Auch die Opfer des Distomo-Massakers müssen entschädigt werden:
Gegen die Logik des Alles oder nichts
Von Christian Semler
Journalistische Provokationen sind nützlich, vor
allem, wenn sie stereotype Haltungen und eingeschliffene Reaktionen
bloßstellen. Der Historiker und Publizist Götz Aly wollte offenbar
derart provozieren, als er am Montag in der Berliner Zeitung ein Urteil
des Bundesgerichtshofs (BGH) verteidigte. Der BGH hatte die
Schadenersatzansprüche zweier griechischer Kläger abgelehnt, deren
Eltern Opfer des Distomo-Massakers wurden. Aly wollte insbesondere einem
von ihm gemutmaßten Sturmlauf der Linken gegen das Urteil
entgegentreten. Aber seine Provokation läuft ins Leere. Er verkennt den
politischen Einsatz, um den es bei der Behandlung des Distomo-Massakers
geht. Und er lässt praktische Lösungsmöglichkeiten zugunsten der Opfer
und ihrer Nachkommen außer Betracht.
Götz Aly ruft die deutsche Staatsräson auf, um zu
zeigen, dass die Anerkennung von Schadenersatzforderungen der
Distomo-Kläger zu einer endlosen Kette weiterer ziviler Forderungen
führen würde. Die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen
Reichs sähe sich dann mit einer Prozessflut konfrontiert, die, falls
erfolgreich, eine unerträgliche, über Generationen sich auswirkende
Schuldenlast zur Folge hätte. Aber auch andere Regierungen, darunter
auch die griechische selbst, müssten, wenn man Zivilklagen gegen fremde
Staaten für völkerrechtlich erlaubt hält, für frühere Kriegsverbrechen
finanziell einstehen. Damit wäre das Gegenteil von Gerechtigkeit und
Rechtsfrieden erreicht.
Alys Argumentation folgt dem bekannten Schema von
"Alles oder nichts". Überträgt man seine Logik auf die Verhandlungen zur
Entschädigung der Zwangsarbeiter, so hätte es niemals die Einigung auf
die 10-Milliarden-Bundesstiftung geben dürfen. Realistisch gerechnet
hätten sie mit 180 Milliarden Mark für entgangene Löhne entschädigt
werden müssen, was seinerzeit der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski
ausgerechnet hat.
Nur: In den Entschädigungsverfahren stellte sich bis
auf wenige Ausnahmen heraus, dass trotz gravierender Ungerechtigkeiten
die Kläger bereit waren, ihre Klage zurückzuziehen und damit die
Stiftung auf den Weg zu bringen. Nicht umsonst ist das Modell der
Bundesstiftung auch in Griechenland in aller Munde.
Der praktische Lösungsweg für den Fall Distomo müsste
so aussehen: die Zwangsanleihe, die das Deutsche Reich 1941 Griechenland
abgepresst hat und nie zurückgezahlt wurde, jetzt zu begleichen und in
einen Fonds zu überführen. Dieser Fonds sollte dann den Opfern der
deutschen Verbrechen in Griechenland sowie deren Nachkommen zugute
kommen.
Der Errichtung dieses Fonds stünde nicht die Zahlung
von 115 Millionen Mark seitens der Bundesrepublik in den 60er-Jahren im
Wege, denn dieser Fonds beinhaltete, anders als von Aly suggeriert,
keine Wiedergutmachung des Unrechts, das den Griechen von der deutschen
Besatzung zugefügt wurde. Auch dem Bedenken, ein solcher Fonds würde
eine Kettenreaktion weiterer Fonds nach sich ziehen, ist durch diese
Lösung Rechnung getragen. Lediglich Griechenland wurde zu einer solchen
Zwangsanleihe genötigt.
Es war der Bundesgerichtshof selbst, der in seinem
Urteil ausführte, der Fall Distomo "müsse mit den beschränkten Mitteln
des Rechts gelöst werden". Andere Wege "seien dem Richter versperrt".
Diesen Wink mit dem Zaunpfahl hat Götz Aly geflissentlich übersehen. Es
wäre seine Aufgabe gewesen, die Möglichkeiten zu prüfen, die jenseits
des jetzt abgeschlossenen Rechtsstreits liegen. Zur Staatsräson gehört
es eben nicht nur, die Bundesrepublik vor finanziellem Schaden zu
bewahren, sondern auch, sich darüber hinaus um das politische Ansehen
Deutschlands zu sorgen, selbst wenn diese Sorge "nur" einem Staat wie
Griechenland gelten muss, dessen politische und ökonomische Machtmittel
begrenzt sind.
Götz Aly wendet sich gegen einen geschichtsfernen
Antifaschismus, der "namentlich in der einstigen DDR" das Urteil des BGH
als Skandal anprangere. Mag sein, dass es solche Stimmen gibt. Aufseiten
der griechischen wie der deutschen Linken, die sich um eine Lösung des
Jahrzehnte währenden Distomo-Skandals mühen, wird ein anderer, ein
konstruktiver Ton angeschlagen. Ihn hat Aly bei seiner Urteils-Laudatio
ignoriert.
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03-07-03 |