheoretischen noch aus praktisch-politischen Gründen etwas
einzuwenden sein. Ein solches Raster ließe sich nutzen, um zum einen die
vielfältigen Rechtsextremismen und Fremdenfeindlichkeiten zu
differenzieren und zum anderen die vorherrschenden
sozialwissenschaftlichen Theorien auf ihren Erklärungswert im Hinblick
auf die Vielfalt der Phänomene "abzuklopfen". Wie könnte ein solches
Raster aussehen?
Geht man davon aus, daß
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus soziale Konstruktionen sind,
dann wäre es naheliegend, die verschiedene Ebenen, auf denen diese
sozialen Konstruktionen geschaffen werden, mit Hilfe der mehrfach
bewährten "Deute-Blume" zu beschreiben. Die dort vorgeschlagenen Ebenen
ließen sich quasi als metatheoretische Scharniere nutzen, um
verschiedene sozial-wissenschaftliche Theorien mittlerer Reichweite, die
sich dem Phänomen der Fremdenfeindlichkeit zu nähern versuchen,
miteinander zu verknüpfen.
Auf der Ebene der Möglichkeitsräume
lassen sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen ausfindig machen, durch
die fremdenfeindliche Wirklichkeitskonstruktionen u.U. ermöglicht
werden. Auf der nächsten Ebene, der Ebene der Bedeutungsräume
erhalten die Interpretationen von und die Kommunikationen über
Fremdenfeindlichkeit ihre Bedeutung.. Diverse Deutegemeinschaften
liefern auf dieser Ebene die sozialen Strukturen für fremdenfeindliche
Wirklichkeitskonstruktionen. Mit den Interaktionsräumen
hätten wir jene Ebene vor uns, auf der fremdenfeindliche
Konstruktionen in praktischem Handeln umgesetzt und als Gruppengewalt
Realität werden. Hier treffen die gewalttätigen Akteure und u.U. Täter
und Opfer fremdenfeindlicher Gewalt unmittelbar aufeinander. Nicht
selten ist es die Eigendynamik dieses Aufeinandertreffens, durch die die
gewalttätigen Prozesse eskalieren. Auf der individuellen Ebene, den
Sinnräumen, ließe sich fragen, ob wir es tatsächlich mit
individuellen fremdenfeindlichen Wirklichkeitskonstruktionen oder mit
Orientierungen zu tun haben, die erst durch die öffentlichen Diskurse
fremdenfeindliche Stigmatisierungen erfahren und inwiefern sich
individualspezifische Sozialisationsverläufe bei Jugendlichen mit
fremdenfeindlichen, gewaltakzeptierenden und rechtsextremen
Wirklichkeitskonstruktionen ausfindig machen lassen.
Möglichkeitsräume liefern im
gesamtgesellschaftlichen Maßstab Angebote zur sozialen Konstruktion von
Wirklichkeit. Zu denken wäre dabei u.a. an die politisch-ökonomischen
Rahmenbedingungen in Deutschland (z.B. die Folgen der deutsch-deutschen
Vereinigung, die ökonomischen Unterschiede zwischen Ost- und
Westdeutschland, die Massenarbeitslosigkeitsquoten etc.), an
dominierende gesellschaftliche Werte und Normen (z.B. regional
unterschiedliche Traditionen und Konventionen für den Umgang mit
Ausländern), an offizielles und implizites gesellschaftliches Wissen
(z.B. über den Holocaust, über die tatsächlichen Zahlen der
Asylsuchenden etc.), an historische oder moderne Mythen, die in
Deutschland "belebt" oder am "Leben" gehalten werden (z.B. über die
"verlorenen" Kriege, über den "Zustrom" von Ausländern etc.). Auf der
Ebene von Möglichkeitsräumen lassen sich Bedingungen ausfindig machen,
durch die rechtsextreme Orientierungen oder Aktionen überhaupt erst
möglich werden. Die Modernisierungs-these und die
Neo-Konservatismus-These scheinen momentan recht gute Erklärungen
für die gesamtgesellschaftlichen Angebote zur fremdenfeindlichen und
rechtsextremen Konstruktion von Wirklichkeit zu liefern.
Die zweite Ebene, auf der
fremdenfeindliche Orientierungen und Aktionen entstehen können, bilden
die sog. Bedeutungsräume.. Die sozialen Gemeinschaften mit
charakteristischen Bedeutungsräumen, also jene Gemeinschaften, deren
Mitglieder annähernd interindividuell übereinstimmende soziale
Konstruktionen über bestimmte Wirklichkeitsbereiche besitzen, hatte ich
Deutegemeinschaften genannt. Ob z.B. die Rate derjenigen, die in
Deutschland Asyl suchen, als "Zustrom von Ausländern", als
"Asylantenflut" oder "normale Immigrationsbewegung" interpretiert wird,
unterliegt keineswegs beliebigen oder zufälligen Interpreta-
tionsprozessen. Derartige Interpretationen oder soziale Konstruktionen
über die Wirklichkeit werden in besonderen Deutegemeinschaften
geschaffen, verbreitet und von den Mitgliedern dieser Gemeinschaften zur
individuellen Interpretation von Wirklichkeit genutzt. Die Theorie der
sozialen Identität (SIT) von Tajfel liefert m.E. recht brauchbare
Aussagen, um auf dieser Ebene die Funktion und die Bedeutung miteinander
konkurrierender Sozialisationsinstanzen (Familie, Peer-Groups, relevante
Out-Groups, Massenmedien etc.) zu erklären (vgl. auch Turner u.a. 1987,
Simon l993, Betancourt 1993). So läßt sich aus der SIT u.a. die
Hypothese ableiten, daß die Diskriminierung relevanter Fremdgruppen bei
gleichzeitiger Favorisierung der eigenen Bezugsgruppe positive
Auswirkungen auf die soziale Identität derjenigen Person haben müßte,
die diese Diskriminierungs- bzw. Favorisierungsprozesse vollzieht.
Für die dritte Ebene
in dem vorgeschlagenen Ansatz zur sozialen Konstruktion von
Wirklichkeit, für die sog. Interaktionsräume bietet die SIT
allerdings kaum noch sozialpsychologische Erklärungen an. Entsprechend
des spezifischen Gruppenbegriffs in der SIT (vgl. z.B. die Kritik von
Schiffmann & Wicklund l988 und die Anmerkungen von Zick, Wiesmann u.
Wagner 1989) bereitet es z.B. einige Schwierigkeiten, aus der SIT
Aussagen über die (auf mikro-sozialer Ebene angesiedelte) Interaktions-
und Kommunikationsdynamik funktionierender sozialer Gruppen (im
traditionellen sozialpsychologischen Sinne) abzuleiten. D.h.: Ob und wie
sich (u.U. politisch extreme) Orientierungsmuster von Jugendlichen auf
Gruppenebene in gewaltorientierten Aktionen umsetzen, ist schwerlich mit
den Aussagen der SIT zu erklären. Aussagen dieser Art finden sich z.B.
in neueren Versionen der Sherifschen Theorie des realistischen
Gruppenkonflikts (vgl. z.B. Brown & Wade 1987, Hewstone u. Brown 1986).
Auch die mehr praxisorien-tierten Ansätze der Aufsuchenden und
Akzeptierenden Sozialarbeit (vgl. z.B. Hafeneger 1990, Krafeld u.a.
1993, Kube l993) bieten Erklärungen für das Zustandekommen von
Gruppengewalt an. Zufälliger Einstieg in gewaltbesetzte
Gruppensituationen, Eigendynamik der Gewalt zwischen rivalisierenden
Gruppen, ursprünglich nichtpolitisch gemeinte (von externen Beobachtern,
z.B. Medienvertretern aber so definierte) Fremd- und
Eigenetikettierungen, nachträgliche politische Legitimierung des eigenen
gewalttätigen Verhaltens usw. sind einige Quintessenzen aus diesen
Ansätzen (vgl. auch Kliche 1993, S. 6).
Als vierte Ebene
der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit hatte ich die sog.
Sinnräume unterschieden. Die je individuellen Gründe für
fremdenfeindliche Orientierungen, für die Teilnahme an rechtsextremen
Gewalttaten, für den Einstieg in rechtsextreme oder als solche
stigmatisierte Gruppierungen usw. wären hier anzusiedeln. Die
sozialwissenschaftlichen Ansätze, denen es um die Aufklärung
makrosozialer Rahmenbedingungen für Fremdenfeindlichkeit und
Rechtsextremismus geht, greifen mit ihren Erklärungen auf dieser
individuellen Ebene zu kurz. Auch die SIT vermag wiederum nur wenig zur
Erklärung individueller Motive und Handlungsgründe für rechtsextreme
Orientierungen und Verhaltensweisen zu liefern. Ebensowenig finden sich
in den verschiedenen sozialarbeiterischen Konzeptionen, bedingt durch
ihre überwiegend interventionistischen Absichten, (sozial-)
psychologische Zugänge, mit denen die je individuellen Besonderheiten
fremdenfeindlich orientierter und gewaltbereiter Personen erklärt werden
könnten. Vor dem Hintergrund solcher Erklärungsdefizite scheint es
demzufolge nicht verwunderlich, wenn sich Sozialwissenschaftler wieder
alter Traditionen erinnern und der Ansatz der "authoritarian
personality" eine Renaissance erfährt. Grossarth-Maticek (1978) fand in
der Analyse von Träumen, daß rechtsextremistisch orientierte Studenten
extrem an ein Elternteil, in der Regel an die Mutter, gebunden waren und
diese idealisieren. Zudem seien sie "zur strikten Einhaltung
bürgerlicher Werte erzogen und hatten wenig liberale Freiräume" (ebd.,
S. 216). Hopf (1993) untersuchte in Anlehnung an Adorno den Zusammenhang
zwischen Beziehungserfahrungen und rechtsextremistischen Einstellungen
bei Jugendlichen und fand einen Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus
und Autoritarismus, der gekoppelt war mit Dominanz und Aggression.
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