Ulla Jelpke
Junge Welt, 19.12.2002
Neues Gezerre um die Zuwanderungsbegrenzung steht bevor. Der Zweite
Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) entschied am Mittwoch, daß
das Zuwanderungsgesetz der SPD/Grünen-Bundesregierung verfassungswidrig
zustande gekommen ist. Die Richter gaben den sechs unionsgeführten
Ländern recht, die mit einer Normenkontrollklage nach Karlsruhe gezogen
waren. Das Verfassungsgericht entschied ausschließlich über die
umstrittene Stimmabgabe des Bundesrates im März diesen Jahres und nicht
etwa über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes selbst. Der seinerzeit
amtierende Bundesratspräsident und Regierende Bürgermeister von Berlin,
Klaus Wowereit (SPD), hatte damals das gespaltene Votum Brandenburgs als
Zustimmung gewertet.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist eine Ohrfeige für
Wowereit, eine schwere Niederlage für die Bundesregierung und ein
unverdienter Sieg für die CDU/CSU. Für Flüchtlinge und Migranten war das
Gesetz von Anfang an ein fauler Kompromiß. Ihre ursprüngliche Position
hatten sich SPD und Grüne auf Druck der Union bis zur Unkenntlichkeit
verbiegen lassen. Eigentlich schon Grund genug, dieses
Zuwanderungsgesetz abzulehnen.
Jetzt, da die Entscheidung gefallen ist und Regierung und Opposition
einen neuen Kompromiß auszukungeln haben, drohen den Betroffenen weitere
Verschärfungen. Denn immerhin war in dem Gesetz die Anerkennung der
geschlechtspezifischen und nichtstaatlichen Verfolgung als Fluchtgrund
festgeschrieben. Natürlich wurde dieser Punkt von den zahlreichen und
gewichtigeren negativen Kehrseiten des Gesetzes deutlich in den Schatten
gestellt. Etwa durch die stärkere Benachteiligung von Kindern durch die
Herabsetzung des Nachzugsalters auf zwölf Jahre, die fehlende Umsetzung
der UN-Kinderrechtskonvention, die Ausdehnung der sozialen Ausgrenzung
durch das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verweigerung des
Abschiebeschutzes für bestimmte Gruppen, die Verschärfung der
Abschiebung durch sogenannte Ausreisezentren sowie die Ausweitung der
Residenzpflicht. Ganz zu schweigen von der Grundtendenz des Gesetzes,
Einwanderung vornehmlich nach Maßstäben der wirtschaftlichen
Verwertungslogik zu regulieren, will heißen zu begrenzen.
Nach der Entscheidung appellierten Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften
und Kommunen einhellig an Bundestag und Bundesrat, rasch zu einem
Konsens zu finden. Die Gegensätze der Parteien "sind nicht
unüberbrückbar", ließen etwa die Kirchen verlauten. Ein
"arbeitsmarktorientiertes Zuwanderungsgesetz" und den "Abschied vom
Anwerbestopp" klagten führende Vertreter der Wirtschaft ein. "Mittel-
und längerfristig sei der Mangel an Fachkräften nur mit Zuwanderung
abzuwenden", erklärte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen
Industrie (BDI), Michael Rogowski. Es soll dabei bleiben, Einwanderung
auch künftig nach dem Nützlichkeitsprinzip zu gestalten.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) forderte die Bundesregierung auf,
die ursprüngliche Gesetzesvorlage in bestehender Fassung neu
einzubringen. Ebenso will auch Innenminister Schily verfahren, wobei er
der Union bereits Gesprächs- und Kompromißbereitschaft signalisierte.
Die Union machte ihrerseits unmißverständlich klar, daß es mit ihr weder
Zuwanderung aus humanitären, geschlechtsspezifischen Motiven noch die
Aufhebung des Anwerbestopps für Arbeitsmigranten geben wird. Letzteres
ist gleichbedeutend mit einer deutlichen Absage an das Bleiberecht für
lange in Deutschland lebende Migranten und einer Verschärfung der
ohnehin schon menschenverachtenden Abschiebepraxis. Zugleich kann davon
ausgegangen werden, daß das Thema in Hessen und Niedersachsen als
Wahlkampfschlager mit rassistischen Tönen mißbraucht werden wird.
Menschenrechtsorganisationen haben das Karlsruher Urteil unterdessen als
Chance gewertet. Amnesty International beschwor die Bundesregierung,
sich von der Union keinesfalls die Regelungen zur nichtstaatlichen und
geschlechtsspezifischen Verfolgung abhandeln zu lassen. Pro Asyl
forderte, daß "der Weg nun über Europa gehen muß", und appellierte an
das Innenministerium, "seine Widerstände gegen europäische
Richtlinienentwürfe aufzugeben".