Pasquale Squitieri:
Eigene Vorstellungen von Antisemitismus
Gibt es in Italien einen "geläuterten" Neofaschismus? Der
Regisseur und Senatsabgeordnete für Alleanza Nazionale, Pasquale
Squitieri, überrascht mit überkommenen Vorstellungen von Antisemitismus
Von Matthias
Fischer
Die
Überraschung war nicht klein als der italienische Vizepremier und
Vorsitzende der aus der ehemaligen neofaschistischen Partei, dem
"Movimento Sociale Italiano", hervorgegangenen Rechtspartei "Alleanza
Nazionale" sich im vergangenen Jahr als Parteipolitiker Israel gegenüber
für die Untaten des Faschismus entschuldigte. Hoffnung keimte auf, es
könne zu einer formellen Entschuldigung der Italienischen Republik
kommen.
Doch auch
in Italien fußt die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit
wohl eher auf einem psychologischen Verdrängungsmechanismus denn auf
wahrer Auseinandersetzung. Selbstverständlich, würde man annehmen.
Italien, das jeden 25. April an seinem Nationalfeiertag die Befreiung
von Faschismus und nationalsozialistischer Fremdherrschaft auch und vor
allem als eine Selbstbefreiung inszeniert, war seit 1943 mit den
Alliierten verbündet. Jedenfalls einige wichtige Bestandteile der
italienischen Gesellschaft – das monarchische, das republikanische und
das kommunistische Italien.
In der Tat waren
maßgebliche Teile der italienischen Gesellschaft und Italiens, anders
als etwa in Österreich, mit eigenen regulären und Partisanenverbänden an
der Befreiung Italiens von den deutschen Besatzungstruppen beteiligt.
Historisch wahr ist auch, dass italienische Verbände weder an
Racheaktionen in Russland oder Griechenland als Antwort auf
Partisanenangriffe, noch an Razzien gegen Minderheiten beteiligt waren.
Was den Grad seiner moralischen Degeneration anbelangt, kann das
faschistische Italien mit dem nationalsozialistischen Deutschland in
keiner Weise verglichen werden. Anders als etwa die russische und
teilweise auch die englische oder deutsche unterscheidet die
italienische Sprache und Historiografie daher sehr genau zwischen
"Faschismus" und "Nazismus".
Doch Italien ist
nicht Frankreich, und schon gar nicht Polen. Auch vor 1943 war das vom
Großrat des Faschismus regierte Königreich Italien Kriegs- und
Besatzungsmacht an der Seite Deutschlands – es hatte den Krieg in
Albanien begonnen, und es focht an Deutschlands und Rumäniens Seite auf
dem Balkan und in Sowjetrussland.
1919 wurde Italien
gemäß dem geheimem Londoner Zusatzprotokoll von 1915 mit dem
mehrheitlich slowenisch und kroatisch besiedelten Istrien sowie der
dalmatinischen Stadt Zara (Zadar) für seinen Kriegseintritt an der Seite
der Entente belohnt, 1921 sorgten die siegreichen "Legionen" Gabriele
D’Annunzios für die Annexion der Freistadt Fiume (Rijeka) an Italien. Es
folgte eine Welle der faschistische Repression und Zwangsitalianisierung
der slowenischen und kroatischen Staatsbürger in den 20er und 30er
Jahren, darunter das Verbot, ihre eigene Muttersprache zu benützen.
Gerne wird in Italien
vergessen, dass bis kurz vor der Kapitulation des Deutschen Reichs im
Mai 1945 Oberitalien – "Padanien", wie der rassistische
Lega-Nord-Minister Umberto Bossi heute sagen würde – als Republik von
Salò und unter der Leitung Benito Mussolinis einen Vasallenstaat
Nazideutschlands verkörperte, etwa nach dem Muster des Antonescuschen
Rumänien. Triest und dessen Hinterland im ethnisch gemischten
Grenzgebiet zum heutigen Slowenien waren mit dem Frontwechsel des
monarchisch gebliebenen Rumpfitalien unter Badoglio im Jahr 1943 als
"Operationsgebiet Adriatisches Küstenland" aus dem italienischen
Staatsgebiet ausgegliedert worden; es beherbergte das einzige auf
italienischem Boden errichtete Vernichtungslager, die "Risiera von San
Sabba". Das von der Repression der faschistischen Herrschaft vergiftete
Verhältnis zwischen italienischstämmiger und slawischer Bevölkerung im
nordöstlichen Grenzgebiet Italiens war im Mai 1945 von Racheaktionen
titinischer Partisanen gekennzeichnet. Latent bleibt es bis heute eine
gespannte Beziehung.
Jene Vergangenheit
scheint zumindest die an der italienischen Regierung befindlichen
Rechtsparteien nun wieder einzuholen. Dies befürchtet jedenfalls der
römische Oberrabbiner Di Segni spätestens seit dem 8. Juli dieses
Jahres.
Was die
rechtspopulistische Bewegung "Lega Nord" des padanischen Demagogen
Umberto Bossi anbelangt, so wird man darob kaum überrascht sein.
Entstanden war die "Lega Nord" als Los-von-Rom-Bewegung, die in den
frühen 90er Jahren mit offenem Rassismus gegen den süditalienischen
Bevölkerungsanteil – im Norden des Landes oftmals pauschal als
unkultivierte und mafiöse "terroni" verspottet – die Stadtparlamente
eroberte. Seit sie im Jahre 1994 erstmals zusammen mit der
Berlusconi-Bewegung "Forza Italia" und Gianfranco Finis zentralistisch
und präsidenzial denkender "Alleanza Nazionale" die italienische
Zentralregierung stellte, die nicht zuletzt im "Mezzogiorno", dem Süden
des Landes stark verwurzelt ist, zähmte die "Lega Nord" ihre
separatistische, gegen Süditalien und die Süditaliener gerichtete
Rhetorik und beschränkt sich nunmehr allein auf fremdenfeindliche
Demagogie. Beispielsweise wartet ein Lega-Nord-Politiker, wie vor
einigen Wochen geschehen, mit dem Vorschlag auf, vor der italienischen
Küste auftauchende Flüchtlingsschiffe – keine Seltenheit bei der Länge
der italienischen Küste und ihrer relativ großen Nähe zu den Küsten
Albaniens und Tunesiens – mit Geschützsalven der Küstenwacht zu
versenken. – Aber Antisemitismus, noch dazu aus den Reihen der "Alleanza
Nazionale"?
Deren Leader
Gianfranco Fini hatte zwar 1994 noch Schlimmes befürchten lassen, als er
davon sprach, dass es mit dem Faschismus ähnlich sei "wie mit Omas altem
Mobiliar: Das Schlechte entsorgt man, das Gute behält man." Doch als er
sich vor einigen Monaten Israel gegenüber für die Untaten des Faschismus
entschuldigte, durfte man zumindest davon ausgehen, dass auch für
"Alleanza Nazionale" und ihre Mitglieder, Wähler und Sympathisanten der
Antisemitismus zum schlechteren Teil des italienischen Familienerbes
gehörte.
Antisemitismus ist
nichts, mit dem der durchschnittliche Italiener oder die
durchschnittliche Italienerin sich auseinandersetzen würden. Auch an den
italienischen Schulen ist Antisemitismus kein Thema. Antisemitismus ist
etwas, mit dem Italien und seine Bevölkerung nichts zu tun haben, noch
nie zu tun hatten. – Wirklich?
Der 1994 für
"Alleanza Nazionale" in den Senat gewählte Regisseur Pasquale Squitieri
scheint uns inzwischen eines Besseren belehren zu wollen. In einer
Debatte über das Verhältnis zwischen der italienischen Rechten und dem
Judentum, an dem am vergangenen 8. Juni [?] unter anderem der römische
Oberrabbiner, Riccardo Di Segni, und der Vorsitzende der Jüdischen
Kultusgemeinde in Rom, Leone Paserman, teilnahmen, stellte Squitieri
klar: "Hat überhaupt jemand die Rassengesetze aus dem Jahr 1938 wirklich
durchgelesen? Wenn ein Jude die italienische Staatsbürgerschaft besaß,
war er im Grunde keiner Verfolgung ausgesetzt. Diese beständigen
Angriffe gegen Mussolini und unser Land kann ich nicht mehr ertragen..."
Die in Italien an der
Regierung befindliche Auf-nach-Rechts-Bewegung ist gewiss an einer
Entspannung ihres Verhältnisses zum Judentum interessiert. Schließlich
soll Mitte-Rechts – oder sollte man sagen: "Rechts"? – in Italien und
Europa etwas "Normales" werden. Zu einer solchen Normalisierung der
Beziehungen wollte eigentlich auch ein kürzlich erschienenes Buch des
Autors Gianni Scipione Rossi (Hrsg. Edizioni Rubettino) beitragen, das
sich mit der Beziehung zwischen der italienischem Rechten und dem
Judentum seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzt. Das Buch
hatte unterschiedliche Kritiken erhalten. So waren die Rezensenten Anna
Foa und Ernesto Galli della Loggia im Rahmen einer Buchbesprechung, die
nur wenige Tage vor dem von Squitieri hervorgerufenen Eklat
stattgefunden hatte, mit der Aufforderung an die postfaschistische
Kultur herantreten, nun endgültig mit der antisemitischen Vergangenheit
Italiens abzurechnen, während der Kritiker Marcello Veneziani hingegen
unterstrichen hatte, dass es im Wesentlichen keine Verbindungen der
italienischen Rechten zum Rassismus gegeben hatte; die Rassenpolitik des
Duce hatte er als ein Täuschungsmanöver – "finzione" – gegenüber den
Deutschen bezeichnet.
Und gegen die im Judentum recht hoch angesehene
Historikerin Anna Foa hob Squitieri nun an: "Über den sowjetischen
Antisemitismus haben sie hingegen nichts zu berichten? Ich bin in die
Gulags gegangen, um die Zeugnisse der Verfolgten aufzunehmen. Heute
jedoch spricht davon keiner. Man zieht es vor, Mussolini und die
Italiener zu attackieren. Auch Hannah Arendt sagte, dass wir ein Volk
von spontaner Menschlichkeit sind. Und unter den Faschisten befanden
sich zahlreiche Juden. Wie auch zahlreiche Juden mit der Polizei der
Nazis in den Vernichtungslagern zusammenarbeiteten. Und [der
italienische Nationaldichter, Anm. d. Autors] Dante war nicht gerade der
Urvater der Antisemiten..."
Oberrabbiner Di Segni
und der jüdische Gemeindevorsitzende Paserman wussten offensichtlich
nicht gleich, ob sie nun glauben sollten, was ihre Ohren gerade
vernommen hatten. Das Publikum im Saal war erstarrt. Nach kurzer Zeit
brach, wie die italienische Tageszeitung "La Repubblica" berichtete,
eine "Dame in orange" aus der fünften Reihe mit dem Ruf "Beschämend!"
das Schweigen. Der Name der Frau: Mirella Calò. Mit fünf war sie
gezwungen gewesen, sich tagelang in einem Kellerversteck zu verbergen.
"La Repubblica" berichtet weiter: "Die anfängliche Betroffenheit macht
allmählich einem Stimmengewirr Platz. Einige Stimmen übertönen diesen
akustischen Hintergrund. Leone Paserman erhebt sich: "Ich bin entsetzt!
Im Jahr 2003 hätte man gehofft, solche Worte nicht zu vernehmen.
Veneziani hat bislang versucht, die verbreiteten antisemitischen
Regungen herunterspielen, welche in der Rechten vorhanden sind.
Squitieri aber hat ihn mit seiner Rede widerlegt. Seine Lesart der
Rassengesetze ist erstaunlich. 1938 beschloss Mussolini, die Juden aus
den Schulen, den Universitäten, den öffentlichen Ämtern, den Akademien
zu jagen – was ist dies, wenn nicht Verfolgung?" Der aufkommende Applaus
bestärkt ihn in seinen Worten: "Diese Gesetze wurden von den Italienern
nicht mit Gleichgültigkeit aufgenommen, wie behauptet wurde, sondern
vielmehr mit einer Art der Genugtuung. Und zahlreiche Akademiker
beeilten sich, die von ihren jüdischen Kollegen frei gemachten
Lehrstühle zu besetzen. Mich überkommt ein Grausen, wenn ich von Juden
sprechen höre, die mit den Nazis zusammenarbeiteten. Hier kommt die
Figur des Lagerführers wieder zum Vorschein, der erst vor kurzem auf
schmerzliche Weise die politische Chronik bestimmte. Wir sprechen doch
hier von Menschen, die in ein "untermenschliches" Dasein gezwungen
worden waren, und die um ihr Überleben kämpften.""
La Repubblica weiter:
"Der Saal heizt sich auf, Squitieri schleicht sich von dannen. Als Di
Segni das Wort ergreift, hat der Regisseur den Saal bereits verlassen:
"Was als Täuschungsmanöver bezeichnet wurde, war für uns eine Tragödie.
Faschisten der Republik von Salò trieben die Juden aus ihren Häusern,
meine kleineren Geschwister, die damals vier und sechs Jahre alt waren,
wurden von den Schergen verhaftet. Nun bittet man um Aussöhnung, aber
die Schwierigkeit besteht darin, dass nicht ganz klar ist: Handelt es
sich dabei um eine radikale Abkehr von antisemitischen Neigungen oder
nur um politischen Opportunismus? Eine Aussöhnung bedarf der
Glaubwürdigkeit. Doch das, was wir in dieser Diskussion gehört haben,
bringt uns weit in die Vergangenheit zurück.""
hagalil.com
23-07-03 |