Von Richard Chaim Schneider
Süddeutsche Zeitung, 07.04.2003
In diesen Tagen des Irak-Krieges fällt mir immerzu jener Witz ein,
aus dem Jahr 1938, in Berlin. Wo Moses beim Gang durch den Park auf
einer Bank – nur für Juden - Jakob beim Zeitunglesen sieht. Die Zeitung:
der Völkische Beobachter. Moses ist entsetzt, fragt seinen Freund, ob er
völlig verrückt – dies sei doch die Zeitung des Feindes. Jakob bleibt
ganz ruhig. Ich liebe dieses Blatt, erklärt er Moses, denn darin steht,
dass den Juden alle Banken gehören und dass die Juden in Amerika das
Sagen haben. Dass die Juden die Sowjetunion regieren und dass die Juden
die ganze Welt beherrschen! In allen anderen Zeitungen sehen nur
schreckliche Dinge: Was die Nazis mit den Juden seit 1933 alles
anstellen und wie die ganze Welt nur zuschaut. "Da lese ich doch lieber
weiter den Völkischen Beobachter !"
Als Jude des Jahres 2003 sollte man sich Jakob aus dem Berlin des
Jahres 1938 zum Vorbild nehmen, oder, wie man das auf Neudeutsch sagen
würde: Go with the flow!
Wie anders könnte man die Verschwörungstheorien ertragen, die
mittlerweile nicht nur im Internet, sondern auch an den Stammtischen
herumgeistern ... Die man nun in privaten Gesprächsrunden mal eben so um
die Ohren gehauen bekommt, beim Essen beim Edelitaliener und sogar in
manchen Redaktionen: Die Amerikaner führen diesen Krieg im Irak für
Israel! Hinter dem Angriff auf Bagdad steht Jerusalem respektive die
jüdische Regierungsmannschaft des George W. Bush!
Seit den berühmt-berüchtigten "Protokollen der Weisen von Zion" des 19.
Jahrhunderts hält sich die Mär von der jüdischen Weltverschwörung
hartnäckig. Und seit damals hatten Juden nichts anderes zu tun als immer
wieder dieser absurden Lüge Contra zu bieten – und der Welt mit
rational-logischen Argumenten zu beweisen, dass es sie nicht gibt, die
jüdische Weltherrschaft. Alles umsonst! Das Gerücht mag nicht
verstummen, wie man in diesen Tagen wieder einmal feststellen muss.
Schon um den Terror des 11. September rankte sich das "geheime" Wissen,
dass natürlich nicht Osama bin Laden, sondern in Wirklichkeit der Mossad
hinter dem Anschlag stünde. Dass alle Juden und Israelis im WTC kurz vor
dem Anschlag einen Anruf erhalten hätten mit der Warnung, das Gebäude zu
verlassen. Während man dies so in den Zeitungen von Kairo und Damaskus,
in Bagdad und Ryad lesen konnte, traute sich der christliche Westen,
immer noch beeindruckt vom Holocaust, nicht, diese so überzeugende These
in seinen Zeitungen zu drucken. Dieses Wissen musste man sich in Paris
und Berlin, in London und Rom hinter vorgehaltener Hand erzählen.
Nun, wir Juden sollten unsere Defensivstrategie endlich aufgeben:
Angriff ist die beste Verteidigung! Wir sollten also endlich zugeben,
dass es sie gibt, die Koscher Nostra! Die jüdische Weltverschwörung,
unser konzentriertes Bemühen, die ganze Welt in unsere Hand zu bekommen
– eine Tatsache. Das Ziel: Auf Capitol Hill soll die Fahne mit dem
Davidstern gehisst werden und weiter auch auf der Spitze des Eiffelturms
und auf dem Big Ben! Und – natürlich – können wir es kaum erwarten, dass
über dem Reichstag wie auch auf dem Brandenburger Tor der Davidstern
stolz in der „Berliner Luft“ flattert! Was für ein erhebendes Gefühl!
Welch großartige Vorstellung! Jawohl – die Koscher Nostra existiert.
Hütet euch vor uns. Wir sind ein mächtiger Geheimbund, vor dem man sich
in Acht nehmen muss.
Und wie ich gestern in einem Münchner Restaurant von einem
Zeitungsverkäufer erfahren konnte, gibt es Schlüsselfiguren in der
Weltpolitik, die ihre Mitgliedschaft in dieser Koscher Nostra geschickt
vertuschen. Denn wie ich seit gestern Abend nun weiß: sogar
US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und der amerikanische
Vizepräsident Dick Cheney sind Juden! Wussten sie das? Natürlich nicht!
Sie sind ja keine Juden. Nur komisch, dass ich auch nichts davon wusste.
Ich denke, ich muss mal ein ernstes Wort mit unserem Paten reden. Wieso
ich, als Mitglied der jüdischen Weltverschwörung, von solch wichtigen
Informationen nicht in Kenntnis gesetzt werde! Das ist doch wirklich
unglaublich! Ach, sie wollen wissen, wer der jüdische Pate ist, der alle
Fäden zusammenhält? Sie erwarten doch nicht wirklich, dass ich diese
Frage beantworte!