Politische Vergleiche mit der Zeit des
Nationalsozialismus haben Konjunktur. Denn die besseren Opfer sind nun
mal die Deutschen.
Von Richard Gebhardt
Jungle World, 24.12.2002
Davidstern. In der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 hieß es:
"Juden (...), die das sechste Lebensjahr vollendet haben, ist es
verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne einen Judenstern zu zeigen.
(...) Er ist sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstücks fest
aufgenäht zu tragen." Im besetzten Polen war das Tragen des Sterns
bereits 1939 Pflicht.
Christoph Stölzl, der Vorsitzende der Berliner CDU, fühlt sich
angesichts des rot-grünen Wahlsiegs an die "Machtergreifung" erinnert,
der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) bezichtigt die
israelische Armee eines "hemmungslosen Vernichtungskriegs", die
ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) vergleicht die
Methoden George W. Bushs mit denen Adolf Hitlers. Man mag angesichts
dieser aktuellen Häufung von NS- Vergleichen die jüngste "Entgleisung"
des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) als eine unter
vielen abtun. Zudem glaubt selbst Koch wohl nicht ernsthaft an eine
Bundeskristallnacht, in welcher der tobende Sozialamtsmob, angeführt vom
Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske, die Reichen überfällt und ermordet.
Interessant ist jedoch die Frage, warum die Vergleiche mit der NS-Zeit
eine derartige Tradition haben. Im Jahr 2000 leistete bereits ein
Gefährte Kochs, der ehemalige Kassenwart der hessischen CDU, Prinz
Casimir zu Sayn-Wittgenstein, einen herausragenden Beitrag, als er in
der Spendenaffäre seiner Partei behauptete, das Schwarzgeld stamme aus
"Vermächtnissen von in der Schweiz verstorbenen Juden".
Als in den achtziger Jahren der damalige Trainer des VfB Stuttgart,
Egon Coordes, heftige Kritik wegen mangelnder sportlicher Erfolge
einstecken musste, fühlte er sich verunglimpft. "Die Hetzkampagnen gegen
mich erinnern mich an die Personenverfolgungen in den schlimmsten NS-
Zeiten", empörte sich Coordes. "Ich kann jetzt nachempfinden, was die
von der Kristallnacht Betroffenen mitmachen mussten."
Diese Äußerung schien seinerzeit eher ein Fall für den Psychoanalytiker
denn ein Gegenstand politischer Kritik zu sein. An Martin Walsers
Geisteszustand wurde über zehn Jahre später nicht gezweifelt, als er auf
seine Beziehung zum Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki angesprochen
wurde und antwortete: "Die Autoren sind die Opfer, und er ist der Täter.
Jeder Autor, den er so behandelt, könnte zu ihm sagen: Herr Reich-
Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude."
Für seine Rede in der Frankfurter Paulskirche erntete Walser Zustimmung
von der FAZ ebenso wie von der Nationalzeitung, und anschließend führte
er sich auf wie ein Dissident mit Schreibverbot. Die Schriftstellerin#
Monika Maron sprang ihm in der Zeit zur Seite, als gelte es, Salman
Rushdie vor der Fatwa zu retten. Auch der Sozialdemokrat Klaus von
Dohnanyi verteidigte Walser, indem er sagte, dass die "jüdischen Bürger"
sich fragen lassen müssten, "ob sie sich so sehr viel tapferer als die
meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 'nur' die
Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager
geschleppt worden wären".
Die "gründlich zivilisierten" Deutschen, wie Antje Vollmer sie nannte,
haben mittlerweile gelernt, Kriege für die Menschenrechte zu führen, und
wollen nicht mehr von der Weltöffentlichkeit am "Nasenring" (Armin
Mohler) über das diplomatische Parkett gezogen werden. Die Quarantäne
ist beendet, statt ewiger Rückschau haben die unverkrampften
Zukunftsmacher das Wort. Da wird auch das Holocaust-Denkmal zu einem
Ort, zu dem man "gerne hingehen" soll, wie es sich Bundeskanzler Gerhard
Schröder wünscht.
Die Jahrzehnte der Bonner Republik erscheinen nur noch als Interregnum,
als eine Zeit selbst auferlegter Bußrituale. Deutschland,
"wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg", wie der frühere
US-Außenminister Henry Kissinger spottete, fühlte sich als Sträfling der
Geschichte, von fremden Erinnerungen zum Bückling genötigt. Nicht anders
ist die Klage zu verstehen, nun müsse auch endlich über Dresden, den
Untergang der "Wilhelm Gustloff" und das Schicksal der
Heimatvertriebenen geredet werden - als hätte es Volkstrauertage, den
Altnazi Theodor Oberländer als Vertriebenenminister unter Konrad
Adenauer und die Zuwendungen in Millionenhöhe für die Schlesierverbände
nie gegeben.
Während die Mehrheit der deutschen Schülerinnen und Schüler mit dem
Namen Treblinka nichts anzufangen weiß, soll die deutsche Opferrolle
endlich gewürdigt werden, die lästige Geschichte wird durch Vergleiche
von Hitler mit Ariel Sharon oder George W. Bush im Ausland entsorgt.
Mit einem beispiellosen Geschichtsboom wurde zur kulturgewerblichen
Einordnung des Nationalsozialismus und zur Aufwertung der
"traumatisierten" Täter beigetragen, während auf der außenpolitischen
Ebene die "Normalisierung" vorangetrieben wurde. Nicht "Nie wieder
Faschismus, nie wieder Krieg!" ist der Leitspruch der Stunde, sondern:
Nie wieder Auschwitz im Ausland! Von den deutschen Verbrechen sollen
endlich auch die anderen etwas zur Bewältigung ihrer Geschichte lernen:
sei es Hiroshimas, des Gulags oder der israelischen Besatzung.
Die Mär von der Selbstgeißelung der deutschen Seele konnte allein durch
die Verwechslung der veröffentlichten mit der öffentlichen Meinung
entstehen. "Vergangenheitsbewältigung" ist ein Ritual, das wenig über
das tatsächliche Wissen über die Geschichte in der Bevölkerung verrät.
Deutsche Soldaten, Kämpfer der Waffen-SS und ausgebombte Kriegerwitwen
haben ihr Forum beim ZDF-Historiker Guido Knopp. Deren Erinnerung im
Format von Landserheftchen hatte selbstverständlich niemals etwas mit
dem Gedenken an die Shoah zu tun. War im Familiengespräch je die Rede
von den Pogromen, den Lagern, den displaced persons? Galt das Verbot
antisemitischer Äußerungen je im privaten oder halb öffentlichen Raum
der deutschen Trachten-, Traditions- oder Schützenvereine?
Die Rücksichten, die einst noch zu nehmen waren, haben ihre Bedeutung
verloren. Roland Koch, der sich angeblich nur "vergaloppierte", wählte
mehr als nur ein drastisches Mittel im Eifer des Gefechts. Hinter der
Identifikation mit den verfolgten Juden steckt ein ganz eigener
Lustgewinn am Opferstatus: Wir - die Deutschen, die Reichen, die
nonkonformen Intellektuellen - sind seit Versailles und der
"Siegerjustiz" die eigentlichen Opfer der Geschichte, der moralische
Paria Europas, ständig bedroht vom politisch korrekten Tugendterror.
"Die Deutschen haben die Juden so gut versteckt, dass sie sie nach dem
Krieg nicht mehr wiedergefunden haben", sagte der Publizist Eike Geisel
einmal. Dieser Satz enthält mehr Wahrheit über das "deutsch-jüdische
Verhältnis" als sämtliche Sonntagsreden der vergangenen Jahrzehnte, in
denen die Deutschen "endlich ein normales Volk" wurden. Denn was ist in
Deutschland schon normal?
Normal ist, wenn Otto Schily von Heimatvertriebenen bei der Erwähnung
nationalsozialistischer Verbrechen ausgebuht wird. Normal ist, wenn
Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) dem Vorsitzenden des
Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, zum Friedensprozess
in Israel gratuliert. Normal ist, wenn Synagogen in Deutschland unter
Polizeischutz stehen. Normal ist, wenn deutsche Hundehalter die Auflagen
für ihre Pitbulls mit der Judenverfolgung vergleichen.
Es ist schon wahr, die Deutschen haben die Juden gut versteckt. Sie
werden ausgegraben, wenn man sich ihrer bedienen will: für die
Opferpose, zur Demonstration der "Wiedergutwerdung" und zur Denunziation
des politischen Gegners. Um den Haushalt nach den Vorstellungen der SPD
zu sanieren, müsse man "einen reichen Juden totschlagen", sagte Graf von
Spee, der christdemokratische Bürgermeister von Korschenbroich, im Jahr
1986. Die Sammlung solcher NS-Vergleiche ist reichhaltig. Sich ihrer zu
bedienen, hat von links bis rechts eine lange Tradition. Es fragt sich
nur, wer als nächster Wiedergänger Hitlers entdeckt wird.