Ist der Aufstand der Anständigen abgeblasen?
Thierse beklagt "konjunkturelle" Aufmerksamkeit
gegen NazismusDass es um den
Rechtsextremismus in Deutschland relativ ruhig geworden ist, hat weniger
mit dem Verschwinden der Nazis als mit nachlassender Aufmerksamkeit zu
tun. In einem Interview mit der "Berliner
Zeitung" bemängelt auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse den in
Deutschland konjunkturell gepflegten Umgang mit Nazismus und
Antisemitismus: "Wenn es schlimm genug ist, gibt es ein, zwei Tage
Aufregung in den Medien, dann herrscht wieder Schweigen im Walde, als
seien die Ursachen beseitigt. Sie sind aber nach wie vor da".
Nach Thierses Ansicht hat sich das Erscheinungsbild der
NS-Szene jedoch verändert: "Die Glatzköpfe mit den Baseballschlägern
sind weniger sichtbar. Sie bemühen sich, gutbürgerlich aufzutreten, für
Ordnung, Nachbarschaftshilfe und deutsche Tugenden zu werben. Was auf
manche Bürger durchaus sympathisch wirkt. Das macht die Sache aber nicht
weniger gefährlich. Nach meiner Beobachtung sind Ausländerfeindlichkeit,
autoritäre sowie antisemitische Einstellungen Teil des
Alltagsbewusstseins vieler Menschen geworden. Junge Leute übersetzen
solche Einstellungen gelegentlich in Handlungen und Gewalttaten".
Die Tatsache, dass extremistische Parteien bei den
Bundestagswahlen keine Chance hatten, darf bei einem Rechtsextremismus
der weit in die Mitte der Gesellschaft reicht, nicht beruhigen, denn
"Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus sind in
Deutschland nicht so sehr parteipolitisch organisiert, sondern in einem
stärkeren Maße alltagskulturelle Phänomene. Sie sind viel weiter
verbreitet, als uns die Wahlergebnisse nahe legen. Es ist diese soziale
Einbettung, in der rechtsextremistische Aktivitäten, bis hin zu
Gewalttaten, entstehen und neue Nahrung finden".
Gerade vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass der
Staat nicht nur mit polizeilicher Gewalt und Justiz reagiert. Die
Förderung politischer Bildungsarbeit, von Jugendsozial- und
Jugendkulturarbeit ist dringend geboten. Positive Zeichen seien hier und
da durchaus gesetzt worden, zB seien demokratische Aktivitäten und
Vereine gegen Rechts gefördert worden, so dass sie überhaupt erst
überleben konnten: "Diese Aktivitäten waren ja immerfort gefährdet.
Nicht nur durch die Atmosphäre in dieser oder jener kleinen Stadt,
sondern auch durch Geldmangel".
In der Tatsache, dass die, wenn überhaupt, dann nur sehr
kurzfristige und mangelhafte Unterstützung, eine kontinuierliche Arbeit
extrem erschwert, erkennt auch Thiere ein Problem und warnt Landes- und
Kommunalpolitiker: "Jedes Scheitern einer demokratischen Initiative
gegen Rechts ist eine Ermunterung für die rechte Szene".
Dasselbe gilt für die häufig zu zögerliche Haltung der
Justiz: "Wenn es zehn Jahre dauert, wie in Rostock-Lichtenhagen, bis die
Hauptstraftäter verurteilt werden, ist und bleibt das ein Justizskandal.
Das muss den rechten Schlägern und der ganzen Szene wie ein Sieg
vorkommen. Sie müssen denken, die Justiz ist unwillig, feige oder steht
vielleicht sogar auf ihrer Seite".
Neonazis tarnen sich immer geschickter
Die von Thierse angesprochene Imageveränderung der
Rechtsextremisten zeigt sich in allen Bereichen. Auch im Internet finden
sich neben den bekannten Hass-Seiten immer mehr unterschwellig wirksame
Angebote. Nach einem Bericht der "PC-Welt"
berichten Verfassungsschützer, dass Neonazis ihre Hetzschriften im
Internet immer besser tarnen: "Nach dem Hinweis eines Schülers haben wir
eine angebliche Hausaufgabenhilfe entdeckt, hinter der sich eindeutig
rechtsextremistische Aussagen verbargen", sagte Rüdiger Hesse, Sprecher
des niedersächsischen Verfassungsschutzes, in einem dpa-Gespräch in
Hannover.
"Es gibt eine große Diskussion in der rechten Szene", so
Hesse. "Viele wollen sich im Internet nicht mehr sofort mit Hakenkreuzen
und Parolen in gotischer Schrift auf dem Bildschirm als plumpe Anhänger
des Nationalsozialismus zu erkennen geben." Mit dieser Strategie sollen
als Zielgruppe vor allem Jugendliche für rechtsextremes Gedankengut
gewonnen werden. Nutzerstudien zeigen, dass ca. 60 Prozent aller
Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren im Internet surfen.
Gäbe es keine Gegenstrategien zu dieser besonders
effektiven Form der Propaganda, wäre davon auszugehen, dass ein Schüler
auf der Suche nach Informationen, z.B. für ein Referat über jüdische
Feiertage auf ein derartiges Angebot stossen und dieses per Vortrag
entsprechend multiplizieren würde. Als wirksam gegen solche Taktiken
erweist sich täglich das Angebot von haGalil onLine. Zumindest in den
zentralen Bereichen von Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus
liegt hier ein massives Gegenangebot zur rechten Hetze vor. Zu den in
diesem Zusammenhang relevanten Stichworten gelang es die Nazipropaganda
auf hinterste Ränge der Suchmaschinen zu verdrängen. Weiterreichende
Fragen von Schülern und Lehrern werden von haGalil-Mitarbeitern auch per
e-Mail beantwortet oder können in einem der offenen Foren oder Chaträume
diskutiert werden.
Bei Interesse stellt haGalil Vortragsveranstaltungen und
Ausstellungen zur Verfügung. In Berlin läuft derzeit ein Kinoprojekt für
Schulen. Für Schul- und Gemeindebibliotheken ist haGalil bereit
wertvolle Literatur zur Hintergrundinformation zu vermitteln -
kostenlos.
Neben all diesen Angeboten steht seit vielen Jahren ein
Meldeformular für
Hass-Seiten zur Verfügung. Im Vordergrund steht aber die inhaltliche
Arbeit, die Verdrängung der Lüge durch die Wahrheit. Dies hat durchaus
praktische Gründe: Repression ist im Internet kaum möglich. Technische
Sperren und Filtersoftware sind wirkungslos, ein weltweiter Wertekonsens
utopisch. Dies bestätigt auch der Artikel der PC-Welt: Nach einem
spektakulären Schlag gegen die Betreiber des rechten Internetauftritts
"Radio Wolfsschanze" habe die Szene nach wenigen Wochen die gelöschten
Dateien wieder ins Netz gestellt, so Hesse.
dg /
hagalil.com
31-10-02 |