Das
Fahrrad als Waffe und Mythos:
Partisanen auf zwei Rädern
Im
Zweiten Weltkrieg mussten die Widerstandsbewegungen gegen die Nazis auf
den Drahtesel umsteigen - die Autos hatten die Deutschen konfisziert.
Einige Bruchstücke zur Vorgeschichte der Bikerkultur
Von
Helmut Höge
Als die Deutschen im Mai 1940 in
Frankreich einmarschierten, requirierten sie nach und nach alle
Privatautos. Um beweglich zu bleiben, mussten die Franzosen notgedrungen
auf Fahrräder steigen, das galt erst recht für die Widerstandsbewegung -
die Résistance, die mit dem hastigen Kleben kleiner Flugblätter, so
genannter Schmetterlinge, ihren Anfang nahm.
Die Deutschen und ihre Kollaborateure gingen
zunächst davon aus, dass es sich bei diesen "Terroristen" nur um eine
verhältnismäßig kleine Gruppe von Juden bzw. Kommunisten handelte. Im
Frühjahr 1942 mussten alle französischen Juden ihre Fahrräder und Radios
abgeben, außerdem wurde ihnen das Telefon abgestellt. Bei der ersten
Großaktion gegen sie, am 16. Juli 1942, wurden 13.000 Juden
festgenommen, anschließend konzentrierte man alle Kinder unter 16 und
ihre Eltern im Radrennstadion - Vélodrome dHiver - von Paris!
Der Rotkreuzschwester Sabine Zlatin gelang es,
den zwei Jahre alten Sohn einer zur Deportation abgeführten Jüdin in
ihrem Fahrradkorb zu verstecken und in Sicherheit zu bringen. Die
Ehefrau eines Partisanenführers, Ida Bourdet, schaffte es in einer
Verhörpause, mit ihren drei Kindern auf dem Fahrradgepäckträger zu
fliehen. Bei Verdacht auf Widerstand konfiszierten oder demolierten die
Besatzer die Fahrräder der Betreffenden. Umgekehrt boten die
kollaborierenden Pariser Modehäuser ihren wohlhabenden Kundinnen bald
"elegante Fahrradensembles" an. Gegen Ende der Okkupation war es fast
unmöglich geworden, sich noch ein Fahrrad zu besorgen, sodass die
Partisanengruppen (der Maquis) dazu übergingen, sie zu requirieren.
"In der Hauptstadt bedeutete ein Fahrrad,
nicht mit der Metro fahren zu müssen, wo es immer wieder zu Razzien
kam", schreibt Margaret Collins Weitz in ihrem soeben auf Deutsch (im
Unrast Verlag) erschienenen Buch "Frauen in der Résistance". Die Autorin
erwähnt darin zahlreiche Widerständlerinnen, die auf ihren "Tours de
France" hunderte von Kilometern per Fahrrad zurücklegten. So erledigte
die Ärztin Dr. Geneviève Congy, der die Deutschen erlaubt hatten, mit
dem Fahrrad ihre Patienten zu besuchen, nebenbei noch täglich diverse
Kurierdienste für den Maquis in der Region Brie-Comte-Robert. Die
Australasiatin Nancy Wake, die mit einem Fallschirm über Frankreich
abgesprungen war und sich dort einem Maquis angeschlossen hatte, legte
einmal in 72 Stunden 350 Kilometer zurück, um den Kämpfern ein Funkgerät
zu überbringen.
Eines der meistgelesenen Bücher über den
Widerstand - von der einstigen Kurierin Régine Deforges - hat den
bezeichnenden Titel "Das blaue Fahrrad". Ein anderes Buch über den
Widerstand gegen die Deutschen heißt "La Plastiqueuse à bicyclette". Die
Autorin, Jeanne Bohec, ist eine Chemikerin, die mit dem Fallschirm über
der Bretagne abgesprungen war und sich dort ein Fahrrad gekauft hatte,
mit dem sie die Partisanengruppen aufsuchte, um ihnen den Umgang mit
Sprengstoffen beizubringen. Im Süden Frankreichs gab es ganze
"Maquis-Schulen", wo die jungen Männer sich versteckten, um dem
Zwangsarbeitsdienst in Deutschland zu entgehen - währenddessen wurden
sie zu Partisanen ausgebildet. Ihre Verpflegung sowie Bewaffnung musste
mühsam mit Fahrrädern herangeschafft werden. Gelegentlich bekamen sie
Unterstützung von englischen Flugzeugen, die Ausrüstungen abwarfen.
Die Kurierin Denise Vernay berichtet, dass
einmal zwei Funkgeräte 150 Kilometer von ihrem Bestimmungsort entfernt
herunterkamen, die sie dann mit ihrem Fahrrad und einem Koffer abholte.
Um die Polizeisperren zu umgehen, trug Vernay ihr Fahrrad bisweilen über
die Felder, die Reifen waren anschließend wie zerfetzt. Auch die Frau
des späteren französischen Päsidenten, Danielle Mitterrand, die für eine
Organistion entflohener Kriegsgefangener arbeitete, war oft als Botin
mit dem Fahrrad unterwegs. In der Studie von Margaret C. Weitz über die
"Frauen in der Résistance", die sich leider allzu sehr auf prominente
"Terroristinnen" konzentriert, finden sich viele weitere
Fahrradgeschichten.
1928 hatte bereits ein
Aufstands-Anleitungsbuch der Komintern, das von den in Moskau lehrenden
Aufstandsspezialisten Wollenberg, Kippenberger, Togliatti,
Tuchatschewski und Ho Chi Minh herausgegeben wurde, das Fahrrad "bei der
Organisierung der ersten Kampfhandlungen" gewürdigt. Unter anderem ging
es dabei um eine rechtzeitige "Zuteilung für die Aufstandsleitung",
wobei zwischen "Radfahrern" (zur Weitergabe der Befehle an die
untergeordneten Truppenkommandeure) und Blanko-Fahrrädern (für
persönliche Fahrten der Leiter in das Kampfgebiet) unterschieden wurde.
In einem Roman über die italienische
Resistenza: "Der Untergrundkampf", den der Partisan Mario Tobino nach
dem Zweiten Weltkrieg schrieb - er wurde 1967 im DDR-Verlag Neues Leben
auf Deutsch unter dem Titel "Medusa" veröffentlicht -, ist davon die
Rede, dass auf einer Versammlung der Untergrundorganisation beschlossen
wurde, "Fahrräder zu stehlen". Man musste mobil sein, die meisten
Mitglieder waren jedoch zu arm, um sich ein Fahrrad leisten zu können.
Es gibt daneben noch einen weiteren Bericht -
des norditalienischen Partisanen Luigi Meneghello -, in dem das Fahrrad
als Kampfinstrument eine noch größere Rolle spielt. Seine Gruppe war
weniger proletarisch als bürgerlich geprägt. Meneghellos Roman wurde
1990 auf Deutsch im Wagenbach Verlag unter dem Titel "Die kleinen
Meister" veröffentlicht. Auch in Italien hatten die Deutschen einen
Großteil der Fahrzeuge und Benzinvorräte requiriert, den Rest rissen
sich die italienischen Faschisten unter den Nagel, sodass auch hier die
Bevölkerung und erst recht die Resistenza auf Fahrräder angewiesen war.
Zunächst gingen jedoch die widerstandswilligen jungen Männer, die fast
noch Schüler waren, nach der Kapitulation in die Berge, wo sich ihnen
entflohene Kriegsgefangene und englische Soldaten anschlossen. Von dort
schwärmten sie dann aber später - per Fahrrad - in die Ebene aus, um die
Leute in den Dörfern zu agitieren und den Aufstand zu organisieren: "Wir
fuhren los mit unseren munteren, neuen, auf Kedit gekauften Fahrrädern;
bald flitzten wir nordwärts, bald hinunter über die Riviera Berica, um,
sagen wir, nach Noventa zu fahren."
Die aktiven Widerständler konnten sich auf
eine Vielzahl von Unterstützern verlassen: "Sie nahmen uns gastlich auf,
sie ernährten uns, sie lieferten uns Fahrräder, sie nahmen Nachrichten
für uns in Empfang … Wenn ich ihnen dann in der dürren Winterlandschaft
mit meinem Rad näher kam, überlegte ich: ,Die Frage, die man nie stellen
darf: Wie viele sind wir eigentlich?' Ich glaube, ich bin in jenem
Winter mehr Rad gefahren als im gesamten Radfahrtraining meines Lebens."
Die Gruppe hatte keine direkten Vorgesetzten, aber es gab jemanden mit
Autorität: Franco. Er "war nicht in der Lage, weit zu Fuß zu gehen, aber
auf dem Fahrrad war er ein Gott; das Fahrrad war ein Teil seiner
Persönlichkeit, und daher entfaltete Franco seine Größe in dieser Phase
des Widerstands, der Phase des Fahrrads."
Als einige aus der Gruppe verhaftet werden,
ergibt sich noch einmal die Notwendigkeit, "eine lange Fahrt durch die
Provinz zu machen". Das war schon kurz vor Kriegsende. "Es mussten zwei
Leute sein; Simonetta und ich fuhren also los. Die Fahrt beginnt vor der
schiefen Fassade von Santa Sofia, wo wir verabredet waren. Es war am
Morgen; Simonetta sportlich elegant; ein schönes Damenfahrrad mit
Aluminiumfelgen und eine Pose auf dem Fahrrad, in der die Quintessenz
sportlicher Grazie steckt. Die Pose hatte sie selbst erfunden; später
verbreitete sie sich in ganz Italien, und die Leute, die für so was
einen Blick haben, verbinden sie, glaube ich, mit den italienischen
Mädchen der Nachkriegszeit. Die englischen Mädchen saßen in den ersten
Nachkriegsjahren ganz anders auf ihren Fahrrädern; ihre Pose war auch
schön, das muss man sagen; aber die italienische Pose war
unvergleichlich moderner. Erfunden von Simonetta" - der Partisanin.
Einer der ersten neorealistischen Filme - von
Vittorio De Sica - hieß dann nicht zufällig "Fahrraddiebe".
Die Deutschen mussten erst nach ihrem
verlorenen Krieg aufs Fahrrad steigen, wobei ihnen "der Russe" das
zunächst noch dadurch erschwerte, dass er jede Menge "Beuteräder"
einkassierte. Mit dem Wirtschaftswunder konnten sie dann aber langsam
umsatteln: erst auf Mopeds, dann auf Motorräder und schließlich auf neue
Pkws, die Jahr für Jahr immer größer und schicker wurden, zumindest im
Westen.
Mit der Alternativ- und Ökologiebewegung Ende
der Siebzigerjahre endete die kurze westdeutsche Résistance (von "68"),
dafür erlebte jedoch das Fahrrad eine Renaissance. Einmal kam es dabei
noch zu einem Terrorakt - gegen den Chef der Deutschen Bank, Alfred
Herrhausen, den die RAF mit einem Fahrrad voller Plastiksprengstoff
ferngezündet ermordete. Mit dem Boom des Fahrrads, das nun Mountainbike
genannt und mit immer mehr Schnickschnack bis hin zu Bikerwear garniert
wurde, stieg auch hierzulande die Zahl der Fahrraddiebe. Ende der
Achtzigerjahre boten sie in Kreuzberg die Räder für 100 Mark mit der
Versicherung an: "Garantiert in Zehlendorf geklaut!". Bald waren dort
die Fahrradschlösser teurer als (geklaute) Fahrräder.
Überhaupt boten die vielen neu entstandenen
Fahrradshops ständig neue "Innovationen" an, und auf dem Berliner
Stammtisch des Erfinderverbandes diskutierte man schon bald mehr Patente
für Fahrräder als für andere Fortbewegungsmittel - zum Beispiel einen
Fahrradanhänger, der sich mit ein paar Griffen zu einem Ein-Frau-Zelt
ausklappen ließ, Tandems für ganze Kleingruppen, Überrollbügel und so
weiter.
Nach der Wende begeisterten sich auch immer
mehr Ostler für diese modisch gewordene "Biker-Kultur", und die PDS
holte den DDR-Radrennmeister Täve Schur aus der Versenkung, um ihn bei
der Bundestagswahl 1998 ins Rennen zu schicken. Gleichzeitig wurde in
der Ex-DDR der Ausbau der Radwege forciert und die Radurlaube wurden
gesamtdeutsch immer beliebter. Parallel dazu werden immer mehr
Großbild-Diavorträge angeboten - über Radtouren etwa durch Sibirien,
durchs wilde Kurdistan oder nach Bali. In Berlin-Friedrichshain gründete
sich ein "Liegeräder-Treff", und die taz-Berlin hob eine regelmäßige
"Fahrrad-Beilage" ins Blatt, die demnächst überregional erscheint. Dort
ist von den letzten Fahrrad-Neuigkeiten die Rede, über die auch der
Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC) auf seinen Internetseiten
berichtet: Termine für Fahrraddemos, neue Diebstahlsicherungssysteme,
Routen für Fahrradausflüge etc.
Im ADFC artikuliert sich sozusagen die
Avantgarde der Radfahr-Bewegung, deren heimliches Zentrum Münster ist:
Nirgendwo in Deutschland gibt es mehr Fahrräder als hier. Das
Fahrradland Holland ist gleich um die Ecke. Dort gab es in den
Sechzigerjahren bereits einen Versuch - der anarchistischen Kabouters -,
das Fahrrad zum unklaubaren Gemeingut zu erheben. Dazu wurden überall in
Amsterdam weiße Fahrräder hingestellt, die jeder nach Belieben benutzen
konnte. Sie hatten kein Schloss und es galt als asozial, sie mit ins
Haus zu nehmen.
Ende der Siebzigerjahre versuchte ein Bremer
CDU-Politiker Ähnliches von oben einzuführen: Dazu wurde in einer leeren
Bremer Fabrik eine große Fahrradwerkstatt auf ABM-Basis eingerichtet,
die mit einer stillgelegten Werft kooperierte und von der Polizei mit
ausrangierten Mannschaftswagen ausgestattet wurde. Die Werkstatt
sammelte kaputte Fahrräder ein, reparierte sie und stellte sie wieder
ins Freie, wo jeder sie benutzen konnte. Das Experiment scheiterte
daran, dass die Fahrräder schneller privatisiert wurden, als die
Werkstatt neue vergesellschaften konnte oder wollte.
In der katholischen Fahrradstadt Münster gibt
es ein ganz anderes Problem. Der Historiker Biblab Basu, ein
bengalischer Gewerkschafter, der sich in allen möglichen Berliner
Basisbewegungen engagierte, sagt es so: "Als die Radfahrer sich hier
organisierten, um für mehr und bessere Radwege zu kämpfen, habe ich mich
natürlich sofort mit ihnen solidarisiert und auch mitgemacht. Aber
ziemlich schnell habe ich gemerkt, dass es denen eigentlich gar nicht
darum ging, gegen die Stärkeren - die Autos und deren Straßenraum -
vorzugehen, sondern dass sie sich nur wieder mal auf Kosten der
Schwächeren - der Fußgänger - durchsetzen wollten. Da habe ich mich dann
zurückgezogen."
Die Speerspitze dieser ebenso reaktionären wie
für die Fußgänger gefährlichen Biker-Bewegung, das sind die deutschen
Fahrradkuriere! Und damit hat sich der einstige revolutionäre Widerstand
- der Fahrradkuriere in der Résistance - komplett in sein Gegenteil
verkehrt.
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21-01-03 |