In der britischen akademischen Community mehren
sich Stimmen, die Israel intellektuell isolieren wollen
Von Floyd Witherspoone
Jungle World, 24.12.2002
Boykott. Mehr als hundert europäische Wissenschaftler haben sich im
April in der britischen Zeitung The Guardian für ein "Moratorium der
europäisch-israelischen Wissenschafts- und Kulturbeziehungen"
eingesetzt. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(BBAW) hat sich strikt gegen eine Unterbrechung der Beziehungen zu
israelischen Wissenschaftlern ausgesprochen.
Großbritannien ist die Heimat des linksliberalen Bürgersinns, und der
hat seine eigenen Kampfmittel. Wer Gemüse genetisch manipuliert, Füchse
jagt und Maschinenöl in die Irische See schüttet, dem schlägt der
geballte Zorn der konflikterprobten Zivilgesellschaft entgegen. Da wird
demonstriert, da werden Empörungsbriefaktionen gestartet, die bei den
Adressaten tatsächlich die sprichwörtlichen Waschkörbe füllen. Mit
Vorliebe aber wird getan, was am bequemsten ist, weil es nur eine
Unterlassung kostet und dennoch gestattet, den Traum vom Kapitalismus
ohne moralischen Makel zu träumen: Es wird boykottiert.
Für das Gefühl, etwas Gutes für Mutter Natur getan zu haben, nimmt man
die anderthalb Meilen Umweg zur ethisch momentan angesagten Tankstelle
gerne in Kauf, und was macht es schon aus, ob man seinen Burger unter
den zwei gelben Bögen kauft oder um die Ecke bei der Konkurrenz, die
nicht nur das Geschäftsprinzip haarklein kopiert, sondern auch die
Zubereitungsart?
Als Mutter aller Boykotte gilt die Sanktion Südafrikas während der
Apartheid, mit der die britische Zivilgesellschaft nach eigener Ansicht
erfolgreich zum Sturz des Botha-Regimes beigetragen hat. Und da ist man
schon mittendrin in den Schwierigkeiten. Der bildungsbürgerliche
Aktionismus ist nämlich selten gepaart mit einem gleich hohen Maß an
Analysefähigkeit.
Es ist also kein Wunder, dass die Boykottgemeinde, die seit dem
Systemwechsel am Kap vor nunmehr sieben Jahren auf der Suche nach einem
ansprechenden Nachfolgeprojekt war, auf eine der dümmsten Losungen des
antizionistischen Mainstreams hereingefallen ist und im vergangenen
Frühling in der Politik der israelischen Regierung eine neue Apartheid
zu erkennen glaubte. An die Spitze der Bewegung setzte sich schnell ein
Bündnis von linksliberalen Akademikern. Die meisten von ihnen verlangen
nicht weniger als eine intellektuelle Isolierung Israels, und es sieht
so aus, als könnten sie mit diesem Anliegen sogar einigermaßen Erfolg
haben.
Anfang April ging alles los mit einem Brief, den das Professorenehepaar
Hilary und Steven Rose verfasste und der die Unterschrift von 123
weiteren Akademikern trug: "Viele staatliche und europäische Kultur- und
Forschungseinrichtungen betrachten Israel als europäischen Staat, was
Vertragsabschlüsse und die Vergabe von Fördermitteln angeht. Wäre es
nicht angemessen, wenn ein Moratorium über jegliche Unterstützung dieser
Art verhängt würde, bis sich Israel an die UN-Resolutionen hält und
ernsthafte Friedensgespräche mit den Palästinensern eröffnet?"
Der Brief, den der Guardian am 6. April veröffentlichte, war vorsichtig
formuliert, die politische Aussage ergibt sich jedoch aus den
Auslassungen. Es stand nicht darin, dass die israelische Regierung am
wiederholten Scheitern von Friedensverhandlungen allenfalls eine
Teilschuld trifft; dass es Selbstmordanschläge gibt und was dagegen zu
tun wäre; es stand nicht darin, dass es gute - nämlich so genannte
historische - Gründe gibt, warum Israel als europäischer Staat
betrachtet werden sollte; und es wurde natürlich auch nicht ein Boykott
ausgerechnet der Universitäten und Forschungsinstitute in Frage
gestellt, die als Hort der Opposition gegen die Militärpolitik der
israelischen Regierung gelten.
Zu den 125 Erstunterzeichnern kamen in den vergangenen Monaten 500
weitere hinzu. Und der moralische Impetus wich immer mehr dem
offensichtlichen Antisemitismus. Als erstes ging die Selbstverpflichtung
über Bord, "weiterhin auf individueller Basis mit israelischen
Wissenschaftlerkollegen zusammenzuarbeiten und sie einzuladen".
Da entfernte Sue Blackwell, eine Englisch-Lektorin aus Birmingham und
Unterzeichnerin der Rose-Petition, alle Links zu israelischen
Institutionen von ihrer Website. Da erhielt Oren Yiftachel, ein
israelischer Wissenschaftler, Stammautor der Zeitschrift Political
Geography, seinen Artikel im ungeöffneten Umschlag zurück, auf den der
Kommentar gekritzelt war, Einsendungen aus Israel könnten künftig nicht
mehr berücksichtigt werden. Natürlich zählt David Slater, der
Herausgeber der Zeitschrift, zu den Unterzeichnern der Rose-Petition.
Nach einem sechsmonatigen Briefwechsel teilte er Yiftachel kürzlich
mit, man werde seinen Artikel drucken, vorausgesetzt, er überarbeite ihn
noch einmal gründlich. Insbesondere an einem Vergleich zwischen Israel
und dem südafrikanischen Apartheidsregime sei man interessiert.
Im Juni warf die am University of Manchester Institute of Science and
Technology (Umist) beschäftigte Sprachwissenschaftlerin Mona Baker -
auch sie eine Unterzeichnerin der Petition - die beiden israelischen
Wissenschaftler Gideon Toury und Miriam Shlesinger aus dem
Beratungsgremium der von ihr herausgegebenen Zeitschriften The
Translator und Translation Abstract Studies.
Baker machte deutlich, dass es ihr nicht um die beiden Wissenschaftler
persönlich gehe. Sie erging sich gegenüber dem Guardian sogar
tränenreich darüber, welch ein "warmherziger Mensch" Shlesinger doch
sei, schrieb aber in einem Brief an sie, ihre Auslegung der
Rose-Petition mache es ihr "unmöglich, mit Repräsentanten israelischer
Universitäten zusammenzuarbeiten". Die Roses als Initiatoren der
Petition bestärkten sie darin lautstark. Shlesinger, die auch schon
Vorsitzende der israelischen Sektion von amnesty international war, gilt
übrigens wie Yiftachel als profilierte Kritikerin der Besatzungspolitik.
Bald schlossen sich auch einzelne berufsständische Verbände dem
Boykottaufruf an: Natfhe, der Nationale Verband der Lehrer an höheren
Bildungsanstalten, forderte diese dazu auf, "alle akademischen
Verbindungen, die sie nach Israel haben, zu überdenken und
gegebenenfalls einzustellen". AUT, der Verband der Hochschullehrer,
schloss sich alsbald an. Zwischen den Studentengruppen an den
Universitäten wachsen die Spannungen. Einzelne Studentenvereinigungen,
die in der Regel die Mensen und Caféterias betreiben, haben einen
Boykott israelischer Nahrungsmittel beschlossen; im Effekt bedeutet das,
dass es hier auch keine koscheren Lebensmittel mehr gibt.
Der Ton wird immer aggressiver. Im September bezeichnete Professor
Michael Sinnott, der wie Baker in Manchester unterrichtet, Israel als
"Spiegelbild des Nationalsozialismus". Kurz darauf kam die
Entschuldigung. Die Äußerung in einer E-Mail an den Harvard-Professor
Stephen Greenblatt sei ihm "in der Hitze des Augenblicks
herausgerutscht", weil er so erzürnt sei über eine "Kampagne der
Presse-Aufwiegelung" gegen Mona Baker, hinter der er das internationale
Judentum in der Person Greenblatts vermutete.
Die britische Regierung distanzierte sich deutlich von dem Boykott. Die
Bildungsministerin, Estelle Morris, bezeichnete "jegliche
Diskriminierung aufgrund von Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit oder
Religion ganz einfach als nicht akzeptabel." Premierminister Tony Blair
sagte, er finde den Boykott "abstoßend".
Unmerklich scheint die Unterstützung für den Boykott dennoch beständig
anzuwachsen. Israelische Studentenvereinigungen klagen, es sei schwierig
geworden, einen Gutachter für Diplomarbeiten in Großbritannien zu
finden. Institute berichten, dass viele Wissenschaftler die Teilnahme an
Konferenzen absagen, wobei häufig nicht politische Vorbehalte, sondern
Sicherheitsbedenken vorgebracht werden.
Oft wird wohl der Weg des geringsten Widerstands gesucht. Den Israelis
erzählt man, man komme wegen der Selbstmordanschläge nicht zur
Konferenz, den Kollegen zu Hause sagt man, man fahre nicht in den
"Apartheidsstaat Israel", und brüstet sich damit der Teilnahme an einem
Boykott, der die Realität der Selbstmordanschläge gerade ausblendet.
Hauptsache, man hat nach seinem Gewissen gehandelt.