Nation, völkischer Nationalismus, eliminatorischer Rassismus:
Was von Franz Werfel gelernt werden kann
Von Max Brym Im Juli 2002
brachte der Fischer Verlag in dreizehnter Auflage den Roman "Die vierzig
Tage des Musa Dagh" heraus. Jenen Roman schrieb der 1890 in Prag
geborene Schriftsteller Franz Werfel. Mit der Arbeit am Roman begann
Werfel 1929, im November 1933 erschien er in Österreich und in der
Schweiz. Was verleitete einen Schriftsteller wie Franz Werfel dazu,
einen Roman der im Jahr 1915 im osmanischen Reich spielt zu schreiben ?
Dieses Werk wurde im März des Jahres 1929 bei einem
Aufenthalt in Damaskus entworfen. Das Jammerbild verstümmelter und
verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten,
gaben Werfel den entscheidenden Anstoß. In dem Roman wird das unfaßbare
Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich des Vergessens
entrissen. Werfel beschäftigt sich mit dem ersten Genozid im zwanzigsten
Jahrhundert. Jener wurde 1915 von der türkischen Armee inspiriert von
den jungtürkischen "Revolutionären" am armenischen Volk begangen. In dem
Roman beschreibt Werfel nicht nur die grausame Handlung, sondern
beschäftigt sich mit Fragen, die hierzulande die Linke im Jahr 2003
spalten und verwirren. Es geht um den Rassismus, nationale Unterdrückung
und nationale Identität. Es gibt unterdrückte
Nationen.
Diese einfache Feststellung, würde in Berlin, München oder
Hamburg manchen "Linken" im heutigen Deutschland aus der Haut fahren
lassen. Jener internationalistische "Linke" käme sofort mit dem
Verdacht, einem Nationalisten gegenüberzustehen. Etwas historische
Literatur kann in diesem Fall nur empfohlen werden. Die Hauptfigur in
Werfels Roman Gabriel Bargradin verschlug es in dem Werk eher zufällig
in das Gebiet Musa Dagh. Der vorher in Paris lebende Armenier verstand
sich als Weltbürger. Er hing den Gedanken der Aufklärung an und
betrachtete seine armenische Abstammung als biologischen Zufall. Sein
Aufenthalt im armenischen Heimatdorf gestaltete sich für den Weltbürger
mehr als dramatisch. Die ehemals von Bargradin mit Sympathie
betrachteten Führer der jungtürkischen Revolution zeigten auf
barbarische Art ihre chauvinistische Achillesferse. Unter ihrer
ideologischen Führerschaft entwickelte sich der erste Massengenozid im
zwanzigsten Jahrhundert. Der Weltbürger wurde wiederum zum Armenier und
entwickelte sich zum Kämpfer gegen die nationalistischen Mörder.
Dabei läßt ihn der Autor Franz Werfel darüber grübeln,
wie eine ursprünglich säkulare Bewegung (Die Jungtürken) derartig
degenerieren konnte. Die Antwort ist in dem Roman zu finden. Werfel
bescheinigt den Jungtürken, dass sie nur oberflächlich den europäischen
Gedanken der Nation annahmen. In Wirklichkeit hatte ihr Verständnis der
Nation nichts mit dem ursprünglichen französischen
Nationalstaatsgedanken zu tun. Die französischen Aufklärer verbanden die
nationale Parole mit der Souveränität des Volkes gegen die Privilegien
des Adels. Ihre Parole war "Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit". Der
völkische Biologismus der Rassismus war ursprünglich nicht in der
modernen Nationalstaatsgründung angelegt. Das völkisch rassistische
Element wurde hauptsächlich durch den antinapolonischen Widerstand in
den deutschen Staaten gegen das französische Kaiserreich entwickelt.
Fichtes Reden an die deutsche Jugend oder die Rolle des Turnvaters Jahn
belegen dies. Gegen den französischen Fortschritt und die Ideale der
Revolution wurde eine völkisch-rassistische Blutabstammungstheorie
gesetzt. Daraus sollte sich die Volksgemeinschaft gegen die
Andersartigen entwickeln.
Dieser völkische Nationalismus hatte bekanntlich in
Deutschland mörderische Folgen; vorher aber in Form eines Genozids an
den Armeniern in den Jahren 1915 bis 1916. Die Jungtürken hatten ein
völkisch biologistisches Verständnis der Nation, diese hatte zum Feind
eine ausgekochte "minderwertige Rasse", die Armenier. Durch diese
Ideologie wurden die Jungtürken zu Schlächtern. Sie bestätigten aber
auch am deutlichsten und zuerst in diesem Jahrhundert, dass es
unterdrückende und unterdrückte Nationen gibt. Der Kampf der letzteren
ist gerechtfertigt, besonders wenn sie einem Genozid ausgesetzt sind.
Was gilt es zu lernen ? Wer die Memoiren von
Marcel Reich-Ranicki gelesen hat, dem ist wenn er ihn nicht schon vorher
kannte, der Roman von Franz Werfel ein Begriff. Anschaulich beschreibt
Reich-Ranicki wie im Warschauer Ghetto über Kerzenlicht gebeugt einige
Juden den Roman lasen. Dabei weinten sie und erkannten sich wieder. Ihre
jüdische Identität erwuchs neuerlich aus der Tatsache, das sie das
mörderische NS-System zu Juden machte. Der Wunsch nach einem
Nationalstaat empfing hier seine stärksten Impulse. Der Genozid als
kollektive historische Erfahrung führte ganz entscheidend zur Gründung
des Staates Israel. Jeder der heute, egal in welcher Maskerade auch
immer, dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht ist ein schlecht
getarnter antisemitischer Chauvinist. Als Angehöriger der deutschen
Nation ist dieser Mensch sofern er einen deutschen Paß besitzt, Teil
einer privilegierten Nation. Er ist höchstens mit sozialen
Ungerechtigkeiten konfrontiert. Keinesfalls aber mit einer rassistischen
Unterdrückung. Es gibt auch keinen eliminatorischen "Antigermanismus"
einer antideutschen Macht.
Allerdings wird der Staat Israel von antisemitisch
eliminatorischen Kräften bedroht. Dies schließ eine Kritik an bestimmten
Praktiken des Staates Israel nicht aus. Geradezu grotesk mutet es an,
wenn ein Teil der deutschen "Linken" jede nationale Bewegung unter
reaktionären Generalverdacht stellt und andere nationale Bewegungen
vorbehaltlos unterstützen. Ein gutes Buch, wie das von Franz Werfel,
könnte hier hilfreich sein. Im historischen Kontext lernt man zu
unterscheiden zwischen barbarischem völkischen Rassismus und
gerechtfertigter nationaler Notwehr. Diese Methode ist legitim, gerade
für jene, die mit der gegebenen Realität nicht zurechtkommen. Es sollte
aber noch eine aktuelle Paradoxie wahrgenommen werden.
Die türkische Rechte bestreitet bis heute, das von Franz
Werfel beschriebene Massaker an den Armeniern sowie das Existenzrecht
Armeniens. Die türkische Linke tut dies nicht. Die extreme deutsche
Rechte versucht bis heute die Shoa zu leugnen oder zu relativieren. Die
deutsche Linke stellt sich dem entgegen. Weniger geschlossen hingegen
den modernen rechten Geschichtsrevisionisten. Jedoch gibt es in
Deutschland, im Gegensatz zur Türkei (Existenzrecht Armeniens), eine
inhaltliche Überschneidung zwischen Rechten und sogenannten Linken. Die
deutsche Rechte wie Teile der deutschen "Linken" bestreitet dem Staat
Israel das Existenzrecht. In diesem Fall kann auch eine fortschrittliche
Lektüre wie der Roman von Franz Werfel nicht mehr helfen.
hagalil.com
20-01-03 |