Von Hein Gothe
Junge Welt, 04.08.2003
Oberfähnrich a.D. Siegfried Roick leitet die Streckelberger
Musikanten – sechs ehemalige Berufssoldaten des Musikkorps der 1.
Flottille der Volksmarine in Peenemünde. Sie spielen in ihren
Marineuniformen gegen Oberst a. D. Klaus Hein an, den ehemaligen Chef
des Stabes beim Jagdfliegergeschwader Peenemünde. Hein liest zivil in
ein Mikrophon pazifistische Gedichte. Die Streckelberger Musikanten,
eigentlich eine gutbezahlte Swing-Band, spielen Armeemärsche. Hein
spricht von Schwänen.
Im Bistro des Kraftwerkes der ehemaligen Heeresversuchsanstalt sitzen
hundert Menschen an weißgedeckten Tischen. Die Overtüre von "Der
Gralsucher" funktioniert. Der alte Oberst, der gerne Georg Trakel wäre,
der hohe Raum mit Rohren und Ventilen, das Militärgeblase –
Szenenbeifall.
In Peenemünde ist nach den mittlerweile
rituellen Auseinandersetzungen die Ausstellung des Hamburger
Instituts für Sozialforschung "Verbrechen der Wehrmacht" zu sehen. Hier
wurden die deutschen Terrorwaffen "V1" und "V2" gebaut. Seit die NVA
ihren Luftwaffenstützpunkt räumte, wird der Ort gerne als "Wiege der
Raketentechnik" verkauft. Es waren ehemalige NVA- Soldaten, die den
Förderverein "Peenemünde - Geburtsort der Raumfahrt e.V." gründeten und
ein provisorisches Informationszentrum im alten Kraftwerk installierten.
Von Mai bis Dezember 1991 kamen 60000 Besucher, seitdem schmeißt die
Gemeinde den Laden.
Der Verein "Theater Provinz Kosmos e.V." ist für die Bespielung
außergewöhnlicher Orte gegründet worden. Im Begleitprogramm der
Wehrmachtsaustellung, zu dem ein Gottesdienst zum "Erinnern an den
Bombenangriff vor 60 Jahren" gehört, versucht Stefan Noltes Inszenierung
Peenemünde zu finden.
Der Gralsuchermythos wird gerne genommen, geht es um Unklarheiten.
Major "MiG" Mittendurch ist der Antiheld, ein Opfer Peenemündes. Er
wurde unehrenhaft aus der NVA entlassen, von Pfarrer Eppelmann. In
seiner alten Dienstwohnung verbringt er die Tage mit Erinnerungen und
Artefakten aus der Heeresversuchsanstalt. Er hat seine Uniform, allein
mit der Demütigung wiegt er sich in Träume. Er will Ritter werden, eine
Mama erscheint und sagt Parzival zu ihm.
Der zu entdeckende Mythos heißt Deutschland. Die Kausalkette scheint
logisch geschlossen: Parzival, Heeresversuchsanstalt, Museum,
Urlauberversorgungsparadies Usedom – zwischen den Daten die Vergessenen.
Peenemünde und der Nachbarort Karlshagen werden bis heute hauptsächlich
von NVA-Strafrentnern bewohnt. Am Strand um die Ecke sieden Sachsen und
Ostberliner ihr Fett in der Sonne. Plötzlich die Ausstellung zur
Wehrmacht und die ständig wachsende Sagenwelt der deutschen
Waffenschmiede, Wernher von Braun, deutsche Ingenieurskunst, kein Flug
zum Mond ohne die Wunderwaffe usw. Trotzdem bleibt "Parzival" nur ein
Einfall, der einem Ringen um konkreten Text ausweicht.
Der Abend funktioniert wegen gut geplanter Montagen, ein Mädchenchor
aus Swinoujscie füllt die enorme Höhe des Raumes zu den Lichtwechseln,
Tondokumente zum ersten Start einer "V2" erklären, wo man ist, und
unterm Dach Schwalben und Fledermäuse. Der Ritterlehrling MiG
Mittendurch/Parzival wacht in regelmäßigen Abständen in seinem Bett auf,
um Post von der Gerichtsvollzieherin zu bekommen.
Und die ist echt. Stephanie Steinmetz ist Gerichtsvollzieherin beim
Amtsgericht Wolgast. Ihr Auftritt gibt der Geschichte Momente
erbarmungsloser Wahrhaftigkeit. Man hat auf sie gewartet. Eine
kontrolliert unterkühlte Schauspielerin vermutet man auf der Bühne, die
Major Mittendurch exmittiert, und ist nach der Vorstellung erstaunt über
die professionelle Darstellerin. "Am besten, Sie melden sich beim
Wohnungsamt." Ihr Auftritt provoziert den ersten NVA-Satz: "Wollen wir
etwas trinken?" Die Gerichtsvollzieherin ist Mitglied bei "Bunt statt
Braun". Zwei Tage nach der Premiere organisiert sie die Gegendemo zum
obligatorischen Neonaziaufmarsch gegen die Ausstellung. Aber in
Peenemünde und Umgebung läßt sich Widerstand schwer organisieren.
Parzival wird zum Ritter und ein deutscher Mann. Den Wald spielen die
Jagdhornbläser Insel Usedom e.V. Sie waren sechsmal in Folge
Landesmeister Mecklenburg- Vorpommern. Bei der Bundesmeisterschaft
gewannen sie dreimal die Hornfesselspange in Gold.
Der deutsche Wald und seine Hörner sind schön. Die Inszenierung
bebildert einige Opernmomente. Ein Bett, von dem keiner weiß, was es in
der Kraftwerkshalle soll, wird von den Dramaturgen von der Bühne
getragen. Das ist Berufsehre, entscheidende Fragen wollen beantwortet
sein.
Parzival findet Zukunft, der Major hat auf dem Gelände der
Heeresversuchsanstalt einen Lebensmittelpunkt gefunden. Er hält
Lichtbildervorträge über die Schönheit der Natur. Brandgänse rasten auf
einem Raketenhangar und stinken. Der Schluß stellt die deutsche
Normalität wieder her.
Auf italienisch heißt "la pena" die Pein, "!il pene", der penis, "le
pene", die Qualen. Auch Peenemünde hat Zukunft.
Dokumentation bei haGalil onLine: