Gemeinde vor dem Bankrott:
Wien ohne JudenVon Thomas Schmidinger,
Wien
Jungle World, 21.05.2003
Seine Regierung sei nicht bereit, "abgetakelte Mossad-Agenten zu
subventionieren", soll der österreichische Bundeskanzler dem
US-Vermittler in Restitutionsfragen, Stuart Eizenstat, gesagt haben. Der
Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien, Ariel Muzicant,
verlangte daraufhin in der vergangenen Woche eine Entschuldigung von
Wolfgang Schüssel. Die Sprecherin des Kanzlers, Heidi Glück, wollte die
Aussagen nicht kommentieren, erklärte aber, das Zitat stamme nicht von
Schüssel. Eizenstat hatte den Kanzler bei einem Gespräch vor zwei Wochen
darauf hingewiesen, dass die Finanzprobleme der Kultusgemeinde gelöst
werden müssen. Die Regierung weigert sich, Geld für die Kultusgemeinde
und die Sicherheit jüdischer Einrichtungen bereitzustellen oder auch nur
Gespräche darüber zu führen. "Schüssel gibt uns das Gefühl, dass sein
Ziel die Liquidation dieser Gemeinde ist", erklärte Muzicant.
Sollte Österreich den verbliebenen jüdischen Gemeinden - neben der IKG
Wien, in der rund 90 Prozent der österreichischen Jüdinnen und Juden
Mitglied sind, gibt es noch sehr kleine Gemeinden in Innsbruck,
Salzburg, Linz, Graz und Baden bei Wien - nicht bald unter die Arme
greifen, droht tatsächlich ihr Ende. Muzicant gab bereits bekannt, dass
dann "am 1. Juli mit der Liquidation der Gemeindestruktur begonnen"
werde. Sechs Jahrzehnte nach dem Holocaust ist die Gemeinde finanziell
am Ende und gezwungen, etliche Angebote wie Schulen, Synagogen,
Religionsunterricht, kulturelle und soziale Einrichtungen zu schließen.
"Dies ist der Anfang vom Ende der wieder aufgebauten Gemeinde. Innerhalb
weniger weiterer Jahre werden vor allem junge Gemeindemitglieder
auswandern. Wien ist dann (wieder) 'eine Stadt ohne Juden'", heißt es in
einer Mitteilung der IKG.
Vor der Shoa zählten die damals 34 jüdischen Gemeinden Österreichs zu
den geistigen Zentren des europäischen Judentums. Wien, das besonders
während der Zeit der Monarchie einen steten Zuzug religiöser Jüdinnen
und Juden aus Galizien zu verzeichnen hatte, war lebendiger Mittelpunkt
des jüdischen Lebens. Während die ländlichen Gemeinden schon in den
ersten Monaten nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich im
Jahre 1938 von den NS-Behörden geschlossen und ihre Mitglieder in Wien
"konzentriert" wurden, unterstellte man die IKG Wien dem Referenten für
"Judenangelegenheiten" im Reichssicherheitshauptamt, Adolf Eichmann. Sie
war damit eingezwängt zwischen den Forderungen Eichmanns und dem
Versuch, möglichst vielen Jüdinnen und Juden das Leben zu retten, und
diente als Übungsfeld für die nationalsozialistische "Judenpolitik".
Nach der Auflösung der Kultusgemeinde und der Installation eines
jüdischen "Ältestenrates" im Jahre 1942 blieben bis 1945 einzelne vor
allem in der Fürsorge aktive Institutionen bestehen, die voll und ganz
unter der Kontrolle von NS-Stellen standen. Die jüdischen Mitarbeiter
versuchten in vielen Fällen, durch eine taktische Zusammenarbeit mit
ihren Verfolgern Leid zu lindern und Menschenleben zu retten.
Nur wenige Mitglieder der IKG, die in der Illegalität, in "Mischehen"
oder teilweise als Mitarbeiter der verbliebenen jüdischen Institutionen
ihrer Vernichtung entgingen, haben die Befreiung im Jahr 1945,
gesundheitlich oft schwer angeschlagen, noch erlebt. Vom Vermögen der
Gemeinden war kaum mehr etwas übrig, nur ein Teil der ehemaligen
Liegenschaften wurde nach 1945 der Kultusgemeinde zurückgegeben. Die
sich wieder konstituierende IKG glaubte nach allem, was geschehen war,
nicht an eine dauerhafte Existenz einer jüdischen Gemeinde in
Österreich. Vielmehr sah sie sich als Liquidatorin, die die Auswanderung
der verbliebenen Juden und jüdischer Displaced Persons organisieren
sollte. Da verwundert es kaum, dass die Gemeinde in den fünfziger,
sechziger und siebziger Jahren immer wieder etwas von den teilweise
rückerstatteten Liegenschaften an die Gemeinde Wien verkaufte, um ihre
laufenden Ausgaben bestreiten zu können.
Verschlimmert wurde die finanzielle Not noch dadurch, dass die über
Jahrzehnte hinweg von Sozialdemokraten regierte Kultusgemeinde viele
ihrer Immobilien zu weit niedrigeren als den ortsüblichen Preisen an
deren Parteifreunde in der Wiener Stadtverwaltung verkaufte, was immer
wieder zu scharfer Kritik mancher Mitglieder führte. Erst unter den von
Parteien unabhängigen IKG-Präsidenten Paul Grosz und Ariel Muzicant
wurde dieser Ausverkauf Ende der achtziger Jahre beendet.
Notwendig wurden die Verkäufe jedoch einzig wegen der mangelhaften
Entschädigung nach 1945. Mit Ausnahme der Rückgabe von zerstörten
Synagogen und verwüsteten Liegenschaften sowie der Zahlung von 13,2
Millionen Euro an die Israelitische Religionsgemeinschaft hat die
Republik Österreich bis heute das Gemeindevermögen weder restituiert
noch entschädigt. Auch der vor wenigen Wochen veröffentlichte Bericht
einer Historikerkommission macht auf die Mängel der bisherigen
Restitution aufmerksam. Dabei wurden die Ausgaben der Gemeinde in den
vergangenen Jahren nicht geringer. Jahrelang hatte sie unter
schwindenden Mitgliederzahlen zu leiden, musste aber trotzdem ihre
Angebote aufrechterhalten. Jüdische Einwanderung aus der ehemaligen
Sowjetunion führte erst in den neunziger Jahren wieder zu einem Anstieg
der Mitgliederzahl, was neue Aufgaben im Bereich des jüdischen
Schulwesens, der Erwachsenenbildung und der sozialen Institutionen mit
sich brachte. Die Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR verfügen heute
über eine eigene sephardische Synagoge und eine eigene
Jugendorganisation. So erfreulich diese Entwicklung für die
Kultusgemeinde auch ist, so sehr belastet sie auch ihr Budget, das durch
die Beiträge der meist einkommensschwächeren Neuzuwanderer nicht
ausgeglichen werden kann. Zudem mussten in den letzten Jahren die
Sicherheitsvorkehrungen für eine Reihe jüdischer Einrichtungen verstärkt
werden, da der zunehmende Antisemitismus auch für die österreichischen
Jüdinnen und Juden eine wachsende Gefahr wurde und ist. Auch diese
Sicherheitsmaßnahmen muss die IKG selbst bezahlen.
Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Muzicant meinte der
stellvertretende Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland
und Präsident des European Jewish Congress, Michel Friedman, Anfang Mai:
"Wir befinden uns in einer völlig perversen Situation." Die erhöhten
Sicherheitsmaßnahmen seien nötig, weil es Österreicher gebe, die
Antisemiten seien, und sich die österreichischen Juden von verbalen und
physischen Angriffen bedroht sähen. Und dann würden die Juden zum
zweiten Mal bestraft, weil sie ihre Sicherheit selbst bezahlen müssten.
Forum: Wiens jüdische Gemeine - pleite?
Im Archiv (hagalil.com):
Dr. Muzicant antwortet Peter
Sichrovsky:
Vielmehr ist wahr...
Ariel Muzicant reagiert auf die Vorwürfe des ehemaligen
FPÖ Europaabgeordneten Peter Sichrovsky, die IKG sei nur für einen
geringen Teil der jüdischen Infrastruktur zuständig...
SPÖ fordert Klarstellung:
Antisemitische Übergriffe nicht einfach hinnehmen
Kanzler Schüssels Entgleisungen gegenüber der
Israelitischen Kultusgemeinde sind brandgefährlich...
"Abgetakelte Mossad-Agenten":
Bis
hier her und nicht weiter
Israelitische Kultusgemeinde entsetzt über Schüssel
Aussage...
Die ÖVP und ihr antisemitischer Held:
Verehrter Antisemit
Die ÖVP widmet ihrem "Gründervater" Leopold
Kunschak eine Ausstellung. Khol und Fasslabend eröffneten sie gut
gelaunt, weil mit beträchtlichen historischen Auslassungen...
Sicherheitsrisiko in Österreich:
Weitere
Schüssel-Entgleisung?
Nach Stuart Eizenstat kommentierte Kanzler Schüssel das
verständliche Sicherheitsbedürfnis der Israeltischen Kultusgemeinde mit
dem Hinweis, dass die Regierung nicht bereit sei, 'abgetakelte
Mossad-Agenten' zu subventionieren...
In der Taborstraße in Wien wurde der Vize-Direktor der
Chabad-Lauder-Schule auf seinem Heimweg vom Gebet von zwei Jugendlichen
angegriffen. Zunächst sei er wegen seines Aussehens mit
antisemitischen Sprüchen beschimpft worden. Danach habe man ihn mit
Fußtritten und einer Bierflasche tracktiert. Die drei anwesenden Kinder
des Rabbiners wurden nicht verletzt. Zu einer Anzeige ist es am Schabath
nicht gekommen. Nach einem Bericht in der israelischen Tageszeitung
"Yedith Aharonot" hat das Landesamt für Verfassungsschutz und
Terrorismus die Ermittlungen aufgenommen.
hagalil.com
27-05-03 |