Antisemitismus und Normalität:
Kochs "Vergaloppieren" folgt alten Grundmustern
Von Wilfried Wolf
Junge Welt, 20.12.2002
"Was wir nicht brauchen, ist Sparen zugunsten der Familie
Holtzbrinck mit einem geschätzten Familienvermögen von fünf bis sechs Milliarden
Euro." Mit dieser Aussage untermauerte der ver.di-Bundesvorsitzende Bsirske die
Forderung seiner Gewerkschaft nach einer dreiprozentigen Lohn- und
Gehaltserhöhung und der Wiedereinführung einer Vermögenssteuer.
Doch wenn in unserem Land die Gefahr droht, daß Vernunft und
Logik zuungunsten der großen Konzerne, Banken und der Superreichen formuliert
werden, dann wird oft nahezu reflexhaft die antisemitische Klaviatur bedient.
Roland Koch äußerte im hessischen Landtag, Bsirskes Namensnennung superreicher
Menschen sei "eine neue Form von Stern an der Brust". Mit dieser Gleichsetzung
von Stigmatisierung durch den Davidstern als Vorbereitung für den Gastod und
namentlicher Nennung Superreicher als Begründung für die Rückverteilung von oben
nach unten hat sich der hessische Ministerpräsident nicht, wie er sagte,
"vergaloppiert". Die Financial Times Deutschland erkannte darin zu Recht "Kochs
bewährtes Wahlkampfrezept". Wie Möllemann es nach seinen antisemtischen
Ausfällen im Bundestagswahlkampf vorexerziert hatte, so handelte nun auch Koch,
als er sich nach seinem Landtagsauftritt nicht beim Zentralrat der Juden
entschuldigte – sondern beim ver.di-Vorstandsvorsitzenden, den er nicht habe
"verletzen wollen".
Dieser Vorgang im hessischen Landtagswahlkampf 2002 greift auf
perfiden Art antisemitische Grundmuster auf: Armut und niedrige Einkommen kommen
vom jüdischen Reichtum" – und nicht von der kapitalistischen Klassenspaltung und
Umverteilung. Seit geraumer Zeit wird diese Nazitradition fortgesetzt. Als es
1986 um die Übernahme der Flick-Aktien durch die Deutsche Bank und die Forderung
nach einer Entschädigung der Zwangsarbeiter ging, äußerte der
CSU-Bundestagsabgeordnete Fellner, "die Juden" seien "immer schnell dabei, wenn
in deutschen Kassen Geld klimpert". Im selben Jahr hatte der damalige
Bürgermeister von Korschenbroich, Graf Spee, erklärt, der städtische Haushalt
könne nur ausgeglichen werden, "wenn ein paar reiche Juden erschlagen" würden.
1997 ätzte der CSU-Bundestagsabgeordnete Zeitlmann, die Bundesrepublik
Deutschland habe "genug eigene Probleme"; da werde man "Herrn Bubis doch wohl
noch fragen dürfen: Wieviel (zugewanderte) Juden braucht ihr denn noch?" Kurz
nachdem Roland Koch 1999 erstmals hessischer Ministerpräsident wurde und sein
CDU-Landesverband im Zentrum der "Bimbes-Affäre" stand, erklärte der damalige
CDU-Schatzmeister die Herkunft der Gelder in den schwarzen Kassen des
CDU-Landesverbands damit, daß es sich hier um Vermächtnisse aus jüdischen
Kreisen handle. Als dies als glatte Lüge aufflog, argumentierte derselbe
Sayn-Wittgenstein: "Es hätte aber sehr gut sein können, daß jüdische Mitbürger
bei einem Todesfall sich doch ihrer alten Stadt Frankfurt ... erkenntlich zeigen
wollten."
Dies ist ein weiteres Grundmuster des neuen Antisemitismus: Die
Juden könnten sich endlich "erkenntlich zeigen" – jedenfalls nach ihrem Tod. Der
Vorwurf des Antisemitismus könne nicht ewig erhoben werden; es müsse endlich
"Normalität" einkehren.
Während Koch die antisemitische Klaviatur benutzt, um den Krieg
im Inneren – gegen die Gewerkschaften – zu führen, wird im drohenden Irak-Krieg
die "Normalität zwischen Juden und Deutschen" eingeklagt bzw. die deutsche
Schuld gegenüber der jüdischen Bevölkerung dazu genutzt, um den Krieg nach außen
zu rechtfertigen. Bereits im Mai 2002 äußerte der damalige Verteidigungsminister
Scharping in dem in New York erscheinenden jüdischen Blatt Aufbau: "Wir sind
leider so weit (von einer Friedenslösung) entfernt, daß wir uns dazu" – über den
möglichen Einsatz von Bundeswehrsoldaten in einer internationalen Friedenstruppe
im Nahen Osten – "keine Gedanken machen müssen." Ein halbes Jahr später und
inmitten der Vorbereitungen auf einen Krieg gegen den Irak, bei welchem Israel
Teil des "Bündnisses gegen den Terrorismus" ist, macht sich die Berliner
Regierung dazu mehr als "Gedanken": An Israel werden deutsche Patriot-Raketen
geliefert; die Lieferung von Fuchs-ABC-Panzern ist laut Bundesregierung "kein
Problem"; eine Lieferung von "Fuchs-Transportpanzern" wird "ernsthaft geprüft".
Grundsätzlich, so Kanzler Schröder, gelte, daß die Deutschen "beim Schutz der
jüdischen Bevölkerung eine besondere Verantwortung" haben.
Koch und Schröder beuten auf unterschiedliche Weise das
deutsch-jüdische Verhältnis aus. Doch beide Male wird die Verantwortung vor der
deutschen Geschichte zynisch geleugnet. Beide Male geht es um die Durchsetzung
einer reaktionären und antidemokratischen Politik.
hagalil.com
22-12-02 |