Der Golem geht um
Frankfurter Rundschau vom 21.01.2000
Ein Magazin unterwegs zur jüdisch-europäischen Identität
Von Martina Meister
Golem haben sie ihr Magazin genannt. Vielleicht, weil die meisten
Israelis wenig Verständnis für ihr Unternehmen hätten. Denn "Golem"
ist ein Schimpfwort im Hebräischen. Ein Narr, ein Dummkopf wird so
genannt. Sich auf die Suche nach einer europäisch-jüdischen Identität
zu begeben, sich als Träger eines jüdischen Erbes in Europa zu
begreifen, das mit der Shoah nicht vollständig ausgelöscht wurde, ist
in der Tat ein Ansatz, für den es aus zionistischer Perspektive wenig
Verständnis gibt.
Narren sind die acht Begründer des Golem dennoch nicht. Ursprünglich
bedeutet Golem ohnehin etwas anderes. Schon im Talmud tauchte der
erste auf. Im mittelalterlichen Prag wiederum, so geht die Legende,
hat Rabbi Loew einem Stück Ton Leben eingehaucht und einen Golem
erschaffen, der die Juden beschützen sollte. Aber der Golem begehrte
gegen seinen Schöpfer auf, der ihn zur Strafe wieder in Ton
verwandelte. Golem stand daher eigentlich für Veränderung, für das,
was im Entstehen begriffen ist.
Um einen Prozess geht es auch den Begründern der neuen Zeitschrift.
Bereits vor Jahren hatten sich einige von ihnen in der Gruppe
"Meshulash" zusammengefunden. Sie wollten ein Forum für europäische
Juden schaffen und das Erbe jüdischer Kultur in Berlin wieder
aufnehmen, wo sich dieses Bemühen mehr und mehr in folkloristischen
Unternehmen wie Bagel-Shops und Klezmerkonzerten erschöpft.
Ausstellungen wurden organisiert, Diskussionen, aber ein beständiges
Forum fehlte. Ein Ort des Austausches, der Vergewisserung und Klärung,
an dem sich Juden aus Paris, Budapest und Berlin über gemeinsame
Anliegen verständigen können. Zum Beispiel über das, was in der
ersten Ausgabe des Golem geradezu leitmotivisch in allen Artikeln
auftaucht: eine neue jüdisch-europäische Identität.
Dass der Golem ausgerechnet in Berlin gegründet wurde, ist alles
andere als ein Zufall. Diejenigen, die sich in "Meshulash"
zusammengefunden hatten, waren aus allen Himmelsrichtungen gekommen.
Aus Frankreich, Argentinien, aus den USA und Kanada. Doch für die
meisten war es eine Art Rückkehr. Graciela Kittel beispielsweise, in
Argentinien geboren, in Israel aufgewachsen, besuchte Berlin das erste
Mal mit ihrem Vater. Denn es war seine Heimatstadt. Er kehrte nach
Israel zurück. Sie blieb. Und Gabriel Heimler, in Paris geboren,
brachte beim endgültigen Umzug nach Berlin eine Thorarolle aus dem
14. Jahrhundert mit. Ein Familienerbe aus Lübeck, das der Großvater
bei der Flucht aus Deutschland gerettet hatte.
"Als Kinder hatten wir das Gefühl", erzählt Heimler, "die Deutschen
sind Kannibalen." Doch den Bruch mit der Vergangenheit verstand er
trotzdem nicht. Ihn faszinierten die deutschen Bücher des Großvaters.
Mit zwölf begann er, Deutsch zu lernen. Schon zu DDR-Zeiten pendelte
er zwischen Paris und dem ehemaligen Scheunenviertel. Als er sich
endgültig in Berlin niederließ, war es eine Überzeugungstat: weil
Hitler sonst doch noch "gewinnen würde".
"Es gibt keinen besseren Platz als Berlin als Ausgangspunkt einer
Erneuerung einer offenen jüdischen Kreativität innerhalb eines
offenen Europas", schreibt die Historikerin Diana Pinto in ihrem
"Plädoyer für ein europäisch-jüdisches Magazin". Formuliert hatte sie
es, bevor es Golem gab. Dort abgedruckt wirkt es wie die
Gründungsurkunde der Zeitschrift. Gesucht wird im Golem vor allem
nach einer Alternative zwischen vollständiger Assimilation und
Rückzug in die Orthodoxie. Die Bestimmungsversuche einer neuen
jüdischen Identität bleiben zwangsläufig widersprüchlich in den
unterschiedlichen Artikeln. Aber gerade dafür bietet Golem Raum: für
Auseinandersetzung. Shoshana Ronen beispielsweise, eine in Polen
lebende Israelin, kritisiert in einem polemischen Artikel den Rückzug
polnischer Juden in die Orthodoxie. Man sei dabei, so ihre These, den
alten polnischen Makel des Jüdischseins in eine Auszeichnung zu
verwandeln und entferne sich damit wieder von der "Normalität".
Konstanty Gebert antwortet auf die Polemik Ronens und analysiert ihre
Einschätzung wiederum als Übertragung des israelischen Grabenkampfes
zwischen Orthodoxen und Säkularen in Israel. Er selbst, aufgewachsen
in einer assimilierten, nichtpraktizierenden Familie in Polen, erklärt
seine biografisch späte Wende zur Orthodoxie als natürliche Reaktion:
"An der Tradition, die sich nie in den Familien ausgedrückt hat, muss
man sich zuerst reiben, ganz wie an einer noch nicht ganz angepassten
Kleidung." Es wird diese Reibungswärme zwischen unterschiedlichen
Positionen sein, die dem Tonklumpen Leben einhaucht. Von ihr wird
abhängen, ob aus dem Papier des Magazins bald ein echter Golem wird.
Golem. Europäisch-jüdisches Magazin. Erste Ausgabe Dez. 1999.
Erscheint vierteljährig. Zu beziehen über Meshulash Berlin,
Wielandstraße 37, 10629 Berlin, oder golem@hagalil.com für 12 Mark
pro Ausgabe. Im Internet unter der Adresse: www.hagalil.com/golem
Schlagworte: Medien / Printmedien/Literatur, Literarisches, Judentum /
Juden / Jüdinnen, Kultur / Kunst, Berlin, Geschichte, Internet
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