Von Klaus Faber
Irak-Krise und Irak-Krieg, die
europäisch-amerikanischen Spannungen und die dadurch ausgelösten
innenpolitischen Auseinandersetzungen haben einen problematischen Aspekt
im deutschen und europäischen Diskurs vorübergehend in den Hintergrund
gedrängt: die Verbindung von antisemitischen, israelfeindlichen und – in
Teilbereichen – antiamerikanischen Positionen. Eine "neue
braun-rot-grüne Allianz" gegen Israel sieht Roger Cukierman,
Vorsitzender des größten französischen Verbandes jüdischer Gemeinden,
seit einiger Zeit in Frankreich an Einfluß gewinnen.
Propalästinensische Linksradikale, Umweltschützer
und die extreme Rechte bildeten eine erschreckende Anti-Israel-Front, so
im Januar Cukierman auf einem Treffen mit französischen Politikern, an
dem auch der französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin teilnahm.
Raffarin sagte bei dieser Gelegenheit zu, sich künftig stärker mit dem
Antisemitismus-Phänomen im französischen Schulwesen zu befassen. An
einigen französischen Schulen haben nach Raffarins Schilderung Lehrer
Probleme, wenn sie über den Holocaust oder über Israel sprechen wollen.
Schulen und Lehrer sollten, so sein Appell, derartige unakzeptable
Haltungen bekämpfen.
Kombinationen von Antisemitismus und Antizionismus
sind in Deutschland am extremen rechten Rand, für den etwa die NPD steht,
eine bekannte Erscheinung. Bei seiner Wanderung vom deutschen linken
Terrorismus der 70er Jahre zur NPD mußte Horst Mahler seine
antizionistischen und antisemitischen Auffassungen offenbar nicht
ändern. Ein Schlüsselerlebnis war für den deutschen Außenminister
Joschka Fischer die Flugzeugentführung von 1976, die mit der
Geiselbefreiung in Entebbe durch israelische Streitkräfte endete.
Deutsche und arabische Terroristen hatten damals, vor der Befreiung,
nicht nur die Passagiere mit israelischem Paß, sondern auch Juden mit
anderer Staatsangehörigkeit als potentielle Mordopfer ausgesondert.
Große Teile der deutschen 68er waren durch den Vietnamkrieg
amerikakritisch geprägt und entschieden sich in dem
arabisch-israelischen Konflikt nach dem Sechs-Tage-Krieg gegen Israel,
eine Haltung, die von der wichtigsten Organisation in der deutschen
Terrorszene, der RAF (Rote Armee Fraktion), geteilt wurde. Ulrike
Meinhof bezeichnete den Terroranschlag auf die israelische
Olympiamannschaft von 1972 als eine geeignete Operation mit
Vorbildfunktion für künftige RAF-Aktionen.
Wird Fischers auf die Entebbe-Erfahrung gestützte
Abgrenzung gegen Israelfeindschaft und Antisemitismus inzwischen von der
deutschen "Linken" – im weitesten Sinne – mitgetragen? Ein Blick auf die
öffentliche Debatte ergibt in dieser Hinsicht kein eindeutiges Bild.
Kritik an Israel ist, anders als dies manche glauben machen wollten, in
der deutschen Diskussion seit langem kein Tabu. In der
Nahost-Berichterstattung der elektronischen Medien überwiegt eher die
israelkritische und propalästinensische Position. Besonders
deutlich wird dies, wie Untersuchungen zeigen, in der Bildpräsentation.
Sie stellt häufig die überlegene militärische Potenz Israels, z.B. mit
fahrenden oder stehenden Panzern, der scheinbar schwachen arabischen
Position, etwa mit jugendlichen Steinewerfern oder bei Kontrollen an
Straßensperren, gegenüber. Der arabische Terror wird nicht selten mit
israelischen Antiterrormaßnahmen auf eine Ebene gestellt, wofür auch die
immer wiederkehrende Formel von der "Gewaltspirale" ein Beispiel gibt.
Verbreitet ist die chronologische Umkehr der Ereignisse: zuerst werden
israelische Aktionen, danach, wenn überhaupt, vorausgegangene arabische
Terroranschläge dargestellt. Oft bezeichnet die Berichterstattung im
Fernsehen oder in Nachrichtenagenturen – und vor kurzem auch eine
deutsche Regierungserklärung – die israelische Militärintervention gegen
den Terror als "Vergeltung". Militäroperationen der westlichen Kosowo-
oder Afghanistan-Allianz wurden und werden demgegenüber kaum jemals mit
dem Begriff "Vergeltung" belegt. "Vergeltung" liegt in der Nähe
von "Rache". Seit langer Zeit gibt es ein beliebtes, wenn auch
religionshistorisch unhaltbares christliches Argumentationsmuster, nach
dem der Gott der Rache und Vergeltung im Alten Testament vom Gott der
Liebe und des Friedens im Neuen Testament abzugrenzen sei. "Auge um
Auge, Zahn um Zahn" sei die Maxime der israelischen Vergeltungspolitik,
so ein weiteres in deutschen Medien verwandtes
antisemitisches Klischee.
Eine proarabische Tendenz läßt sich
übrigens auch in den französischen Medien feststellen. Vor diesem
Hintergrund können die Ergebnisse einer Umfrage kaum überraschen, die im
letzten Jahr von der amerikanischen Anti-Defamation League (ADL) in
einigen europäischen Ländern, auch in Deutschland und Frankreich,
durchgeführt wurde. Die im Vergleich zur umgekehrten Einstellung doppelt
so starke Neigung zu proarabischen Positionen ist danach in Europa dann
besonders ausgeprägt, wenn die Information über den Nahostkonflikt vor
allem aus der täglichen Medienberichterstattung bezogen wird. Die dabei
vermittelten historisch-politischen Kenntnisse über den Nahostkonflikt
lassen allerdings, wie Nachfragen in der ADL-Untersuchung ergeben haben,
viel zu wünschen übrig. Viele der Befragten sehen sich über die
arabisch-israelische Auseinandersetzung offenbar selbst unzureichend
informiert. Im europäischen Schnitt vertreten nach der ADL-Studie
ungefähr 30% der Befragten typisch antisemitische Positionen.
Es kann in einigen Konstellationen der öffentlichen
Diskussion schwierig sein, zwischen begründeter oder hinzunehmender
Israelkritik und Antisemitismus zu unterscheiden. Auch in der Sache
unberechtigte, radikal und polemisch formulierte Kritik an Israel ist
nicht in jedem Fall als antisemitische Position zu qualifizieren. Eine
Grenze wird andererseits spätestens dann überschritten, wenn
traditionelle antisemitische Klischees sichtbar sowie einseitige
Maßstäbe angelegt werden, die nur gegen Israel – sonst gegen kein
anderes Land – gelten, dabei das Land negativ aussondern und
delegitimieren sollen. Beispiele sind dafür Weltherrschafts- und
Weltverschwörungsanklagen gegen Israel nach dem Muster der Protokolle
der Weisen von Zion, wie sie in der verbundenen
Antiimperialismus/Antizionismus-Agitation anklingen oder etwa auch einer
in vielen arabischen Ländern ausgestrahlten ägyptischen Fernsehserie
(Reiter ohne Pferd) zugrunde liegen. Dazu gehören ebenso Stellungnahmen,
die Israels Existenz- oder sein Recht auf Selbstverteidigung in Frage
stellen, und schließlich Positionen, die regelmäßig Israel unter allen
möglichen Gesichtspunkten, z.B. wegen der angeblichen "Demütigung" der
Palästinenser, scharf kritisieren, ähnliche, aber weitaus deutlicher
begründete und schwerer wiegende Vorwürfe und Tatbestände, etwa die
Massaker der Khartum-Regierung an Hunderttausenden der
Südsudanbevölkerung oder die arabischen Terroranschläge, gegenüber
anderen Konfliktparteien mit keinem Wort erwähnen. Derselben Kategorie
ist die Gleichsetzung Israels mit Hitlerdeutschland zuzuordnen.
Damit vergleichbare amerikafeindliche Propagandasätze
sind auf manchen Antikriegsdemonstrationen zu hören und zu lesen, etwa
in holpriger Reimbotschaft: "U.S.A. – Drittes Reich: Ihr seid euch so
gleich". Daß derartige Parolen auch weit gezogene Grenzen für zu
duldende Polemik überschreiten, ist vermutlich die von der großen
Mehrheit in Deutschland vertretene Auffassung. Problematische
antiamerikanische Strömungen (im engeren Sinne der
amerikafeindlichen Grundeinstellung) hat es in Deutschland und in
anderen europäischen Ländern, z. B. in Frankreich (dort wohl auch als
Verlängerung der Ressentiments gegenüber dem älteren "Erbfeind"
England), immer gegeben. In aktuellen Konfliktlagen zwischen den
Regierungen auf beiden Seiten des Atlantiks werden sie häufig, gewollt
oder ungewollt, mobilisiert – wie umgekehrt in Amerika europakritische
und -feindliche Stimmungen. Umfragen in Deutschland zeigen große
Mehrheiten gegen den neuen Irak-Krieg und für eine negative Einschätzung
des amerikanischen Präsidenten, aber gleichzeitig auch eine deutliche
Zustimmung dazu, in den Vereinigten Staaten weiterhin den mit Abstand
wichtigsten Verbündeten zu sehen. Die Problematik der
Auseinanderentwicklung zwischen den beiden Staaten sollte nicht mit der
Bewertung verharmlost werden, es gehe, von Deutschland aus gesehen, bei
allem und bei allen nur um die Kritik an der amerikanischen Regierung,
also nur um "Antibushismus". Antiamerikanismus ist aber – bislang –
keine deutsche Mehrheitsposition.
Eine ganze Reihe von Kommentatoren hat auf
strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus, Antizionismus und
Antiamerikanismus hingewiesen. In der Tat werden in Teilen des
politischen Spektrums in Deutschland und in anderen europäischen Ländern
derartige Positionen kombiniert, wobei wohl die antiwestliche
Grundorientierung die entscheidende verbindende Klammer bildet. Die
Kombination von israelfreundlicher und antiamerikanischer Einstellung
kommt in der deutschen Diskussion äußerst selten vor; die umgekehrte
Position ist etwas häufiger anzutreffen. Trotz einiger
Verknüpfungselemente sind die Unterschiede zwischen Antisemitismus sowie
Antizionismus einerseits und Antiamerikanismus andererseits jedoch nicht
zu übersehen. Für die fast zweitausend Jahre Antisemitismusgeschichte im
Christentum gibt es bei einer vergleichsweise neuen Erscheinung wie dem
Antiamerikanismus keine Entsprechung – um eines der Differenzmerkmale
herauszugreifen. Auf allen Seiten der politischen Lager ist in
Deutschland die Vernichtung der Staatlichkeit der U.S.A.
(vielleicht auch nur mit Rücksicht auf die Machtlage) niemals ein
formuliertes Ziel oder ein in Kauf genommenes Entwicklungsergebnis
gewesen. Derartige Konsequenzen blieben im radikalen Positionsspektrum
dem jüdischen Staat Israel vorbehalten.
Andere Schlagseiten in der deutschen Debatte
erweitern das Problembild. Es gibt weder rechts noch links eine
einigermaßen relevante Diskussion über den arabisch-muslimischen
Antisemitismus. Der britisch-amerikanische Orientalist Bernard Lewis
hatte bereits vor über zwanzig Jahren auf die islamische Rezeption der
traditionellen christlichen Antisemitismuskonzeption und seiner modernen
Varianten aufmerksam gemacht. Die Propaganda Hitlerdeutschlands hat bei
diesem Prozeß eine gewisse Rolle gespielt. Im arabischen Terror, der
sich bereits sehr früh nicht nur gegen israelische, sondern auch gegen
nicht-israelische jüdische Opfer richtete, war, so Lewis, die
Antisemitismusübernahme spätestens seit den 70er Jahren, u. a. in
Entebbe, zu erkennen. Negative Auswirkungen der islamischen
Antisemitismustendenzen gibt es zunehmend in der europäischen
Innenpoltik, wie etwa in Frankreich die wachsenden Spannungen zwischen
Muslimen und Juden zeigen. Die Israel delegitimierende Position der
palästinensischen und vieler anderer arabischen Medien, von arabischen
Schulbüchern oder religiösen Ansprachen ist in Deutschland und im
übrigen Europa häufig bekannt. Sie wird aber kaum als beunruhigende
Gefahrenquelle wahrgenommen. Zu der erwähnten antisemitischen, in
Ägypten produzierten Fernsehserie gab es kritische Reaktionen der
Vereinigten Staaten, aus Israel und den Niederlanden, aber nicht aus
Deutschland.
Daß die deutsche Außenpolitik aus historischen
Gründen für Israel und den Nahen Osten Verantwortung trage, wird in der
deutschen Debatte oft betont. Die meisten beziehen dies auf den
Holocaust, den viele als Hauptursache für die Gründung des israelischen
Staates ansehen. Hitlerdeutschland war aber, worauf Lewis vor
kurzem hinwies, bereits vor dem Holocaust Akteur im Nahen Osten.
Der 1937 vorgelegte britische Teilungsvorschlag für das frühere
Mandatsgebiet Palästina zwischen einem jüdischen und einem arabischen
Staat scheiterte am Widerstand der arabisch-palästinensischen Führung
unter Amin al-Husseini, einem Verwandten Arafats. Der Vorschlag
wäre für die arabische Seite weitaus günstiger als alle folgenden
territorialen Teilungskonzeptionen gewesen. Er hätte möglicherweise
Millionen Juden das Leben retten können. Amin al-Husseini, der von den
Briten als Mufti von Jerusalem eingesetzt worden war, wurde in
seiner Ablehnung des britischen Zwei-Staaten-Vorschlags von
Hitlerdeutschland tatkräftig unterstützt, auch durch finanzielle Mittel.
Ohne diese Hilfe wäre eine jüdisch-arabische Einigung vielleicht möglich
gewesen. In jedem Fall hätte eine britische Entscheidung ohne die
deutsche, gegen Israels Gründung gerichtete Intervention leichter
umgesetzt werden können. Die erste Chance für einen historischen, für
die Araber vorteilhaften Kompromiß im arabisch-israelischen Konflikt ist
also auch an der deutschen, sich proarabisch definierenden Haltung
gescheitert.
Ob die deutsche öffentliche Diskussion über Probleme
im Nahen Osten und im Verhältnis zum Islam, u. a. über die wachsenden
antisemitischen und antiwestlichen Tendenzen im Islam, auf einer
realistischen Lagebeurteilung beruht, kann nicht nur von Paul Spiegel,
dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, in Zweifel
gezogen werden. Manche Linke und Nicht-Linke wollen offensichtlich die
neuen
Gefahren in der Verbindung von aggressiver Israelfeindschaft und
Antisemitismus nicht wahrnehmen – zum Teil nicht wahrhaben. Eine
Rolle spielen dabei im Ansatz sympathische, aber naive Vorstellungen
über die Islam- und insgesamt die "Dritte" Welt. Terror, so eine in
diesem Zusammenhang verbreitete Argumentation, sei im wesentlichen oder
ausschließlich auf Unterdrückung und Armut zurückzuführen. Wäre dies
wahr, müßten nicht-muslimische Terroristen aus dem Südsudan, aus dem
indonesischen Teil Neuguineas und aus Tibet oder muslimische Attentäter
aus Sinkiang viele Hochhäuser in Europa und Nordamerika längst in Schutt
und Asche gelegt haben. Ohne den arabisch-israelischen Konflikt gäbe es
im Islam-Europa-Verhältnis und in den islamischen Ländern keine
wesentlichen Probleme, jedenfalls keinen Terror, so eine verwandte
These. Auch diese Position muß sich allerdings der Realität stellen, z.
B. dem Terror und Bürgerkrieg in Algerien, die vermutlich bereits
mehr Opfer gefordert haben als der Unabhängigkeitskrieg, oder der Liste
der Feinde in den Erklärungen von Osama Bin Laden und anderer
Gleichgesinnter. Ganz oben stehen dort keinesfalls Israel, sondern die
Kreuzzügler, im Klartext: der Westen (und nicht nur die U.S.A.).
Die öffentliche Diskussion muß –
selbstverständlich – unterschiedlichen Positionen zum Nahostkonflikt,
zum Irakkrieg oder zu den europäisch-amerikanischen Beziehungen Raum
geben. Grenzen gegenüber antiamerikanischen und antisemitischen
Einstellungen sowie diskriminierender Israelfeindschaft sind aber ebenso
zu ziehen. Daß dies rechtzeitig geschieht, liegt im deutschen Interesse,
wie nicht zuletzt das französische Beispiel zeigt. Noch im letzten Jahr
war von offizieller französischer Seite die Auffassung vertreten worden,
Antisemitismus gebe es in Frankreich nicht. Ministerpräsident Raffarin
hat im Januar dieses Jahres bemerkenswert offen diese Position
korrigiert.
Erstveröffentlichung: Aufbau
Klaus Faber, Staatssekretär a. D., ist Rechtsanwalt in Potsdam.
Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der
Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Von
1994 bis 1999 Staatssekretär des Kultusministeriums von Sachsen-Anhalt.
Mitgründer und Kuratoriumsmitglied des Moses-Mendelssohn-Zentrums für
Europäisch-Jüdische Studien an der Universität Potsdam und des
Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutsch-Französische
Zusammenarbeit in Genshagen.