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In der Arena:
Zurück bei Sabine Christiansen

Missverstandene Pietät wäre das falsche Signal: Denn Jürgen W. Möllemanns Antisemitismus war kein bürgerliches Kavaliersdelikt

Von Micha Brumlik
Frankfurter Rundschau, 14.06.2003

Gewissermaßen kurz vor Abpfiff des Spiels - nach etwas mehr als fünfzig Minuten - fiel das Wort zum ersten und einzigen Mal: "Antisemitismus". Sabine Christiansen hatte sich in ihrer wöchentlichen Talkrunde Löbliches vorgenommen, nämlich den Suchtcharakter politischer Macht und ihre verderblichen Auswirkungen auf Politiker zu erörtern. Die Runde, an der neben einem ehemaligen FDP-Schatzmeister aus NRW auch noch Günther Rexrodt, die grüne Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, der Frankfurter Staatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner, der Bild-Kolumnist Peter Gauweiler sowie Hans Leyendecker, seriöser Enthüllungsjournalist bei der Süddeutschen teilnahm, bemühte sich um Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit. Sie verhandelte Möllemanns Fehler ebenso wie die Verantwortung der Medien und wies die populistischen Attacken Gauweilers gegen Presse und Justiz zurück, ohne dabei in Selbstgerechtigkeit zu verfallen.

Allerdings: Was vor Monaten noch von äußerster Brisanz zu sein schien, nämlich Möllemanns Antisemitismus, erwies sich am Sonntagabend nur noch als Randthema. Gelegentliche Fragen der Moderatorin nach einem "Flyer" wurden geflissentlich überhört, stattdessen setzte sich vor allem Leyendecker in selbstkritisch getönten Manier mit "Vorverurteilungen" auseinander. Als ob ihm bei alledem selbst nicht ganz wohl war, merkte er endlich an, dass ihm Möllemanns Antisemitismus zuwidergewesen sei.

Die Idee einer bürgerlichen, einer bürgerschaftlichen Öffentlichkeit, von der liberale Geister noch immer träumen, ist tatsächlich einem fragmentierten und untergründig miteinander kommunizierenden System verschiedener Arenen gewichen. Während "Leitmedien" wie Christiansen Verantwortung zelebrieren, quatscht sich Volkes Seele im Net aus. Egal, ob es sich um die Online-Seiten des Focus, der FDP, die Palästinanews oder die Rechtspresse handelt: Hier wird mit wachsender Begeisterung und Engagement darüber debattiert, ob Möllemann sich wirklich selbst umgebracht habe, ob hinter alledem nicht in Wahrheit der israelische Geheimdienst "Mossad" stünde und was das alles mit Michel Friedman zu tun habe.

Immerhin hatte ja Möllemann in seinem Buch Klartext die Spur gelegt. Dort war schon vor Monaten zu lesen, dass Parteichef Westerwelle vom Mossad mit dem Ziel erpresst werde, Möllemanns Kopf zu liefern. Weniger beachtet blieb Möllemanns damalige Unterstellung, des ehemaligen Außenministers Kinkel Schwiegersohn sei Offizier des Mossad, weshalb ein deutsches Panzergeschäft mit Saudi Arabien schließlich gescheitert sei. Wie sehr derlei Unsinn im Milieu der FDP wirkt oder für wirksam gehalten wird, lässt sich auch daran ablesen, dass sich Parteichef Westerwelle noch an diesem Wochenende bemüßigt sah, festzustellen, dass ihn Möllemanns Vorwurf, vom Mossad erpresst worden zu sein, erbost habe.

Die Mediensoziologie spricht im Falle der Nichtthematisierung bestimmter Fragen in den anerkannten Medien und ihrer umso heftigeren Erörterung in einer anderen Arena - früher der Stammtisch, heute der Chatroom - von "Kommunikationslatenz". Was sich aber verbirgt, wartet umso lebhafter auf seine Stunde. Dem - im Vergleich mit anderen westlichen Gesellschaften - bewundernswert stabilen politischen System der Bundesrepublik, ist es bisher alles in allem gelungen, rechtsextremistische Parteien von der Macht fernzuhalten. Dieser Erfolg kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein breites und tiefgestaffeltes Wählerpotential für derlei Optionen bereit steht.

Einer anderthalb Jahre alten Expertise des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, verfasst von den am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wirkenden Wissenschaftlern Michael Bromba und Wolfgang Edelstein ist unmissverständlich zu entnehmen, dass 1998 etwa 26 Prozent der West- und beinahe 47 Prozent der Ostdeutschen unzufrieden mit der Demokratie waren, und dass im gleichen Jahr 55 Prozent der West- sowie 61Prozent der Ostdeutschen "Ausländer ablehnten". Schließlich bezeichneten sich 6,7 Prozent der West- und 5,8 Prozent der Ostdeutschen als "rechtsorientiert". Nimmt man zu diesen Ergebnissen die im letzten Jahr deutlich gestiegene Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten sowie die vor einem Jahr erschienene Untersuchung der Erziehungswissenschaftler Ahlheim und Heger hinzu, die unter Studenten einen Anteil von 13 Prozent Antisemiten nachgewiesen haben, gewinnt dieses Potential an Konturen.

Die bundesrepublikanische Debatte über Antisemitismus krankt an ihrem Schwanken zwischen haltlosem Alarmismus und unbegründeter Verharmlosung. Gewiss: Jemanden als "Antisemiten" zu bezeichnen, ist nach Auschwitz einer der moralisch schwerwiegendsten Vorwürfe, obwohl doch manche Antisemiten - wie Möllemann und Walser - gar nicht auf Gaskammern und Vertreibung zielen, sondern nur Stimmung machen und Ressentiment bedienen wollen. So wenig jeder, der antisemitisch fühlt oder denkt, gleich ein potentieller Nationalsozialist ist, sowenig sollte Antisemitismus jedoch als Kavaliersdelikt angesehen werden.

Dazu sind die Folgen denn doch zu dramatisch und es käme wohl niemand auf den Gedanken, offen zu Tage getragene Frauen- oder Schwulenfeindlichkeit als persönliche Macke begabter Politiker zu bewerten. Wenn denn schon die Empfindungen der jüdischen Minderheit in Deutschland kaum noch zählen, dann vielleicht doch die Sorge um die politische Kultur dieses Landes. Im Antisemitismus bündeln sich wie in einem Prisma Ethnozentrismus, Demokratieverdrossenheit, Autoritarismus und blinder Egoismus. Wer den Antisemitismus verharmlost, verstärkt die Ausprägung auch dieser Einstellungen. Den Antisemitismus als Kavaliersdelikt oder persönliche Macke einzustufen, wie dies der ehrenwerte Hans Leyendecker in der ebenso ehrenwerten Diskussionsrunde zu Möllemann tat, fordert zu Nachahmungshandlungen geradezu auf.

So sehr die Betroffenheit der politischen Klasse sowie der moralisch integren Vertreter der Medien ob des tragischen Todes eines der Ihren nachzuvollziehen ist, so sehr wäre ihnen doch bei aller Pietät die Stärke abzuverlangen, die Dinge unverblümt beim Namen zu nennen. Günter Rexrodt hat dies in Bezug auf Möllemanns finanzielle Durchstechereien in würdiger und jeder Selbstgerechtigkeit ferner Form getan. Hätte er sich in gleicher Weise zu Möllemanns Antisemitismus geäußert, müsste man ihn zum Musterbild eines aufrechten, demokratischen Politikers erklären. Er hatte dazu jedoch ebenso wenig die Kraft wie die ansonsten kluge Antje Vollmer; den Bild-Kolumnisten Gauweiler kann man in dieser Hinsicht ohnehin vernachlässigen. So lässt sich nur hoffen, dass das gemeinsame Schweigen von CSU-, FDP- und Grünen-Politikern zu Möllemanns Antisemitismus nicht auf eine politische Strategie, sondern nur auf missverstandene Pietät verweist.

Der Autor ist Direktor des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts.

hagalil.com 19-06-03

 


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