Zur Problematik der Israel-Kritik:
Juden und Normalität
Von Michael Brenner
Erschienen in: Süddeutsche Zeitung,
14.08.2003
"Jews are like everyone else, just
a bit more so", soll einmal George Bernard Shaw zum Thema Juden und
Normalität gesagt haben. In diesen Tagen, in denen sich das
Gesellschaftsspiel "Wer ist Antisemit?" wieder großer Beliebtheit
erfreut, erhält auch dieses Bonmot eine neue Aktualität. Es scheint
einmal mehr, als ob das, was man früher einmal als "Die Judenfrage"
bezeichnete, für einen großen Teil der Menschheit von existentieller
Bedeutung ist.
Dabei sind die Antisemiten auch nicht
mehr das, was sie einmal waren. In jenen seligen Zeiten, in denen
Auschwitz noch sein Dasein als unschuldige österreichische
Schnapsbrennerstadt fristete und Dachau vor allem als Künstlerkolonie
bekannt war, konnte man sich und anderen ungeniert eingestehen, dass man
die Juden halt nicht mag. Hat man heute einen vermeintlichen Antisemiten
lokalisiert, weist er den Vorwurf jedoch mit Empörung von sich: egal, ob
er Haider oder Möllemann, Walser oder nun eben Honderich heißt.
Wie kommt man aber überhaupt immer
wieder auf solche bösen Vorwürfe? Kann man denn im Wahlkampf keine
Flugblätter mit dem Konterfei eines Repräsentanten des Zentralrats der
Juden drucken? Verdient denn die Kritik an den in den Augen der meisten
europäischen Intellektuellen durchgeknallten Regierungen in Washington
und Jerusalem wirklich den gefürchteten Antisemitismusvorwurf? Es gibt
keine objektiven Kriterien, die für Jeden gültig bestimmen, wo der Spaß
aufhört und der Antisemitismus beginnt.
Vielmehr geht es bei diesem nicht
direkt greifbaren Antisemitismus um etwas anderes, was mittlerweile auch
schon lange Traditionen hat: dem Entwachsen alles Jüdischen zum nurmehr
Symbolhaften. So wie die Juden nach der Schoa zu Symbolen der Opfer
schlechthin geworden sind, so ist Israel zum Symbol des rassistischen
Staates und Terrorregimes geworden. Niemand möchte Antisemit sein, aber
gleichzeitig sehen angesehene Denker immer weniger Probleme darin, die
jüdischen Bürger Israels kollektiv zu verdammen und den Terror ihnen
gegenüber zu rechtfertigen.
Durch eine besondere Brille
Natürlich müssen weder Honderich noch
ein anderer Philosoph die israelische Politik mögen. Irritieren aber
muss die nahezu ausschließliche und damit symbolhafte Verurteilung
Israels, die fast schon zum Gemeingut geworden ist. Hat jemals ein
deutscher Politiker im Wahlkampf Flugblätter verteilt, die
Repräsentanten der islamischen Religion verunglimpfen, weil diese
Verbindung zu Staaten haben, in denen Menschen ausgepeitscht oder ihnen
die Hände abgehackt werden? Haben europäische Philosophen die Attentate
der IRA oder der ETA gutgeheißen, weil Großbritannien und Spanien
Besatzungsmächte sind?
Wir leben leider in keiner perfekten
Welt – und Israel ist gewiss kein perfekter Staat. Auch kann das Unrecht
in anderen Ländern nicht von dem Unrecht ablenken, das in Israel
geschieht. Wer aber, wie Ted Honderich und zunehmend viele
Intellektuelle in letzter Zeit Israel (neben den Vereinigten Staaten)
ausschließlich und damit auch symbolhaft für andere verurteilt, der
macht es auch jenen schwer, die in und außerhalb Israels ernsthaft und
konstruktiv Kritik an der Regierungspolitik äußern wollen. Ob wir so
jemanden dann einen Antisemiten nennen oder nicht, ist belanglos. Aber
eines müsste ein halbwegs denkender Mensch heute eigentlich verstanden
haben: es gibt in der westlichen Welt eine lange und unrühmliche
Tradition, in der eben die Juden und nicht die Briten oder die Spanier
oder die Russen den Sündenbock schlechthin verkörperten. Es wäre zu
wünschen, wenn ein deutscher oder englischer Philosoph einmal seine
Hemdsärmel aufrollen und diese absurde Tatsache beim Namen nennen würde,
anstatt sein Bedauern darüber auszudrücken, dass seine jüdischen Freunde
sich vielleicht verletzt fühlen.
Vor gut hundert Jahren sind die
Zionisten angetreten, um die Situation der Juden als einer staatenlosen
Nation zu "normalisieren". Heute, über ein halbes Jahrhundert nach der
Schoa und der Gründung eines Staates für die Juden sind wir mindestens
so weit von einer "Normalisierung" entfernt wie damals. Die Juden bilden
nicht einmal 0,1 Prozent der europäischen Bevölkerung, und das gleiche
gilt im Verhältnis zur Weltbevölkerung für den Staat Israel. In den
Medien, in der Öffentlichkeit von den Regierungsbänken bis zu den
Stammtischen sind Juden und Israelis aber mehr präsent als Inder oder
Chinesen. Was nützt angesichts einer solchen Diskrepanz zwischen
Realität und Wahrnehmung die immer wiederkehrende Frage, wann endlich
werde sich ein normales Verhältnis zwischen Deutschen und Juden,
zwischen Christen und Juden entwickeln?
Es ist im übrigen eine alte Frage, die
periodisch wiederkehrt. Seit dem 19. Jahrhundert, als Juden in die
Gesellschaft ihrer Umgebung integriert werden konnten, haben sie immer
wieder darum gekämpft, "normal" zu werden. Ich spreche nicht von jenen,
die dies als Flucht aus dem Judentum verstanden und sich taufen ließen
oder ihr Judentum verleugneten, sondern von denen, die als Juden
"Normalität" erreichen wollten.
Die einen gründeten Vereine zur
Verbreitung des Ackerbaus und des Handwerks unter den Juden, um die
schiefe Berufsstruktur auszugleichen, andere versuchten die jüdische
Religion der christlichen anzupassen, indem sie aus traditionellen
Synagogen Tempel mit Orgelmusik machten und sich Israeliten oder
Bekenner des mosaischen Glaubens nannten, wiederum andere wollten ein
"Muskeljudentum" schaffen, indem sie jüdische Turn- und Sportvereine ins
Leben riefen, und schließlich gehört auch der Gedanke, einen eigenen
Staat zu gründen, wie ihn jedes "normale" Volk besaß, zu diesen
Normalitätsbestrebungen. In diesem Judenstaat müsse alles so normal
zugehen, dass man sich daran freute, wenn es dort auch jüdische
Prostituierte und Verbrecher gebe, wie es sich eben einer normalen
Gesellschaft ziemt.
Der Drang zur Normalität ist aber, wir
alle wissen es, in der Regel zum Scheitern verurteilt, da es keine
Normalität per Verordnung oder Vier-Jahres-Plan geben kann. Um es kurz
zu fassen: all die Versuche, eine fiktive Normalität zu finden, sind
grandios gescheitert: die Juden wurden keine Bauern und Handwerker, weil
im Zeitalter der Industrialisierung – als sie dies erstmals werden
konnten – sogar die meisten Bauern keine Bauern und die meisten
Handwerker keine Handwerker mehr sein wollten. Die Juden blieben
überproportional im Handel und Gewerbe – ihren angestammten Berufen –
und wurden dort relativ erfolgreich, weil dies die aufstrebenden
Berufsgruppen des 19. Jahrhunderts waren.
Die deutschen Staatsbürger jüdischen
Glaubens, die in ihren Tempeln zur Orgelmusik beteten, wurden deswegen
nicht mehr als Deutsche akzeptiert und endeten genau so wie ihre
traditionellen osteuropäischen Glaubensbrüder in Auschwitz oder im Exil.
Der Staat Israel wurde alles andere als ein normaler Staat. Judentum als
ganz normales Thema in der Schule, der Universität oder dem Stammtisch?
Wir möchten dies gewiss genau so gerne sehen, wie so mancher im 19.
Jahrhundert die Juden zu Bauern machen wollte oder einen ganz normalen
jüdischen Staat wie Schweden oder Portugal errichten wollte.
Aber machen wir uns nichts vor:
solange die öffentliche Wahrnehmung von solch emotionalen Themen wie
Holocaust und Israel, vermischt mit lange nachwirkenden religiösen
Stereotypen, aber auch tiefgründigen Versuchen der Annäherung bestimmt
ist, solange die Eröffnung jeder jüdischen Schule mehr Journalisten als
Schüler anzieht, die Einweihungsparty eines jüdischen Museums zum
Treffpunkt der gesamten Regierung und jede neue wissenschaftliche
Einrichtung für Jüdische Studien ein Politikum ist, wird der gesamte
Themenbereich kein "normales Thema" in der öffentlichen Diskussion
werden können.
Ob wir es wollen oder nicht, Israel
und die Juden werden heute nicht weniger als früher durch eine besondere
Brille gesehen. Diese Brille muss nicht dunkle Gläser, sie kann auch
helle Gläser haben, aber sie ist doch meistens vorhanden. Und es wird
wohl noch eine Weile dauern, bis man sagen kann: "Israel is like every
other state, just a bit more so."
Der Autor lehrt Jüdische Geschichte
und Kultur an der Universität München.
hagalil.com
14-08-03 |