Kommentar:
Der Mord in Potzlow war eine antisemitische Tat
Der Mord an dem
16-jährigen Schüler Marinus S. ging durch die Schlagzeilen und die
Gesellschaft zeigt ihre übliche Hilflosigkeit in puncto
Rechtsextremismus.
In den Schlagzeilen der
seriösen und der weniger seriösen Presse war das Tatmotiv scheinbar
klar. Marinus wurde ermordet, weil seine Täter aus dem rechtsextremen
Spektrum in ihm einen Hip-Hopper sahen. Also einen Repräsentanten einer
Jugendkultur, die sich als eine der wenigen Subkulturen bisher
weitestgehend immun gegen rechtsextreme Vereinnahmungen erwiesen hat.
Damit war den drei direkt an der Tat Beteiligten ihr Opfer ein
vermeintlicher Linker. In der Regel bezeichnen
Rechte solche Jugendlichen herabwürdigend als 'Zecke'.
Nur am Rande werden aber
die Worte gemeldet, die im Vorfeld des Mordes fielen: 'Er sähe aus wie
ein Jude', so sinngemäß.
Aber genau mit dieser
Zuschreibung, im Kontext der Situation durchaus antisemitisch
konnotiert, stellten sich die Täter selbst den Freibrief zu einem Mord,
der in seiner Durchführung nicht nur grausam, sondern unmenschlich war.
Mit der Stigmatisierung als 'Jude' sprachen die Neo-Nazis ihrem
jugendlichen Opfer, dass ihnen durchaus kein Fremder war, das
Lebensrecht ab. Hier äußert sich ein Antisemitismus, der mörderischer
nicht sein kann und der die realen Juden nicht benötigt. Den Tätern
reicht das Phantasma, die Wahnvorstellung.
Der jugendliche
Hip-Hopper galt seinen Mördern als 'undeutsch' und was gilt nazistischen
Antisemiten als weniger 'deutsch' als ein Jude? Der antisemitische Wahn
braucht die Wirklichkeit nicht so wie sie ist. Er lebt geradezu von
deren Verzerrung. Die pathische Projektion (Adorno), also eine
Projektion, die jeder Möglichkeit zu Selbstreflexion und
Wirklichkeitsüberprüfung beraubt ist und deren Opfer Marinus S. geworden
ist, ist kein Problem psychopathischer Einzelfälle.
Sie verweist auf eine
Gesellschaft, die den Antisemitismus strukturell immer wieder aufs Neue
hervorbringt. Daher rührt denn auch die zwangsläufige Hilflosigkeit in
der Bekämpfung des Phänomens. Solange die Strukturen der bürgerlichen
Gesellschaft, beziehungsweise hier der deutschen Nation, essentialisiert
werden und nicht zur Disposition stehen, solange bleibt der
Antisemitismus zwangsläufig virulent.
Alle, selbstverständlich
notwendigen, Aktionen zu dessen Bekämpfung können so bestenfalls
Atempausen verschaffen. Die Duldung der Möllemannschen Ausfälle seitens
der FDP, oder die autoritäre Rebellion eines gutbürgerlichen Mobs in
Berlin während einer Straßenrückbenennung in Jüdenstraße, zeigen die
Verortung des Antisemitismus in der gesellschaftlichen Mitte.
is/hagalil.com
26-11-02 |