Interview: Thomas Binger
Junge Welt, 19.04.2003
Über vermeintliche Tabus und geschickten Populismus, über aktuellen
Antisemitismus und tradierte Vorurteile sowie über Israel-Kritik und
politische Brandstiftung
In Ihren Veröffentlichungen betonen Sie den offiziellen Konsens in
der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft Antisemitismus als Mittel der
Politik zu ächten. Hat dieser Konsens angesichts der aktuellen Debatten
um Jürgen Möllemann und Martin Walser noch Bestand?
Dieser Konsens ist nach wie vor gültig. Die Möllemann-Affäre hat das
eindrucksvoll bestätigt. Mit Antisemitismus sind keine Wähler zu
gewinnen und öffentlich demonstrierter Antisemitismus ist in Deutschland
karriereschädlich. Seitdem die Debatte im Mai oder Juni 2002 begann,
haben Meinungsführer, Medien und Intellektuelle immer wieder öffentlich
deutlich gemacht, daß dieser Konsens gilt.
Möllemann hat im Rahmen einer populistischen Strategie bei der
Verfolgung des "Projektes 18" bewußt an die in Österreich erfolgreichen
Methoden von Jörg Haider und Co. angeknüpft. Nun läßt sich darüber
streiten, ob die FDP wegen oder trotz Möllemanns Kampagne ihr
ehrgeiziges Ziel bei der Bundestagswahl verfehlt hat. Immerhin hat
Möllemanns NRW-FDP im Bundesvergleich am besten abgeschnitten.
Es war von Anfang an Größenwahn, daß Wählerpotential so zu
überschätzen. Aber mit dieser Irritation, die dann durch die von
Möllemann gewählte Methode beim Wähler und beim Publikum aufkam, hat
sich der Mißerfolg verfestigt. Auch in Nordrhein-Westfalen, wo Möllemann
populärer ist als außerhalb, ist er ja bei weitem nicht an dieses 18
Prozent-Ergebnis herangekommen, das er sich erhofft hatte.
Warum scheuen Sie sich, Jürgen Möllemann oder Martin Walser als
Antisemiten zu bezeichnen? Reicht die politische Instrumentalisierung
oder literarische Verarbeitung von Stereotypen der Judenfeindschaft
nicht für eine solche Charakterisierung aus?
Ich würde überhaupt nicht davor zurückschrecken, jemanden einen
Antisemiten zu nennen. Ich möchte nur in meinen Veröffentlichungen
darauf aufmerksam machen, daß es zu einfach ist, Möllemann als
Antisemiten zu bezeichnen, um dann schulterzuckend zur Tagesordnung
überzugehen. Es kann nicht darum gehen, jetzt lediglich dieses
Sortiergeschäft durchzuführen. Viel wichtiger ist es zu sehen, was da
für Mechanismen in Gang gesetzt werden, an welchen Hebeln gespielt wird,
was hier mit Mitteln der Demagogie instrumentalisiert wird und wie
Stereotype und Ressentiments wachgerüttelt und zu Gunsten von
politischen Zielen in Stellung gebracht werden. Ob das Möllemann jetzt
aus Kalkül macht, aus politischer Berechnung, aus ideologischer
Überzeugung, aus Dummheit oder aus Klugheit, mit welchem Motiv auch
immer, das erscheint mir nicht als das Wichtige. Entscheidender ist, daß
es geschieht und welcher Schaden damit angerichtet wird.
Instrumentalisiert werden soll ja der latente Antisemitismus in
Teilen der Bevölkerung. Sie heben in verschiedenen Äußerungen darauf ab,
daß dieses antisemitische Potential im Laufe der Jahrzehnte kleiner
geworden ist. Kann man das angesichts der aktuellen Debatten noch
aufrechterhalten, oder gibt es neuere empirische Untersuchungen, die
eher das Gegenteil aufzeigen?
Nein. Alle seriösen Untersuchungen, Umfragen und Trendbeobachtungen
bestätigen dieses Ergebnis. Langfristig betrachtet ist Antisemitismus in
unserem Land eine konstante Größe, mit einer leicht abnehmenden Tendenz.
Das bedeutet nicht, daß es nicht Wellenbewegungen gibt, daß es nicht im
Laufe des vorigen Sommers Ausschläge in diesem Pendel gegeben hat, die
gegen diesen langfristigen Trend zu sprechen scheinen. Das ändert aber
nichts. Es gibt immer, seitdem wir Antisemitismus mit Mitteln der
Demoskopie beobachten, also seit 1945 in Deutschland, diese Ausschläge,
die sich an bestimmten Ereignissen kristallisieren. Wenn die Medien
breit über antisemitische Ausschreitungen berichten, dann animiert das
Nachahmungstäter, dann wird es weitere antisemitische Ausschreitungen
geben. Das ist ein Naturgesetz der Mediengesellschaft. Das ist keine
Medienschelte und soll nicht heißen, daß Medien nicht berichten dürfen.
Aber wenn sich Politiker in den Ring begeben und ein Problem völlig neu
entdecken, dann werden sie anschließend bestätigt, weil das Thema im
allgemeinen Diskurs ist und sich die Ereignisse dann auch einstellen.
Wie groß ist das konstante Potential für Antisemitismus in der
bundesdeutschen Gesellschaft, von dem Sie sprechen?
Das schwankt zwischen 15 und 20 Prozent. Aber man muß das genau
betrachten. Der Aufschrei, jeder fünfte Deutsche sei ein Antisemit,
bringt uns der Wahrheit nicht näher. So wird das aber in den Zeitungen
gerne übersetzt, die beziehungsweise deren Leser dann auch noch unter
Antisemit den potentiellen Völkermörder verstehen. Wir müssen also die
Ergebnisse von Umfragen sehr sorgfältig interpretieren. Latenter
Antisemitismus heißt beispielsweise, daß im Weltbild eines Menschen
bestimmte Ressentiments vorkommen: Er ist also davon überzeugt, daß
Juden einer besonders komplizierten Religion anhängen, oder er ist
überzeugt davon, daß Juden besonders geschäftstüchtig oder gar
geldgierig sind, und damit mag es sein Bewenden haben. Das heißt nicht,
daß er jetzt fordert, die Juden müßten umgebracht oder verjagt werden.
Das wäre manifester Antisemitismus. Zwischen latentem Antisemitismus,
also einer Einstellung, in der Ressentiments gegen Juden vorkommen, und
manifestem Antisemitismus, wie er bei Rechtsradikalen auftritt, wie er
sich in Friedhofsschändungen, in Propagandadelikten, in der Leugnung des
Völkermordes äußert, ist ein himmelweiter Unterschied.
Die aktuellen Debatten über Antisemitismus sind stark mit Positionen
zum Nahost-Konflikt und mit einer besonderen Variante der Israel-Kritik
verknüpft. Welche Rolle spielen diese Themen für die aktuelle Konjunktur
des Antisemitismus?
Sie spielen eine ganz große Rolle, wie die Debatte im vergangenen Jahr
gezeigt hat. Möllemann und andere haben ganz systematisch die Ereignisse
in Nahost als Kristallisationskerne benutzt, um daran über das Vehikel
Israel-Kritik Judenfeindschaft deutlich zu machen. Das ist ein ganz
einfach zu erläuternder Mechanismus: Judenfeindschaft ist in Deutschland
nicht erlaubt. Israel-Kritik ist selbstverständlich erlaubt, solange das
eine Kritik ist, die die Politik eines bestimmten Landes bzw. der
Regierung eines Landes in den Blick nimmt und bewertet. In Deutschland
bauen nun Leute wie Möllemann den Popanz auf, Israel-Kritik sei
verboten, sei ein Tabu, und man müsse dieses Tabu brechen. Auf diese
demagogische Weise werben sie dann um Wähler. Tatsächlich öffnen sie
damit aber auch die Ventile dafür, daß Leute Israel-Kritik benutzen, um
Judenfeindschaft zu artikulieren: indem sie die israelische Regierung
mit den Juden in aller Welt gleichsetzen, oder indem sie sagen, "was die
Israelis mit den Palästinensern machen, ist genauso schlimm oder
schlimmer wie das, was die Nazis mit den Juden gemacht haben". Das ist
ein vollkommen schiefer und falscher Vergleich, aber er öffnet das
Ventil, jetzt Judenfeindschaft an einen Ort zu kanalisieren, wo sie
scheinbar legitim geäußert werden darf, und man läßt sich dann auch noch
als Tabubrecher feiern. Israel-Kritik ist erlaubt und wird geübt in
diesem Lande, wie ein Blick in jede beliebige Tageszeitung lehrt. Aber
diffamierende Schmähungen von Juden, also Antisemitismus, sind nicht
erlaubt und mit gesellschaftlichen Sanktionen belegt. Diese beiden Dinge
zu vermischen, ist die politische Brandstiftung, der sich Möllemann
schuldig gemacht hat.
Würden Sie darüber hinaus generell im Antizionismus, der ja nicht
nur in Deutschland existiert, sondern insbesondere auch im arabischen
Raum eine große Rolle spielt, nur eine Variante des Antisemitismus
sehen? Oder meinen Sie, daß man diese Phänomene auch begrifflich klar
trennen muß?
Man muß diese Begriffe sauber und klar trennen, genauso wie man
Antijudaismus, also die religiös begründete Judenfeindschaft, und
Antisemitismus, die rassistisch begründete Judenfeindschaft, trennen
muß. Das bedeutet aber nicht, daß nicht Antizionismus als eine Variante
des Antisemitismus auftreten kann und tatsächlich auch in diesem Sinne
derzeit auftritt. Wenn man arabische Judenfeindschaft vor Augen hat, ist
die Trennung zwischen Antizionismus und Antisemitismus eine rein
akademische Angelegenheit. Tatsächlich geht es um Feindschaft gegen
Juden, um Vernichtung und Auslöschung des Staates Israel, und da besteht
nur ein gradueller Unterschied zur rassistischen oder religiösen
Ausformung des Antisemitismus.
Die Kritische Theorie hat in der bundesdeutschen
Nachkriegsgesellschaft nach dem Holocaust das besondere Phänomen eines
sekundären Antisemitismus ausgemacht. Was verbirgt sich hinter dieser
Variante des Antisemitismus, und welche Bedeutung hat sie für die
Nachkriegsentwicklung?
Der sogenannte sekundäre Antisemitismus, also Judenfeindschaft nicht
trotz Auschwitz, sondern wegen Auschwitz, spielt die größte Rolle im
Spektrum deutscher Judenfeindschaft überhaupt. Der religiöse
Antijudaismus spielt in Deutschland eine geringe Rolle. Der rassistische
Nazi-Antisemitismus ist auch mehr oder weniger überwunden. Aber dieser
sekundäre Antisemitismus, also Feindschaft gegenüber Juden, die sich aus
Gefühlen von Scham und Schuld speist, sorgt für neues Ressentiment gegen
die Juden. Diese Variante der Judenfeindschaft macht sich daran fest,
daß die Juden viel zu viel Entschädigung oder Wiedergutmachung kassieren
würden, daß sie rachsüchtig seien und uns den Holocaust immer wieder bis
in alle Zeiten vorhalten würden, oder das unsere Enkel immer noch für
die Untaten der Urgroßväter bezahlen müßten. Diesen sekundären
Antisemitismus gibt es seit dem Ende des Nationalsozialismus und er ist
das eigentliche Problem der Judenfeindschaft in Deutschland.
Was unterscheidet den Antisemitismus von anderen rassistischen und
fremdenfeindlichen Ressentiments?
Antisemitismus unterscheidet sich auf den ersten Blick überhaupt nicht.
Antisemitismus ist nur die spezielle Ausformung des Vorurteils, das auf
dem Mechanismus gründet, daß die Mehrheit eine Minderheit ausgrenzt und
bestimmte Projektionen auf die Minderheit richtet, um die Minderheit als
Schuldige an unangenehmen Entwicklungen und als Verursacher sozialer
oder ökonomischer Schwierigkeiten in Anspruch zu nehmen. In diesen
Gesamtzusammenhang gehört Antisemitismus. Antisemitismus ist das älteste
soziale, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Vorurteil gegen eine
bestimmte Minderheit und damit auch das Lehrstück und Paradigma
schlechthin. Deswegen muß man aber nicht jede Form von
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus mit Antisemitismus gleichsetzen. Er
ist eine Spielart, die vielleicht bekannteste und wirksamste in der
Geschichte.
Haben die von Ihnen angesprochenen Projektionen gegenüber Juden
nicht dadurch eine besondere Qualität, daß Juden für alle Übel der
modernen Gesellschaft verantwortlich gemacht werden? Funktioniert der
Antisemitismus für den Antisemiten nicht dadurch als ein umfassendes
Weltbild und unterscheidet sich so von anderen Formen des Rassismus?
Er unterscheidet sich von anderen Formen, einfach, weil er bekannter
ist, weil er eine längere Tradition hat, weil man sich über die Chiffre
des Antisemitismus leicht verständigen kann. Aber die Wirkung und die
Methode, eine Minderheit zu stigmatisieren und auszugrenzen ist
dieselbe. Das funktioniert genauso mit Sinti und Roma, denen bestimmte
Eigenschaften zugeschrieben und die für bestimmte Übel in Anspruch
genommen werden.
Wolfgang Benz ist Historiker und Leiter des Zentrums für
Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, das im
Winter 20jähriges Bestehen gefeiert hat. Das Berliner Zentrum ist die
einzige europäische Forschungseinrichtung, die sich schwerpunktmäßig mit
dem Thema Antisemitismus auseinandersetzt.
Zuletzt sind von Wolfgang Benz erschienen: "Bilder
vom Juden - Studien zum alltäglichen Antisemitismus" (München,
2001), "Der Holocaust" (2001), "Geschichte
des Dritten Reiches" (2000), "Enzyklopädie
des Nationalsozialismus" (hrsg. zusammen mit Hermann Graml und
Hermann Weiß, 1997) und "Die
Juden in Deutschland" (Hrsg., 1996).