Wolfgang Thierse im Profil:
"In tiefster innerer Seele ein Antifaschist"
Wolfgang Thierse ist einige Kritik
gewöhnt. Von rechts und von links beschwert man sich über den
Bundestagspräsidenten, sei es im Zusammenhang mit dem CSU-Spendenskandal
oder der Diskussion um Joschka Fischers Vergangenheit. Eine Aussage hat
ihn kürzlich jedoch besonders getroffen. Ausgerechnet Altbundeskanzler
Kohl, der ja bekanntermaßen promovierter Historiker ist, war sich nicht
zu schade über den Bundestagspräsidenten zu sagen:
"Das ist der schlimmste Präsident seit Hermann Göring."
Das habe ihn persönlich verletzt, sagte Thierse dazu." Er sei "in
tiefster innerer Seele ein Antifaschist" und halte das Engagement gegen
Rechtsextremismus für sehr wichtig. "Wenn ich dann hören muss, dass ein
ehemaliger Bundeskanzler mich mit einem Nazi-Verbrecher vergleicht, tut
das weh".
Sicherlich tut es auch weh, daß sich die
Union nicht eindeutig von dieser Aussage distanziert hat. Ein
ungeheuerlicher Vergleich, der offensichtlich bei den bundesdeutschen
Politikergemütern wenig Aufsehen erregte. Und ein Vergleich, der nicht
unpassender sein könnte, denn bei Thierse ist der "Antifaschist"
nicht nur so dahingesagt. Als einer der wenigen Politiker hat er sich
lange und intensiv mit dem Phänomen des Rechtsradikalismus
auseinandergesetzt. Ihm scheint
klar, daß Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit keine Probleme
sind, die schnell gelöst werden können, die komplexe Ursachen haben, und
noch dazu Wurzeln, die in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt sind.
Dennoch versteht er sein Engagement gegen Rechtsextremismus als
Unterstützung für jede Art von "Antifaschismus". Es geht ihm jedoch
keineswegs darum die Antifa-Szene, die mit bestimmten Bildern und dem
Begriff des "Gutmenschen" verknüpft sind, zu unterstützen, sondern um
die Förderung der demokratischen Gegenwehr.
Wolfgang Thierse beim 24. Gewerkschaftstag
der GEW am 6. Mai 2001 in Lübeck
Sein Engagement für demokratische Strukturen und die
Faszination der freien Rede ziehen sich durch seinen Lebenslauf, der
sicher nicht typisch für einen Politiker ist. Thierse gehörte im Oktober
1989 zu den Mitunterzeichnern beim "Neuen Forum" und den Berliner
Aktiven, die keine verbesserte DDR, sondern die deutsche Einheit zur
Umsetzung der Demokratie favorisierten. Wolfgang Thierse wurde am 22.
10. 1943 in Breslau geboren und wuchs in Süd-Thüringen auf. Nach einer
Lehre als Schriftsetzer in Weimar, studierte er in Berlin
Kulturwissenschaft und Germanistik und arbeitete dann zunächst als
wissenschaftlicher Assistent im Bereich Kulturtheorie/Ästhetik der
Humboldt-Universität Berlin. Eine Anstellung im Ministerium für Kultur
der DDR wurde er bereits nach einem Jahr wieder los, da er im
Zusammenhang mit der Biermann-Affäre entlassen wurde. Freunde konnten
ihm glücklicherweise zu einer Stelle in der Akademie der Wissenschaften
verhelfen. Dort wurde er in das Autorenkollektiv aufgenommen, das ein
Historisches Wörterbuch der Ästhetik zu erstellen begann. Das Projekt
wurde auch nach der Wende fortgeführt, 2000 erschien schließlich der
erste Band.
Nicht der typische Politiker
Im Sommer 1990 schließlich wurde Wolfgang Thierse
Vorsitzender der DDR-SPD und kurz darauf dann stellvertretender
Vorsitzender der gesamtdeutschen SPD. Als "Mundwerk des Ostens" trat er
seitdem im Westen für ostdeutsche Interessen ein und saß für die SPD im
Bundestag, wo er den Berliner Wahlkreis Mitte/Prenzlauer Berg vertritt.
Nach der Bundestagswahl 1998 wird Wolfgang Thierse schließlich Präsident
des Deutschen Bundestages. Ein Stück Normalität sei damit eingekehrt,
wie er findet, "dass endlich, acht Jahre nach der staatlichen Einheit
ein Ostdeutscher in ein so hohes Amt gewählt wurde." Für ihn persönlich
sei es ein großes Glück. "Ich bin ja nur durch die friedliche Revolution
in die Politik gespült worden, bin nicht der typische Politiker, der
jahrzehntelang in Parteigremien wirken musste. Umso bewegender ist es,
nun Präsident des Parlaments zu sein, das schon so früh meine politische
Phantasie beflügelt hatte".
Tatsächlich ist nicht nur sein Lebenslauf untypisch,
schon rein optisch unterscheidet sich der Bundestagspräsident. Sein
Rauschebart, den übrigens seine Frau ab und an mit der Schere bändigt,
umgibt ihn mit dem Hauch eines "Intellektuellen", ein Begriff, der in
Deutschland in Bezug auf Politiker wie ein Schimpfwort wirkt. Genau wie
"Moralist" und "Gutmensch", mit denen er auch immer wieder betitelt
wird. Thierse nimmt es gelassen, daß diese Klischees auf ihn
reproduziert werden. Es sei doch gut, wenn es unterschiedliche Typen in der Politik gibt. Und er erinnert
daran, daß es in romanischen Ländern ja fast eine Selbstverständlichkeit
für Politiker ist, nebenbei auch was zu schreiben.
Das Ungewöhnlichste an Wolfgang Thierse ist jedoch sein
Engagement gegen Rechtsextremismus. Leider muß man sagen, denn er ist
damit die große Ausnahme unter den Politikern. Der Bundestagspräsident
ist davon überzeugt, daß sein persönlicher Einsatz etwas bewirken kann
und sucht den Kontakt. "Die
Erfahrung, die ich vielfach gemacht habe und die mich bestürzt hat: wie
viel Angst bereits wieder herrscht unter jungen Leuten vor Gewalt, vor
rechten Schlägern", sagte er dazu in einer Rede beim Gewerkschaftstag
2001 in Lübeck.
"Entgegen der medialen Konjunktur -
es passiert etwas Schlimmes, alle Medien berichten aufgeregt und dann
ist es wieder still im Blätterwald -, möchte ich regelmäßig mit
Bürgerinnen und Bürgern, vor allem mit Jugendlichen, über die Gefahren
des Rechtsextremismus sprechen", hatte Wolfgang Thierse angekündigt.
Tatsächlich hat er dieses Vorhaben auch in die Tat umgesetzt, war an
vielen Orten, hat mit vielen Jugendlichen gesprochen, sich Projekte
erklären lassen und setzt sich seitdem für deren Unterstützung ein.
Er
sprach mit rechtsorientierten Jugendlichen, mit Opfern rechter Gewalt,
mit sich hilflos fühlenden Nachbarn. In Guben, Milmersdorf, Frankfurt an
der Oder und vielen anderen Orten traf er dabei auf Politiker,
die mehr um das Image der Stadt als das Wohl ihrer Einwohner besorgt
schienen. Auch in Dresden und Leipzig war Thierse unterwegs und erinnert
sich: "Es war erschreckend, alle Jugendlichen,
mit denen ich gesprochen habe, sind schon mal von Rechtsextremisten
verprügelt worden."
Resignation
wäre verantwortungslos
Thierse glaubt
an die Möglichkeiten von Erziehung und äußerte sich in diesem
Zusammenhang sehr verärgert über die letzte Shell-Jugendstudie, die zu
dem Ergebnis kam, "Erziehung durch gesellschaftlich gewünschte
Sozialisationsinstanzen verfange einfach nicht mehr". Daher könne auch
nicht von Wertevermittlung oder Sinnstiftung geredet und in politischen
Diskussionen der Mut zur Erziehung gefordert werden. "Wenn sie auch eine
allgemeine Stimmung wiedergeben", für Thierse klingt das "viel zu sehr
nach Resignation, nach voreiliger und verantwortungsloser und falscher
Resignation. Der Zulauf zu Sekten oder zu rechtsextremen Gruppen ist für
mich jedenfalls ein alarmierendes Zeichen dafür, dass junge Menschen
heute mehr denn je Orientierung und Sinn und Beheimatung suchen. Um so
wichtiger ist, dass die demokratisch verankerten Institutionen nicht
resignieren, sondern den Mut und die Kraft zur Werteerziehung
aufbringen."
Thierse ist auch nicht
der Überzeugung, die ganze Gesellschaft sei dem Phänomen des
Rechtsradikalismus gegenüber gleichgültig. In einem Interview mit dem
Tagesspiegel sagte er, sein Eindruck sei, "dass ein großer Teil
der Gesellschaft nicht einverstanden ist mit Gewalt, Rassismus und
Antisemitismus, innerlich empört ist und den Kopf schüttelt, aber in der
Überzeugung lebt, die Profis seien dafür zuständig. Die Mehrzahl verhält
sich schlicht konsumistisch zu Recht, Gesetz, Gesittung und Moral. Diese
Haltung müssen wir überwinden, denn diese Regeln zu verteidigen ist eine
Angelegenheit der ganzen Gesellschaft. Wir müssen daran arbeiten, dass
die Menschen dazu neu motiviert werden."
Thierse ist der Überzeugung, daß das Problembewusstsein in der deutschen Öffentlichkeit gewachsen ist.
Wenn man es daran festmacht, daß er heute nicht mehr als Nestbeschmutzer
kritisiert wird, mag das stimmen. Ansonsten ist die Bilanz aber doch
eher ernüchternd. Er ist weiterhin fast der einzige auf weiter Flur, der
Rechtsextremismus auch zwischen den Wahlkämpfen ernst nimmt. Die Union
geht mit Zuwanderungsdebatten auf Stimmenfang und Möllemann ist nun
endgültig nicht mehr zu bremsen.
aue /
hagalil.com
19-09-02 |